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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


3.1 Wissenschaftstheoretische Ebene:
axiologische, epistemologische, methodologische und ontologische Voraussetzungen sowie Aufgaben und Grenzen (politik)wissenschaftlicher Forschung

Innerhalb der ersten methodologischen Ebene geht es erstens um die philosophischen oder wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen (3.1.1), zweitens um die Aufgaben (3.1.2) und drittens um die Grenzen (3.1.3) (politik)wissenschaftlicher Forschung.

Die Festlegungen, die auf dieser Ebene genauso wie diejenigen, die auf allen anderen Ebenen getroffen werden, wirken sich entscheidend auf alle (politik)wissenschaftlichen Untersuchungen aus. Folgende Fragen sollen näher erläutert werden:

  • Welche Auswirkungen haben Axiologie, Epistemologie und Ontologie auf die Methodologie?
  • Welche axiologischen, epistemischen und ontologischen Voraussetzungen können teilweise als implizite Annahmen innerhalb der Methodologie identifiziert werden?
   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
Schaubilder
Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

3.1.1 Philosophische oder wissenschaftstheoretische (axiologische, epistemische, methodologische und ontologische) Voraussetzungen (politik)wissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

Aufgrund der notwendigen Spezialisierung, der empirischen Orientierung sowie der Konzentration auf empirische Theorien, d.h. vor allem auf die empirischen Inhalte, geraten wichtige wissenschaftstheoretische Voraussetzungen aus dem Blickfeld. Diese Voraussetzungen wirken sich aber entscheidend auf Inhalte aus, so dass diese im Folgenden behandelt werden. Folgende Bereiche stehen daher nachfolgend im Fokus: Axiologie, Epistemologie und Ontologie sowie ihre Auswirkung auf die Methodologie und die dort für diese Arbeit wichtigen Fragen.

  • A. Ontologie: Welches ist der Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft, was soll erkannt oder verändert werden?
  • B. Epistemologie: Wie können Politikwissenschaftler Wissen generieren? Welche wissenschaftstheoretischen Grundannahmen treffen sie? Welche Wissensformen können sie generieren?
  • C. Axiologie: Kann und soll Wissenschaft zur Weltveränderung oder Problemlösung beitragen? Inwieweit fließen eigene Wertvorstellungen in die Ergebnisse der Arbeit ein? Können die Wertvorstellungen der Forscher, die einen Teil der erkenntnisleitenden Interessen bilden, neutralisiert werden? Welchen Wert sollten wissenschaftliche Ergebnisse für Staat und Gesellschaft haben? Wie sollte die Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft gestaltet werden? Welches ist das adäquateste Modell der Politikberatung?
  • D. Methodologie. Welche wissenschaftlichen Werkzeuge sollten verwendet werden?

Eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen ist dringend notwendig, weil sonst die Politikwissenschaft auf einem Kerngebiet, dem der Methodologie, stehenbleibt, der methodologischen Diskussionen innerhalb der Wissenschaften fernbleibt und damit zurückbleibt (out of touch): „But my main point is simply that political methodologists are dangerously out of touch. Philosophical thinking has altered dramatically in ways that render highly problematic the meta-methodological assumptions of many political scientists. Discussion of methods and their utility are profoundly impoverished by a lack of thought about their epistemological, ontological, and explanatory assumptions“ (Bevir 2010 [2008]: 48-49).

Für den Mainstream der Empiriker ist „der Kritische Rationalismus wenigstens implizit als gesunkenes Kulturgut forschungsanleitend geworden“ (von Beyme 2016: 47). Leider werden in der Politikwissenschaft die axiologischen, epistemischen, methodologischen oder ontologischen Annahmen des Kritischen Rationalismus und des Rationalwahlansatzes selten einer kritischen Analyse unterzogen.

Es geht also im Folgenden darum, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen und die damit verbundenen Kontroversen zu erläutern oder, wie Mark Bevir im Titel treffend formuliert, die metamethodologischen Grundlagen, das „Unterholz“ jeder Wissenschaft, aufzuzeigen („Meta-methodology: Clearing the Underbrush“, Bevir 2010 [2008]).

A. Ontologie und Politikwissenschaft

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Ontologie, Metaphysik genauso wie Soziophysik vom Mainstream der Wissenschaften geradezu aussortiert. Zur Jahrhundertwende, vom 20. zum 21. Jahrhundert, wird dieser Faden nun wiederaufgenommen und dies überraschenderweise auch von Wissenschaftlern, die genau von den Traditionen geprägt wurden, die meinten, man könnte ohne wissenschaftlichen Verlust auf diese Fragen verzichten, mehr noch, dass deren Erörterung schädlich für die Wissenschaft sei. Ontologische Fragen, d.h. Fragen nach dem Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft, was erkannt oder verändert werden soll, können also nicht ignoriert werden.

Karl Raimund Popper, ein ausgewiesener Kritiker jedweder Metaphysik und Ontologie, hat in Zusammenarbeit mit John Eccles in seiner Spätphase ein Drei-Schichten-Modell entwickelt, wobei er nicht wie Nicolai Hartmann (1964 [1940] und 1949 [1942/1949]) von Schichten, sondern von drei Welten spricht. Welt 1 ist nach Popper die Welt der physikalischen Dinge, Welt 2 die Welt des subjektiven Bewusstseins. „Zu den Bewohnern der ‚Welt 3‘ gehören, um mehr ins Einzelne zu gehen, theoretische Systeme; aber ebenso wichtig sind Probleme und Problemsituationen. Und ich werde behaupten, daß die wichtigsten Bewohner der Welt kritische Argumente sind und das, was man – in Analogie zu einem physikalischen Zustand oder einem Bewußtseinszustand – den Stand einer Diskussion oder den Stand einer kritischen Auseinandersetzung nennen kann; und natürlich gehört auch der Inhalt von Zeitschriften, Büchern und Bibliotheken dazu“ (Popper 1984 [1972]: 110, vgl. Popper 2012).

Hans Poser, ein ausgewiesener Technik- und Wissenschaftsphilosoph (Poser 2008a, 2008b, 2012 [2001] und 2016), ist sich nicht nur der Bedeutung von ontologischen Fragen für eine Philosophie der Technik bewusst, sondern greift auch auf das ontologische Schichtenmodell von Nicolai Hartmann (1964 [1940] und 1949 [1942/1949]) zurück. Erst damit könnten ontologische Fragestellungen, die technische Artefakte betreffen, adäquat behandelt werden (Poser 2016). Das Schichtenmodell von Hartmann postuliert vier Ebenen des realen Seins: Unorganisches, Lebendiges, Seele und Geist. Hinzu kommt das ideale Sein: mathematische Gebilde, Wesenheiten, ethische und ästhetische Werte.

Für die Sozialwissenschaften bedeutender ist das Modell einer Soziophysik oder sozialen Physik, das erstmals im 19. Jahrhundert von Sozialwissenschaftlern entwickelt wurde, die sich an der Physik orientierten. Das Projekt einer Soziophysik unternimmt den Versuch, einen kausalen Reduktionismus mit einem Holismus zu verbinden. Damit könnte man auch die Einheit der Wissenschaften wahren.

Gerhard Wagner bietet einen Grundriss einer Soziologie als sozialer Physik, die in der Lage sei, „den Gegenstand der Soziologie (ontologische Dimension) in einer Weise zu bestimmen, die der kausalen und nomologischen Vollständigkeit des physikalischen Bereichs entspricht. Sie ist auch in der Lage, die Methode der Soziologie (epistemische Dimension) in einer der explanatorischen Vollständigkeit des physikalischen Bereichs entsprechenden Weise zu bestimmen“ (Wagner 2012: 87). Diese Soziophysik basiert auf einer reduktionistischen Ontologie mittels Kausalrelationen sowie einer holistischen Methodologie, wie sie von Michael Esfeld und Christian Sachse vertreten werden, auf deren Arbeiten Gerhard Wagner ausdrücklich verweist: „Das Ergebnis, der Holismus ausgebaut zu einer umfassenden Metaphysik kausal-funktionaler Strukturen, die in eine konservative, funktionale Reduktion mündet, ist, so hoffen wir, eine Position, die beidem gerecht wird – der Einheit der Natur und der Naturwissenschaften ebenso wie ihrer Vielfalt“ (Esfeld/Sachse 2010: 11). Auch hier ist die Kausalität das Element, das die Einheit der Natur und der Naturwissenschaften garantieren soll. Die Kausalität ist also das, was sowohl die Welt als auch die Naturwissenschaften im Innersten zusammenhält (Kapitel 3.1.2).

Im Folgenden konzentriere ich mich auf Fragestellungen, die in die Politikwissenschaft Eingang gefunden haben oder aus methodologischer Sicht meiner Meinung nach erörtert werden müssten.

Auf der einen Seite scheinen ontologische Fragestellungen, etwa nach dem Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft, relativ einfach und eindeutig zu sein: Es geht in erster Linie darum, den Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft von den anderen Fachwissenschaften abzugrenzen. Diese Frage kann damit, zumindest allgemein gesehen, einfach beantwortet werden: Der Gegenstandsbereich der Politik-wissenschaft ist die Politik oder die politische Realität.

Vielleicht auch wegen dieser Einfachheit werden ontologische Fragestellungen innerhalb der insbesondere empirisch orientierten Politikwissenschaft vernachlässigt. Dies hat sich zum Teil geändert, ontologische Fragestellungen rücken wieder in den Fokus: „Political scientists, for the most part, have tended to leave ontological questions to philosophers and to those social scientists less encumbered by substantive empirical concerns. Yet as the discipline has become more reflexive and perhaps rather less confident than once it was at the ease with which it might claim a scientific license for the knowledge it generates, so ontological concern have increasingly come to the fore“ (Hay 2011 [2009]: 460).

Auf der anderen Seite gibt es aber auch komplexere ontologische Fragestellungen, die als Voraussetzungen Methodologie sowie Erkenntnistheorie und damit auch die Inhalte wissenschaftlicher Untersuchungen beeinflussen. Die Bedeutung ontologischer Fragestellungen wird unterschätzt, weil ontologische Voraussetzungen oft ohne eine gründliche Erörterung angenommen werden. Dabei wird leider nicht auf die vielen Probleme hingewiesen, die mit solchen Voraussetzungen einhergehen oder damit verbunden sind. Colin Hay weist in seinem Beitrag zur Oxforder Reihe zu Recht darauf hin, dass ontologische Annahmen so wichtig sind, weil sie erstens die Quelle von wissenschaftstheoretischen Differenzen bilden: „[O]ften unacknowledged ontological choices underpin major theoretical disputes within political analysis. Second, whilst such disagreements are likely to be manifest in epistemological and methodological choices, these are merely epiphenomena of more ultimately determinate ontological assumptions“ (Hay 2011 [2009]: 461). Zweitens gehen ontologische Fragen epistemologischen und methodologischen Fragestellungen voraus; folgende Rangfolge erstellt Hay (2011 [2009]: 466):

  • a. Ontologie (Ontology): Fragen nach dem Gegenstandsbereich, nach dem, was
    erkannt werden soll, „[w]hat’s out there to know about?“
  • b. Erkenntnistheorie oder Epistemologie (Epistemology): Was können wir wissen, „[w]hat can we (hope to) know about it?“
  • c. Methodologie (Methodology): Wie können wir Wissen generieren (welche
    wissenschaftstheoretischen Grundannahmen treffen wir oder von welchen Perspektiven gehen wir aus und welche Werkzeugen verwenden wir), „[h]ow can we go about acquiring that knowledge?“

Wie man sieht, zählen für Hay genauso wie für Moses und Knutsen nur die „heilige Dreifaltigkeit“ oder die „three musketeers of metaphysics“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 4). Genauso wichtig sind Wertfragen, daher werden in dieser Untersuchung neben epistemischen, methodologischen und ontologischen Fragen auch axiologische Fragen beleuchtet, so wie dies auch in manchen Handbüchern getan wird (Creswell 2013 [1998]: 21).

Colin Hay (2011 [2009]) behandelt in seinem Aufsatz drei ontologische Fragen-komplexe, die seiner Meinung nach von Bedeutung für die Politikwissenschaft sind:

  • a. Verhältnis zwischen Individuen und Gruppen
    (Individual-Group Relationship)
  • b. Verhältnis zwischen Akteuren und Strukturen/Systemen
    (Structure-Agency Relationship)
  • c. Verhältnis zwischen ideellen und materiellen Faktoren
    (Ideational-Material Relationship)

Die politische Ontologie ist vor allem deshalb von Bedeutung und wird hier behandelt, weil sie eine exogene Kritik an dem Lieblingskind der Kausalisten oder Naturalisten, der Rational-Choice-Theorie oder Rational-Choice-Methodologie, formuliert. Exogen ist die Kritik deshalb, weil die unbegründeten Annahmen dieser Methodologie in den Fokus gestellt werden: „The rise of political ontology has increa-singly led to a series of challenges to naturalism (a belief in the possibility of a unity of method between the natural and social sciences) and to naturalistic political science more specifically. The above paragraphs provide but one example. As they suggest, rational choice theory can deliver a naturalist science of politics only by virtue of the implausible (ontological) assumptions it makes about the universally instrumental, self-serving, and utility-maximizing character of human conduct“ (Hay 2011 [2009]: 472-473, Kapitel 3.4, vor allem die Kritik am „Imperialism of Categories“ von Susanne Hoeber Rudolph (2005a)).

Mehrere ontologische Problemkomplexe spielen eine besondere Rolle innerhalb des „Methodenstreits“ der Politikwissenschaft und sollen nun im Folgenden kurz behandelt werden:

  • a. kausaler Reduktionismus
  • b. empirischer Reduktionismus
  • c. methodologischer Individualismus versus methodologischer Holismus
  • d. Makro- und Mikroebene
  • e. sichtbare Phänomene und unsichtbare Kausalitäten

a. Kausaler Reduktionismus

Der kausale Reduktionismus bildet eine innerhalb der platonisch-galileischen Tradition anerkannte ontologische Voraussetzung, die seit den Tagen Francis Bacons, wie ich noch ausführlich zeigen werde (Kapitel 3.1.2), postuliert, aber selten diskursiv erörtert wird. So wird auch in dem Methodenbuch „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) nur erörtert, mit welchen Methodologien Kausalität nachgewiesen werden kann, aber nicht, warum man nur nach Kausalitäten suchen sollte.

Dass der Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft auch die politische Sprache umfasst, steht sicher außer Frage. Nun können auch quantitativ-mathematische Methoden (Kapitel 3.9) dazu beitragen, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge zu beschreiben und zu verstehen. Aber ohne eine sprachlich-interpretative Methodologie als Ergänzung zu Kausalanalysen gibt es keine adäquate Erkennung der Welt, ohne eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie kein praktisches Wissen, mit dessen Hilfe eine rational begründete Weltveränderung möglich wäre. Auf die Bedeutung von Sprache sowie von sprachlich-interpretativen Methodologien wird von Seiten der Perestroikans hingewiesen. Hingegen wird nicht thematisiert, inwieweit es auch noch andere als kausale Relationen geben könnte.

b. Empirischer Reduktionismus

Empirie (empirische Verankerung) oder Rationalität (rationale Formalisierung) sind die übergeordneten Prinzipien, denen ein wissenschaftlicher Diskurs genügen muss (Kapitel 3.2). Ist Empirie allein eine Conditio sine qua non aller wissenschaftlichen Ergebnisse oder die Instanz, an der alle wissenschaftlichen Ergebnisse gemessen werden müssen? Autoren, die diese Fragen bejahen, sind empirische Reduktionisten. Die meisten empirisch orientierten Wissenschaftler zählen dazu. Die Empirie wird in der Regel innerhalb der platonisch-galileischen Tradition von Wissenschaftlern überhöht, die sich selber als „empirische“ Forscher verstehen oder von einer empirischen Politikwissenschaft sprechen.

Auf der anderen Seite gibt es Wissenschaftler, die anerkennen, dass es z.B. ontologische Fragen gibt, bei denen eine empirische Überprüfung oder Entscheidung prinzipiell nicht möglich ist, weil sie weder falsifiziert noch sinnvoll überhaupt empirisch gestellt werden können: „Quite simply, perspectives on the question of structure and agency, or any other ontological issue for that matter, cannot be falsified – for they make no necessary empirical claim. It is for precisely this reason that logical positivists (like Popper) reject as meaningless ontological claims such as those upon which realism and structuration theory are premised […]. In particular, social ontologies cannot be brought in to resolve substantive empirical disputes“ (Hay 2011 [2009]: 469).

Ein Empirismus (manchmal als „hyperfactualism“ bezeichnet), der im logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus verankert ist, ist eine ontologische Voraussetzung. Dieser wird immerhin in einem Beitrag des Oxford Handbooks kritisiert, vom einzigen Autor, der aufgrund seiner anderen Beiträge als Interpretivist bezeichnet werden kann (Bevir/Rhodes 2016a, Bevir/Blakely 2016), ohne dass dies irgendwelche erkennbaren Auswirkungen auf die anderen Beiträge hätte: „To be harsher still, therefore, political scientists are in danger of becoming dull technicians, capable of applying the techniques that they learn from statisticians and economics, but lacking any appreciation of the philosophical issues entailed in decisions about when we should use these techniques, the degree of rigor we should want from them, and how we should explain the data they generate. Many political scientists have long worried about hyperfactualism – the collection of data without proper theoretical reflection. Today we might also worry about hypermethodologism – the application of metho-dological techniques without proper philosophical reflection“ (Bevir 2010 [2008]: 68-69).

Mark Bevir kritisiert in seinem Beitrag die mangelnde Berücksichtigung von meta-methodologischen Fragestellungen, insbesondere auch den naiven Empirismus und Realismus und weist auf die Kritik insbesondere Quines und Wittgensteins hin, weiterhin spricht er sich für einen Bedeutungsholismus (meaning holism) aus. Auch ich gehe darauf ein (Kapitel 3.1.1 A, c, III). Darüber hinaus gibt es aber noch eine Fülle von weiteren wissenschaftstheoretischen Fragestellungen und Problemen, die zur Vermeidung eines sterilen hypermethodologism notwendig sind, die hier in drei Unterkapiteln im Detail erörtert werden (Kapitel 3.1, Kapitel 3.2 und Kapitel 3.3).

c. Methodologischer Individualismus versus methodologischer Holismus

Sowohl der Empirismus als auch die radikale Form desselben, der empirische
Reduktionismus, greifen auf den methodologischen Individualismus zurück, dabei sollen Theorien entweder empirisch bestätigt werden (I. Empirische Bestätigung oder empirische Widerlegung) oder empirisch falsifiziert werden (II. Fallibilismus). Gegen beide Vorgehensweisen richtet sich ein methodologischer Holismus (III. Die Duhem-Quine-These).

I. Empirische Bestätigung oder empirische Widerlegung: Instantias Crucis (Kreuzfälle oder Entscheidungsexperimente)

John Locke gilt aufgrund seines Werkes „An Essay Concerning Human Understanding“ (Locke 1975 [1690]) als Begründer des Empirismus. Francis Bacon behauptet aber als Erster, dass man Theorien eindeutig empirisch bestätigen kann und zwar mittels Entscheidungsexperimenten bzw. Kreuzfällen (Instantias Crucis). „Dies sind die sogenannten Experimenta crucis, die eine theoretische Wegscheide markieren und eine eindeutige Ermittlung von Ursachen ermöglichen sollen (Bacon 1620, II. § 36). Dabei werden zwei Alternativen entworfen und eine von diesen durch die Erfahrung widerlegt. Dann ist die andere als richtig erwiesen“ (Carrier 2006: 25): „Zu den vorrangigen Fällen rechne ich an vierzehnter Stelle die Fälle des Kreuzes. Die Bezeichnung ist von den Kreuzen an Scheidewegen, die die sich trennenden Wege zeigen, genommen. Man kann sich auch gewöhnen, sie entscheidende, richtende, manchmal auch orakelmäßige und gebietende Fälle zu nennen“ (Bacon 1990 [1620]: 439, 36. Aphorismus, Teilband 2).

  • „Inter Praerogativas Instantiarum, ponemus loco decimo quarto Instantias Crucis; translato vocabulo a Crucibus, quae erectae in biviis indicant et signant viarum separationes. Has etiam Instantias Decisorias et Judiciales, et in casibus nonnullis Instantias Oraculi et Mandati, appellare consuevimus“ (Bacon 1990 [1620]: 438, 36. Aphorismus, Teilband 2).
  • „In the fourteenth place among privileged instances we place crucial instances; we take the term from the signposts which are erected at forks in the road to indicate and mark where the different roads go. We have also chosen to call them decisive instances and instances of verdicts, and in some cases oracular and commanding instances. This is how they work“ (Bacon 2000 [1620]: 159).

II. Fallibilismus

Auch Karl Raimund Popper (2005 [1934]) vertritt einen empirischen Reduktionismus, ihm zufolge sollen Theorien zwar nicht bestätigt, sondern möglichst an der Erfahrung falsifiziert werden. Popper ist auch der bekannteste Kritiker des Holismus im 20. Jahrhundert (Popper 1980a [1944], 1980b [1944] sowie 2003 [1957]). Da der Kritische Rationalismus innerhalb der Politikwissenschaft sehr verbreitet ist (von Beyme 2016: 47), gilt dies selbstverständlich auch für die Szientisten.

III. Die Duhem-Quine-These oder die holistischen Einwände gegen einen empirischen Reduktionismus

Pierre Maurice Marie Duhem (1978 [1906]) hat zuerst bestritten, dass es solche Experimenta Crucis geben kann: „Aus Duhems Analyse des Verhältnisses von Experiment, Gesetz und Theorie ergibt sich zwangsläufig eine ‚holistische‘ Auffassung der Wissenschaft. Das will folgendes besagen: Die experimentelle Überprüfung einer bestimmten Hypothese ist nur dadurch möglich, daß von einer ganzen Gruppe weiterer Gesetze – letztlich der gesamten Theorie – Gebrauch gemacht wird. Sollte das Experiment negativ ausfallen, richtet sich mithin der Widerspruch nicht gegen diese einzelne Hypothese, sondern gegen das gesamte theoretische Gefüge, das bei der Überprüfung in Anspruch genommen werden mußte. Allenfalls das Ganze einer physikalischen Theorie muß falsch genannt werden. Kein Experiment kann jedoch zeigen, an welcher Stelle des Systems der Fehler steckt. Also ist die an das experimentum crucis seit Bacons Tagen gebundene Hoffnung, auf diese Weise alternative Hypothesen eliminieren zu können, preiszugeben: ein Entscheidungs-experiment zwischen konkurrierenden Hypothesen ist unmöglich“ (Schäfer 1978: XXVI-XXVII).

Willard Van Orman Quine verallgemeinert den von Duhem (1978 [1906]) für die Physik festgestellten Zusammenhang auf die Gesamtwissenschaft: „Die Einheit empirischer Signifikanz ist die Wissenschaft als gesamte“ (Quine 1979 [1953]: 46), weil die „Annahme, daß jede Aussage unabhängig und isoliert von anderen Aussagen bestätigt bzw. geschwächt“ werden könne, deshalb verfehlt ist, weil „unsere Aussagen über die Außenwelt nicht als einzelne Individuen, sondern als ein Kollektiv vor das Tribunal der sinnlichen Erfahrung treten“ und „Wissenschaft ist, kollektiv betrachtet, sowohl von Sprache wie von Erfahrung abhängig; doch dieser Doppelcharakter kann nicht sinnvollerweise bis in die einzelnen Aussagen der Wissenschaft, jede für sich genommen, verfolgt werden“ (Quine 1979 [1953]: 45).

e. Makro- und Mikroebene

Die Unterscheidung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Teil und Ganzem oder auch Mikro- und Makroebene findet man in allen methodologischen Traditionen, auch wenn dabei verschiedene Themen im Fokus stehen.

Die Szientisten suchen auf der Makroebene nach probabilistischen Gesetzen oder kausalen Regelmäßigkeiten, auf der Mikroebene nach kausalen Prozessen oder kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen.

Die Interpretivisten beschreiben auf der Mikroebene Phänomene oder den Gebrauch von Symbolen (Texte, Bilder, Audios und Videos) und ermöglichen deren Benennung (naming). Auf der Makroebene werden Sprachregeln, Interpretationsschemata, Lebensformen, Strukturen und Deutungsmuster beschrieben sowie Rahmungen (framing) vorgenommen. Die phronetischen Perestroikans wollen auf beiden Ebenen Machtstrukturen oder Spannungspunkte (tension points) entdecken und den Betroffenen helfen diese zu überwinden (6. Schaubild).

Bedeutsam ist erstens, mit der Untersuchung welcher Ebene man beginnen muss (methodologischer Individualismus oder methodologischer Holismus). Zweitens ob man den Hiatus zwischen den Ebenen grundsätzlich überwinden kann (Kapitel 3.1.3). Drittens wie man dabei vorgehen kann oder muss. Die Szientisten, vor allem die Kritischen Rationalisten unterschätzen die Möglichkeiten der Induktion und überschätzen die der Deduktion. Mittlerweile werden die prinzipiellen Grenzen sowohl der Induktion als auch der Deduktion gesehen und man verwendet auf der Makroebene vor allem quantitative Methoden und auf der Mikroebene qualitativ-mathematische Methoden. Die Phronetiker bevorzugen ausschließlich epagogische (bottom up) Methoden und Vorgehensweisen vor allem die Abduktion (Details in Kapitel 3.1.2, Kapitel 3.8, Kapitel 3.9).

f. Sichtbare Phänomene und unsichtbare Kausalitäten

Nun möchte ich mit einer ontologischen Unterscheidung, zwischen sichtbaren Phänomen (Erscheinungen) und unsichtbaren Kausalitäten, diese kurzen Bemerkungen zur Ontologie beenden.

Die Szientisten betonen, dass die Kausalität unsichtbar ist und dass man nur mit Hilfe von kausalen Inferenzen Kausalitäten identifizieren kann. Dazu benötigt man verschiedene wissenschaftliche Werkzeuge: Logik und Mathematik, experimentelle, quantitative, qualitativ-mathematische Forschungsprogramme (3. Schaubild, Kapitel 3.1.2, B und Kapitel 3.9).

Die Interpretivisten genau wie die phronetischen Perestroikans interessieren sich vor allem für sichtbare Phänomene und wenden eine andere Methodologie an (4. Schaubild): Sprache, vor allem interpretative und qualitativ-klassifikatorische Werkzeuge (Begriffe, Methoden und methodische Ansätze, z.B. qualitative Inhaltsanalyse, Diskursanalyse, Hermeneutik).

Diese ontologische Unterscheidung hat dazu geführt, dass ich auf der horizontalen Ebene zwischen einer empirisch-interpretativen (deskriptiven) und einer empirisch-szientistischen (explanativen und prognostischen) Methodologie unterscheide. Wie man sieht (2. Schaubild), gibt es zwischen diesen beiden Methodologien prinzipielle Unterschiede auf zehn vertikalen Ebenen.

B. Erkenntnistheorie (Epistemologie) und Politikwissenschaft

Wie können Politikwissenschaftler Wissen generieren? Welche epistemischen Grundannahmen treffen sie? Welche Wissensformen können sie generieren? Dies sind die wichtigsten epistemischen Fragen.

Im Folgenden werden kurz zwei unterschiedliche Perspektiven der Erkenntnistheorie vorgestellt: einmal eine Erkenntnistheorie mit erkennendem Subjekt sowie eine Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt. Die Perestroikans betonen immer die epistemischen Probleme, die Wissenschaftler als erkennende Subjekte haben, während die Szientisten vor allem an einer Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt interessiert sind. Hier soll nur diese Unterscheidung vorgestellt werden. Ausführlicher gehe ich auf epistemischen Fragestellungen und die damit verbundenen Kontroversen auf der Wissensebene ein (Kapitel 3.2).

a. Erkenntnistheorie und erkennendes Subjekt

„Nach meiner ersten These gibt es zwei verschiedene Bedeutungen von Erkenntnis oder Denken: (1) Erkenntnis oder Denken im subjektiven Sinne: ein Geistes- oder Bewußtseinszustand oder eine Verhaltens- oder Reaktionsdisposition und (2) Erkenntnis oder Denken im objektiven Sinne: Probleme, Theorien und Argumente als solche. Erkenntnis in diesem objektiven Sinne ist völlig unabhängig von irgendjemandes Erkenntnisanspruch, ebenso von jeglichem Glauben oder jeglicher Disposition, zuzustimmen, zu behaupten oder zu handeln. Erkenntnis im objektiven Sinne ist Erkenntnis ohne einen Erkennenden: Es ist Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt. Über das Denken im objektiven Sinne schrieb Frege: ‚Ich verstehe unter Gedanke nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt‘“ (Popper 1984 [1972]: 112. Das Frege-Zitat stammt aus „Über Sinn und Bedeutung“, Frege 2008 [1962/1879]: 29, Anmerkung 5, vgl. Popper 2012: 7-23, Objektives und Subjektives Wissen).

Eine Erkenntnistheorie, die wie bei Lehrer (1990) und Enskat (2005) das erkennende Subjekt ins Zentrum stellt, nennt Popper eine subjektive Erkenntnistheorie und die Autoren „Philosophen des Glaubens […], die sich wie Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Kant oder Russel für unsere subjektiven Überzeugungen und ihre Grundlagen oder ihren Ursprung interessieren“ (Popper 1984 [1972]: 110).

Wenn das erkennende Subjekt, der Wissende, im Fokus steht, geht es erstens um den Entdeckungszusammenhang (context of discovery, Reichenbach 1983 [1938]: 3), zweitens um ein Können oder um die personale Verankerung des Wissens sowie drittens um das erkennende Subjekt.

Die poppersche Abwertung von Fragen, die epistemische Fragen des erkennenden Subjekts betreffen, und in seiner Nachfolge auch von vielen Szientisten ist völlig überzogen und nicht gerechtfertigt. Diese Fragen stehen im Zentrum aller, die sich dem Konstruktivismus verbunden fühlen. Dies gilt auch für die phronetischen Perestroikans, die aber die Notwendigkeit oder überhaupt die Möglichkeit einer Epistemologie ohne erkennendes Subjekt ablehnen. Damit geht man indes einen Schritt zu weit und schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wolfgang Wieland ist zuzustimmen, dass man beide epistemischen Instanzen erforschen muss: „Gewiß ist jedes theoretische Wissen zunächst einmal von Wissenden oder sich um Wissen bemühenden Instanzen erarbeitet worden. Es bleibt jedoch nicht notwendig an solche Instanzen gebunden“ (Wieland 1986: 33).

b. Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt

Wissen kann man auch unabhängig von einer Person und damit so, wie dies auch getan wird, eine Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt betreiben. Auch Enskat (2005), der dies bestreitet, listet die Wahrheitsbedingung unabhängig von den anderen nichtpropositionalen Bedingungen auf. Wenn man das Wissen unabhängig von einem erkennenden Subjekt diskutiert, ist man nicht gezwungen, wie Popper (1984 [1972] und 2012) die Existenz einer Welt 3 anzunehmen. Der wissenschaftliche Diskurs ist genauso wichtig für das Projekt Wissenschaft wie die einzelnen Wissenschaftler.

Die Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt behandelt allgemeine und spezielle Kriterien des Wissens auf zehn methodologischen Ebenen und beschäftigt sich vor allem mit dem Rechtfertigungszusammenhang (context of justification, Reichenbach 1983 [1938]: 3).

C. Axiologie und Politikwissenschaft

Wertfragen werden in dieser Arbeit sehr detailliert und differenziert behandelt. Folgende axiologischen Fragen werden im dritten Kapitel näher erläutert:

  • Inwieweit fließen eigene Wertvorstellungen in die Ergebnisse der Arbeit ein?
  • Können die Wertvorstellungen der Forscher, die einen Teil der erkenntnisleitenden Interessen bilden, neutralisiert werden?
  • Kann und soll Wissenschaft zur Weltveränderung oder Problemlösung
    beitragen?
  • Welchen Wert sollten wissenschaftliche Ergebnisse für Staat und Gesellschaft haben?
  • Wie sollte die Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft gestaltet
    werden?
  • Welches ist das adäquateste Modell der Politikberatung?

Wenn es um axiologische Fragen geht, findet man innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft oft sehr extreme Positionen. Einige Szientisten lehnen Wertfragen innerhalb der Wissenschaften mit dem Hinweis auf Weber und die Wertfreiheit der Wissenschaft völlig ab. Die Perestroikans verweisen darauf, dass es eine Wertgeladenheit (value laden) aller wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt und diese auch nicht verhindert werden kann (Kapitel 3.1.2, E und Kapitel 3.2.4). Weiterhin spielen Wertfragen in allen Ebenen eine Rolle, auf zehn Ebenen können prinzipielle Unterschiede zwischen einer empirischen und einer praktischen Methodologie festgestellt werden (2. Schaubild).

D. Methodologie: methodologischer Konstruktivismus oder zentrale Relevanz der Methodologie

Die Methodologie ist zugleich Werkzeug und Gegenstand der Wissenschaften. Als Werkzeug dient sie zur Generierung von Inhalten in Form von Wissen, als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wird sie kritisch evaluiert und weiterentwickelt.

Wissenschaftler generieren Wissen mit Hilfe von verschiedenen wissenschaftlichen Werkzeugen. Ein methodologischer Konstruktivismus weist auf die zentrale Bedeutung hin, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (Aufgaben, Bedingungen, Kriterien, Ideale und Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse) sowie wissenschaftlichen Werkzeugen (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumen-tationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) im Wissenschafts-prozess zukommt. Wissenschaftler sind Subjekte einer selbst erzeugten Weltsicht (Lauer 2013).

Die zentrale Relevanz der wissenschaftlichen Methodologie ist deshalb gegeben, weil allein die Methodologie den Unterschied zwischen Wissenschaft und anderen (gesellschaftlichen, religiösen, weltanschaulichen etc.) Formen der Erkenntnis-gewinnung ausmacht, nur sie garantiert, dass Wissenschaftler Wissen und nicht etwa Meinungen begründen. Weiterhin garantiert die Methodologie, so wie sie hier definiert wurde, auch die Einheit der Wissenschaft: „What made all this progress possible, I submit, is not any loosening of the discipline of political science. Rather, that progress is attributable to the strength of the discipline’s discipline […]. The discipline is a pluralist one, but the plurality is contained within and disciplined by a discipline“ (Goodin 2011b [2009]: 32). Karl Pearson formuliert es in seinem Buch „The Grammar of Science“ (1892: 16) ähnlich: „The unity of all science consists alone in its methods, not in its material“ (zitiert nach King/Keohane/Verba 1994: 9).

Die Wichtigkeit der Methodologie wird von einigen Szientisten sogar noch höher bewertet, die Bedeutung der Methodologie wird durch eine Gleichsetzung von Wissenschaft und Methodologie sogar überbetont. So setzen Gary King, Robert Owen Keohane und Sidney Verba, die eines der meistbeachteten Methodologiebücher der Politikwissenschaft verfasst haben (Collier/Brady/Seawright 2010 [2004]: 3), Wissenschaft mit Methodologie gleich: „The content is the method [Hervorhebung im Original] […]. The content of ‘science’ is primarily the methods and rules, not the subject matter, since we can use these methods to study virtually anything“ (King/Keohane/Verba 1994: 9).

Das Wort „Methode“ (method) wird in der Regel innerhalb der platonisch-galileischen Tradition in einem sehr weiten Sinne verwendet; wie oben gezeigt (Kapitel 2.2), ist das Wort „Methodologie“ angebrachter. Eine Vielfalt von Methoden garantiert noch keinen methodologischen Pluralismus und darf damit auch nicht verwechselt werden. Der methodologische Reduktionismus bei den Szientisten kommt auch noch dadurch zum Tragen, dass nur ein kleiner Teil von Methoden anerkannt wird: „[S]cientific research adheres to a set of rules of inference on which its validity depends“ (King/Keohane/Verba 1994: 9). Szientisten erkennen nur die Methoden an, die die empirische Identifizierung von unsichtbaren Kausalitäten ermöglichen, weiterhin nur die Klasse von logisch-mathematischen Methoden.

Die Gegenüberstellung zwischen Methodologie und Gegenstandsbereich ist unglücklich, selbstverständlich kann jeder Gegenstandsbereich wissenschaftlich bearbeitet werden. Entscheidend aber ist, dass zum Inhalt der Wissenschaft nicht nur die Methodologie gehört, sondern auch Wissen, das mit wissenschaftlicher Methodologie über einen beliebigen Gegenstandsbereich gewonnen wurde. Daher gilt, dass die Methodologie neben dem (wissenschaftlichen, rationalen) Wissen eine von zwei Säulen der Wissenschaft ist:

  • a. Die erste Säule enthält die Methodologie, die die Werkzeuge bereithält, mit deren Hilfe Wissen generiert wird. Die Methodologie, deren Weiterentwicklung und Innovation, ist daher ein wichtiges Betätigungsfeld jeder Wissenschaft.
  • b. Die zweite Säule besteht aus dem Wissen, das mittels der ersten Säule, einer wissenschaftlich-rationalen Methodologie, generiert wird und damit auch überprüft werden kann.

Die Perestroikans werfen den Szientisten eine Methodenlastigkeit vor und wollen dem mit einer Problemorientierung entgegenwirken. Sie unterschätzen meiner Meinung nach die Bedeutung der Methodologie (Kapitel 3.1.2, D).

Die Schulbildung auch innerhalb des Faches Politikwissenschaft, das zeigt nicht zuletzt der hier erörterte „Methodenstreit“, verläuft neben axiologischen, epistemischen und ontologischen auch anhand von methodologischen Präferenzen. Eine systematische Rekonstruktion und Selbstreflexion wissenschaftlicher Methodologie ist daher in jeder Fachwissenschaft notwendig. Aufgrund der Komplexität methodologischer Fragestellungen werden diese hier auf zehn vertikalen und drei horizontalen Ebenen erörtert (1. Schaubild und 2. Schaubild).


3.1.2 Aufgaben oder Ziele (politik)wissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

Welche Aufgaben und Ziele sollten innerhalb der Politikwissenschaft verfolgt werden? Zuerst werden die allgemeinen Aufgaben und Ziele, wie sie Wissenschaftler anstreben, dargestellt (A). Danach wird erstens die Vorgehensweise der naturwissenschaftlich orientierten Forscher bei der Erkenntnis der Welt erläutert (B) sowie zweitens der Wissenschaftler, der sich an den Kultur- und Geisteswissenschaften (Humanities) orientiert und sich selber als antipositivistische oder post-positivistische Alternative zu den (Neo)Positivisten sieht (C). Danach werden die Perestroikans und ihre phronetische Politikwissenschaft (Phronetic Political Science) erörtert, die als neueste revolutionäre Alternative zu den Szientisten aufgetreten sind (D). Bei dem dann folgenden Unterabschnitt geht es um die Weltveränderung (Praxis) und damit um eine angewandte Politikwissenschaft, wie sie den Szientisten vorschwebt, sowie um die problemorientierte Vorgehensweise der Perestroikans (E).

A. Allgemeine Aufgaben und Ziele wissenschaftlicher Forschung: Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung

Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung ist seit der Antike das wichtigste Ziel der Wissenschaften, wobei es einen Vorrang der Praxis gibt. Der Vorrang der Praxis wird in der platonisch-galileischen Tradition nicht in Frage gestellt, wie dies nicht nur die Perestroikans behaupten. Das Gegenteil ist der Fall: „Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern“ (Bacon 1990 [1620]: 173, 81. Aphorismus, Teilband 1).

  • „Meta autem scientiarum vera et legitima non alia est, quam ut dotetur vita humana novis inventis et copiis“ (Bacon 1990 [1620]: 172, 81. Aphorismus, Teilband 1).
  • „The true and legitimate goal of science is to endow human life with new discoveries and resources“ (Bacon 2000 [1620]: 66).

Mehr noch: Die praktischen Wohltaten der Wissenschaften werden als noch größer angesehen als die der praktisch tätigen Politiker, da sie der Menschheit ohne Nachteile und das noch für alle Zeiten zugutekommen sollen, während die Wohltaten der Politiker nur für eine bestimmte Zeit an bestimmten Orten wirken und diese sogar mit Gewalt durchgesetzt werden müssen: „Denn die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen, die politischen hingegen nur den Menschen bestimmter Orte, auch dauern diese nur befristet, nur über wenige Menschenalter, jene hingegen für alle Zeiten. Auch vollzieht sich eine Verbesserung des politischen Zustandes meistens nicht ohne Gewalt und Unordnung, aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten“ (Bacon 1990 [1620]: 269, 129. Aphorismus, Teilband 1).

  • „Etinem inventorum beneficia ad universum genus humanum pertinere possunt, civilia ad certas tantummodo hominem sedes: haec etiam non ultra paucas aetates durant, illia quasi perpetuis temporibus. Atque status emendatio in civilibus non sine vi et perturbatione plerumque procedit: at inventa beant, et beneficium deferunt absque alicujus injuria aut tristitia“ (Bacon 1990 [1620]: 268, 129. Aphorismus, Teilband 1).
  • „For the benefits of the discoveries may extend to the whole human race, political benefits only to specific areas; and political benefits last no more than a few years, the benefits of discoveries for virtually all time. The improvement of a political condition usually entails violence and disturbance; but discoveries make men happy, and bring benefit without hurt or sorrow to anyone“ (Bacon 2000 [1620]: 99, 129. Aphorismus).

Das praktische Eigeninteresse der Wissenschaftler und deren Förderer wurde von Bacon damit auf den Punkt gebracht: „Trotz seiner Fremdheit zur Mathematik hat Bacon die Gesinnung der Wissenschaft, die auf ihn folgte, gut getroffen […] [D]er Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten […]. Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“ (Horkheimer/Adorno 2010 [1947]: 14).

Seit Francis Bacon tut sich die Wissenschaft mit einem Wissen als Selbstzweck sehr schwer. Wissen wird damit entgegen der Behauptung der phronetischen Perestroikans (Green/Shapiro 1994, Shapiro 2005, Schram 2003 und 2005) immer als ein Wissen im Dienste der Menschheit und damit problemorientiert (problem-driven) betrachtet. Jürgen Habermas ordnet mit dem Konzept der erkenntnisleitenden Interessen (Habermas 1968b) sogar jeder Wissenschaft ein Interesse zu, den Naturwissenschaften an der Beherrschung der Natur, den Geistes- und Kultur-wissenschaften an Orientierung und Verstehen sowie den kritischen Wissenschaften an Aufklärung und Emanzipation.

Im Geiste Bacons formuliert Karl Raimund Popper im 20. Jahrhundert das Ziel wissenschaftlicher Forschung wie folgt: „Die Aufgabe der Wissenschaft ist teils theoretisch – Erklärung – und teils praktisch – Voraussage und technische Anwendung. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese beiden Aufgaben im Grunde zwei Seiten ein und derselben Sache darstellen“ (Popper 1984 [1972]: 362).

Welterkennung als Mittel zur Weltveränderung wird auch vom szientistischen Establishment als wichtigstes Ziel der Politikwissenschaft seit deren Entstehung in den USA am Anfang des 20. Jahrhunderts angesehen: „The founding idea of American political science was one of the discipline ‘as a source of knowledge with practical significance’ (Gunnell 2006, 485)“ (Goodin 2011a [2009]: 7). Beide Ziele werden heute nach wie vor sowohl vom bürgerlich-liberalen Establishment als auch im Mainstream der Politikwissenschaft verfolgt.

Die Relevanz der Praxis wurde sogar von den beiden als sehr formal und technisch angesehenen „Revolutionen“, der behavioralistischen Revolution und der Rational-Choice-Revolution, betont. Ein zentrales Anliegen des behavioralistischen Ansatzes war: „Die Politikwissenschaft soll statt ‚reiner Forschung‘ angewandte Forschung zur Lösung bestimmter politischer Probleme und innovatorischer Programme treiben“ (von Beyme 2000 [1972]: 113). Dies gilt erst recht für den Rationalwahlansatz (rational choice approach), wo die Nutzenmaximierung im Zentrum steht oder die Komplexitätsreduktion des Seienden vor allem im Hinblick auf eine praktische Verwertung der Erkenntnisse vollzogen wird (Coleman 1990, Braun 1999, von Beyme [1972]: 122-150).

Daher ist die diesbezügliche Kritik der Perestroikans nicht angebracht, weil es innerhalb der platonisch-galileischen Tradition nicht nur auf die Ermittlung von Wahrheit ankommt (Kapitel 3.3). Schram greift auf die Unterscheidung von Jacqueline Stevens zwischen „science as use“ und „science as truth“ zurück (zitiert nach Schram 2003: 850). Er verweist auf den amerikanischen Pragmatismus, erkennt wie im Übrigen viele Perestroikans nicht, dass auch für die Szientisten genau wie im Pragmatismus Erkenntnis und Handeln zwei Seiten einer Medaille sind, so wird im amerikanischen Pragmatismus ähnlich argumentiert: „Die pragmatische Maxime von Charles S. Pierce lautete, dass es eine untrennbare Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck gebe. Begriffe seien wie Werkzeuge über ihre Funktionalität zu verstehen. Metaphysische Fragen nach den letzten Dingen sollten lebenspraktischen Problemstellungen weichen“ (Ruffing 2005: 246, vgl. James (1977 [1907], ähnlich argumentiert Popper 1984 [1972]: 362).

Auch wenn die allgemeinen Ziele, Welterkennung und Weltveränderung, für alle Traditionen gleich sind, gibt es Unterschiede in den konkreten Zielen, die beide Traditionen verfolgen oder die beide glauben erreichen zu können.

Worin besteht nun der Unterschied zwischen der aristotelischen und der platonisch-galileischen Tradition oder inwieweit werden unterschiedliche Ziele verfolgt? Um die Antwort vorwegzunehmen: Es ist einmal der Unterschied zwischen Kausaldenken und Sinnverstehen. Zweitens der Unterschied zwischen praktischen und angewandten Wissenschaften (auch Politikwissenschaft). Bei den Wissenschaftlern, die sich an den Naturwissenschaften (Kausaldenken, quantitative und qualitativ-mathematische Methodologie) orientieren, geht eine Überhöhung von Erklärungen mit einer Geringschätzung von Verstehen (Beschreibungen von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen mittels einer qualitativ-interpretativen Methodologie) einher. Geisteswissenschaftliche Methoden (Hermeneutik, Phänomenologie, qualitativ-interpretative Methoden), die vor allem deskriptiv sind, werden vernachlässigt.

B. Wissensgenerierung oder Welterkennung als Welterklärung mittels Logik und Mathematik. Ermittlung von unsichtbaren Kausalitäten innerhalb von szientistischen Sozialwissenschaften

a. Definition und Bedeutung von Kausalität. Abgrenzung zu Korrelation, Kookkurrenz und Kollokation

Die Vertreter des kausalen Reduktionismus behaupten, dass Kausalität sowohl für die Welterkenntnis (Erkennen) als auch für die Weltveränderung (Handeln) die entscheidende und ausschließliche Rolle zukommt. Mit Johann Wolfgang von Goethe (1978 [1808]: 162 [382-383]) könnte man sagen: Die Kausalität ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Innerhalb der angelsächsischen Diskussion spielt dieses poetische Bild keine Rolle, der pragmatischen Tradition folgend findet man nun ja eine pragmatische Metapher eines angelsächsischen Philosophen (John Leslie Mackie war Australier) und zwar das Bild von der Kausalität als Zement des Universums, „The Cement of the Universe, a Study of Causation“ (Mackie 1974), so der programmatische Titel seines vielzitierten Buches.

In diesem Fall ist die poetische Metapher treffender und brauchbarer, da es sich bei der Kausalität gemäß der naturalistischen Sichtweise um eine unsichtbare und verborgene Kraft oder Relation handelt, die die Welt im Innersten zusammenhält. Der Zement ist demgegenüber ein sichtbares Material.

Während Phänomene oder die Erscheinungen sichtbar sind (das griechische Wort „phainómenon“ bedeutet Sichtbares, Erscheinung), ist Kausalität unsichtbar, daher kann man Erscheinungen (appearances) beschreiben, Kausalitäten aber nur erklären: „Taking ‘description’ in the narrower sense which includes only description of appearances, the realist can say that explanatory knowledge is knowledge of the underlying mechanisms – causal or otherwise – that produce the phenomena we want to explain. To explain is to expose the internal workings, to lay bare the hidden mechanisms, to open the black boxes nature presents to us“ (Salmon 1989: 134).

Dies sehen nicht nur Wissenschaftsphilosophen so, sondern wird auch in den entsprechenden politologischen Methodenbüchern so gelehrt: „Obviously, we do not thereby mean that one direct observes causation. Rather, this involves inference, not direct observation“ (Seawright/Collier 2010 [2004]: 318). Es geht nur sekundär um Beobachtungen, sondern primär um Inferenzen.

Mehr noch: Das Ziel der Wissenschaft wird von naturalistischen Wissenschaftlern allein darin gesehen, Ableitungen, Inferenzen, Rückschlüsse oder Schlussfolgerungen („inference“ lautet das Zauberwort) zu generieren und damit die unsichtbaren Kausalitäten, die man hinter den Phänomenen oder Erscheinungen vermutet, zu identifizieren: „The goal is inference [Hervorhebung im Original]. Scientific research is designed to make descriptive or explanatory inferences on the bases of empirical information about the world. Careful descriptions of specific phenomena are often indispensable to scientific research, but the accumulation of facts alone is not sufficient […]. [B]ut our particular definition of science requires the additional step of attempting to infer beyond the immediate data to something broader that is not directly observed. That something may involve descriptive inference – using observations from the world to learn about other unobserved facts. Or that something may involve causal inference – learning about causal effects from the data observed […]. [T]he key distinguishing mark of scientific research is the goal of making inferences that go beyond the particular observations collected“ (King/Keohane/Verba 1994: 7-8). Wie ich noch zeigen werde, sorgt die Unterscheidung zwischen „description“ und „descriptive inference“ einerseits sowie „explanation“ und „causal inference“ andererseits für Verwirrung. Das Wort „inference“ wird gebraucht, damit man zeigt, dass es sich um einen Rückschluss auf etwas Unsichtbares handelt. Es geht dabei in der Terminologie von King, Keohane und Verba um einen beschreibenden Rückschluss (descriptive inference) eines kausalen Mechanismus oder kausalen Prozesses und nicht um eine phänomenologische Beschreibung oder eine Beschreibung von Erscheinungen (description of appearances), wie Salmon (1989: 134) schreibt. Damit kommt es zu Verwirrungen.

Es wäre besser nur von Erklärungen (explanations) zu sprechen, die unsichtbare kausale Regularitäten (causal regularities) auf der Makroebene und kausale Mechanismen (causal mechanisms) oder kausale Prozesse (causal processes) auf der Mikroebene erklären. Der Begriff kausale Inferenz (causal inference) könnte für die Ermittlung von Kausalitäten auf allen Ebenen verwendet werden. Weiterhin sollten Beschreibungen (descriptions) nur dann benutzt werden, wenn sichtbare Phänomene beschrieben werden (Kapitel 3.9).

Das Kausaldenken (causal thinking) ist heute vor allem innerhalb des szientistischen Establishments der Politikwissenschaft weit verbreitet (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]: 4, vgl. auch Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1006, 1022 und 1025 sowie Goodin 2011b [2009]: 13). Mehr noch: Es soll das Zentrum von Erklären, ja sogar angeblich von Verstehen bilden: „Causality is at the center of explanation and understanding“ (Brady 2011 [2009]: 1054).

Henry E. Brady formuliert die innerhalb der Politikwissenschaften am weitesten verbreitete Auffassung über Kausalität am Anfang des 21. Jahrhunderts wie folgt: „Causal statements explain events, allow predictions about the future, and make it possible to take actions to affect the future“ (Brady 2011 [2009]: 1054). Kausale Aussagen sollen also drei verschiedene Ziele ermöglichen: Erstens Ereignisse erklären, zweitens Prognosen über zukünftige Entwicklungen erstellen sowie drittens Regeln ermöglichen, mit deren Hilfe man Handlungen begründet oder ermöglichen kann, die die Welt verändern.

Ausschließlich Kausalaussagen liefern demzufolge mittels Erklärungen und Prognosen eine wissenschaftlich fundierte Welterkenntnis. Gleichzeitig, quasi als andere Seite der Medaille, erlauben Kausalaussagen durch „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491] oder durch „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]: 367) eine Weltveränderung und damit Handeln. Warum ausschließlich Kausalität Welterkenntnis und -veränderung leisten kann, darüber findet man weder bei King, Keohane und Verba (1994) noch bei Brady (2011 [2009]) oder bei anderen Autoren in der „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) eine Antwort.

Die Orientierung der Politikwissenschaft und deren Methodologie an den Naturwissenschaften ist nicht nur für diese Autoren so offensichtlich, dass sie den damit vertretenen methodologischen Naturalismus und kausalen Reduktionismus als Ausgangspunkt überhaupt nicht mehr anführen. Für Merilee H. Salmon ist die Suche nach Kausalitäten in der sozialen Welt die wichtigste Fragestellung einer naturalistischen Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften (Philosophy of Social Science) oder einer naturalistischen Methodologie: „[T]his chapter looks at the so-called social sciences with particular attention to whether we can investigate human behavior in the way scientists study the rest of the natural world. Because scientific studies are so centrally concerned with causal relationships, a question closely related to our main theme is how to understand causation [Hervorhebung nicht im Original] in the social world […] Neither side [gemeint sind einerseits Individualismus, andererseits Kollektivismus oder Holismus] in the dispute (actually, there are many different versions of both sides) denies the obvious causal interplay between individuals and societies. Nevertheless, individualists and collectivists disagree about the ultimate causes of human behaviour“ (Salmon 1992: 404, Merilee H. Salmon ist die Ehefrau von Wesley C. Salmon, nur dieses Zitat stammt von Frau Salmon, alle anderen Zitate werden aus den Arbeiten von Herrn Salmon angeführt). Kurz gesagt, in der Wissenschaft dreht sich, zumindest innerhalb der platonisch-galileischen Tradition, alles um die Identifizierung von Kausalität, das Prädikat „wissenschaftlich“ wird nur Kausalstudien zugestanden.

Die Bedeutung von Kausalität wird selten expressis verbis formuliert. Dass es sich aber um einen kausalen Reduktionismus handelt, kann weiterhin mit einem Zitat aus einem sehr einflussreichen Methodologiebuch der Politikwissenschaft belegt werden: „At ist core, real explanation is always based on causal inference. We regard arguments in the literature about ‘noncausal explanation’ as confusing terminology; in virtually all cases, these arguments are really about causal explanation [Hervorhebung nicht im Original] or are internally inconsistent“ (King/Keohane/Verba 1994: 75). Erklärung wird ausschließlich mit kausalen Schlussfolgerungen verbunden und nichtkausale Erklärung gar als verwirrende Terminologie abgetan. Dabei ging das meistdiskutierte Erklärungsmodell des 20. Jahrhunderts, das deduktiv-nomologische Modell, weit darüber hinaus. Kausale Erklärungen waren nur eine von mehreren möglichen Erklärungen. Da Kausalität die einzige Relation ist, auf die sich die Wissenschaft konzentrieren sollte, und alle anderen Relationen unwichtig sind, ist die Bezeichnung kausaler Reduktionismus meiner Meinung nach genauer und daher auch angebrachter.

Die Korrelation (lateinisch: correlatio) bezeichnet eine Wechselbeziehung von zwei Ereignissen, die häufig gleichzeitig auftauchen. Insbesondere Wissenschaftler, die auf der Makroebene forschen, suchen nach Korrelationen vor allem in der Hoffnung, dass diese dann als Kausalitäten identifiziert werden können. Findet man kausale Regularitäten auf der Makroebene, so könnte man dann mit Hilfe des deduktiv-nomologischen Modells (DN-Modell) deduktiv auf einzelne Kausalitäten auf der Mikroebene schließen, so die vor allem vom Kritischen Rationalismus verbreitete trügerische Hoffnung, wie noch nachzuweisen ist (Kapitel 3.8).

Sprachwissenschaftler sprechen von Kookkurrenz (lateinisch: coocurrentia), wenn zwei lexikalische Einheiten (z.B. Wörter) gemeinsam auftauchen. Naturwissenschaftlich orientierte Forscher suchen nach Korrelationen, Wissenschaftler, die sich an den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften orientieren, vor allem nach Kookkurrenzen.

Die Suche nach Kookkurrenzen wird im Hinblick darauf unternommen, dass zwei Terme auch voneinander abhängig sind, wenn sie häufig gemeinsam auftreten. Damit liegt dann eine Kollokation (lateinisch: collocatio) vor, wenn z.B. eine grammatikalische oder semantische Abhängigkeit zweier häufig gemeinsam auftretender Begriffe erwiesen wird.

b. Methodische Ansätze zur Ermittlung von Kausalitäten

Nachdem die Ziele und die Definition des Kausaldenkens geklärt wurden, geht es im Folgenden darum zu zeigen, mit welchen methodischen Ansätzen Kausalitäten ermittelt werden können.

Während Methoden vor allem eine wissenschaftliche Ermittlung von Daten und Sachverhalten gewährleisten, liefern methodische Ansätze innerhalb eines Faches Strategien zur Generierung von wissenschaftlichen Theorien.

Das Kausaldenken erfordert verschiedene, sehr komplexe methodische Ansätze, um Kausalitäten zu identifizieren oder Ereignisse (events) kausal zu erklären. Diese methodischen Ansätze basieren so wie eigentlich alle methodischen Ansätze auf entsprechenden wissenschaftstheoretischen Theorien, die insbesondere von Wissenschaftsphilosophen erarbeitet wurden. Die von Brady (2011 [2009]) vorgestellten methodischen Ansätze bilden also in diesem Fall im Endeffekt den Kern von vier Kausalitätstheorien (Salmon 1989), die so operationalisiert wurden, dass damit die Vorgehensweise bei der Suche nach Kausalitäten in der Politikwissenschaft vorgegeben werden kann. Dabei geht es innerhalb dieser Theorien vor allem darum, die Eigenschaften von Kausalität sowie Kriterien aufzustellen, mit deren Hilfe gültige von ungültigen kausalen Erklärungen unterschieden werden können.

Der Regularitätsansatz (regularity oder neo-Humean approach) geht auf David Hume (1989 [1739/1740] und 1999 [1748]) zurück, der kontrafaktische Ansatz auf eine kontrafaktische Theorie der Kausalität (Hume 1989 [1739/1740] und 1999 [1748], Mill (1968 [1843]), Weber 1973c [1906]) sowie insbesondere Lewis 2001 [1973]), der manipulative Ansatz auf eine entsprechende Kausalitätstheorie (siehe „Causation and Manipulability“, Woodward 2013) und der Mechanismus- und Kapazitätsansatz auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen über kausale Prozesse (Dowe 2008).

Henry E. Brady (2011 [2009]) hat vier methodische Ansätze vorgestellt, die alle notwendig sind, um Kausalitäten zu identifizieren oder Ereignisse (events) kausal zu erklären:

  • I. Regularitätsansatz (regularity or neo-Humean approach)
  • II. kontrafaktischer Ansatz (counterfactual approach)
  • III. manipulativer Ansatz (manipulative approach)
  • IV. Mechanismus- und Kapazitätsansatz (mechanism and capacities approach)

„A really good causal inference should satisfy requirements of all four approaches. Causal inference will be stronger to the extent that they are based upon finding all the following: (1) Constant conjunction of causes and effects required by the neo-Humean approach. (2) No effect when the cause is absent in the most similar world to where the cause is present as requirement by the counterfactual approach. (3) An effect after a cause is manipulated. (4) Activities and processes linking causes and effects required by the mechanism approach“ (Brady 2011 [2009]: 1055).

I. Regularitätsansatz (Regularity or Neo-Humean Approach) zur Ermittlung von kausalen Regularitäten (Korrelationen)

Mit Hilfe des Regularitätsansatzes wird eine Verbindung oder eine Konjunktion zwischen zwei Ereignissen (events), technisch gesprochen zwischen zwei Variablen und deren temporalem Vorkommen, hergestellt. Damit soll also eine regelmäßige und konstante Korrelation zwischen zwei Ereignissen nachgewiesen werden: „The regularity approach relies upon the constant conjunction of events and temporal precedence to identify causes and effects. Its primary tool is essentially the ‘Method of Concomitant Variation’ proposed by John Stuart Mill in which the causes of a phenomenon are sought in other phenomena which vary in a similar manner“ (Brady 2011 [2009]: 1083).

Quantitativ-metrische Werkzeuge (Begriffe und Methoden, insbesondere Korrelations- und Regressionsanalysen) sowie deduktive Argumentationsweisen ermöglichen die Identifikation von Korrelationen, probabilistischen Gesetzen oder Regularitäten (regularities). Diese Werkzeuge erlauben aber nicht, falsche von richtigen Korrelationen oder Wahrscheinlichkeiten zu unterscheiden. Um zufällige Korrelationen auszuschließen, zwischen denen es keine Kausalitäten gibt oder geben kann, bedarf es weiterer methodischer Ansätze und zwar sowohl des kontrafaktischen als auch des manipulativen Ansatzes.

II. Kontrafaktischer Ansatz (Counterfactual Approach) zur Ermittlung von kausalen Regularitäten (Korrelationen)

Der kontrafaktische Ansatz geht auch auf David Hume (2007 [1739/1740] oder 1989 [1739/1740]), aber auch auf John Stuart Mill (1968 [1843]) sowie auf Maximilian Carl Emil Weber und zwar seine Auseinandersetzung mit Eduard Meyer (Weber 1973g [1906]), vor allem aber auf die Arbeiten von David Lewis (2001 [1973] und 1986) und seine Konzeption von möglichen Welten zurück. Die logischen Werkzeuge findet man insbesondere in der Modallogik (Hughes/Cresswell 1978 [1968]).

Mit Hilfe von Experimenten (Gedanken-, aber auch Labor- und Feldexperimenten) und/oder Simulationen kann man sich mögliche Welten vorstellen, aber auch innerhalb von Experimenten oder Simulationen künstlich erzeugen, in denen etwa die Ursache nicht auftaucht, und dann sehen, was passiert und wie die Welt aussieht. „The counterfactual approach relies upon elaborations of the ‘Method of Difference’ to find causes by comparing instances where the phenomenon occurs and instances where it does not occur to see in what circumstances the situations differ. The counterfactual approach suggests searching for surrogates for the closest possible worlds where the putative cause does not occur to see how they differ from the situation where the cause did occur“ (Brady 2011 [2009]: 1083).

Kausalität hat eine symmetrische Eigenschaft zwischen Ursache und Wirkung, d.h., dass beide, Ursache wie Wirkung, immer vorhanden sein müssen, sowie eine asymmetrische Eigenschaft; Letztere besteht darin, dass eine Ursache eine Wirkung hervorruft, aber nicht umgekehrt (Brady 2011 [2009]: 1083).

Mit den regulativen und kontrafaktischen Ansätzen kann man zwar Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten erkennen und damit das gleichzeitige Vorhandensein von zwei Variablen bestätigen, aber weder die Ursache (unabhängige, erklärende Variable) noch die Wirkung (abhängige, erklärte Variable) identifizieren, d.h., man kann damit die symmetrische, aber nicht die asymmetrische Eigenschaft von Kausalität erkennen.

III. Manipulativer Ansatz (Manipulative Approach) zur Ermittlung von kausalen Regularitäten (Korrelationen)

Der manipulative Ansatz, der auch auf Experimente und/oder Simulationen zurückgreift, soll vor allem die Richtung der Kausalität oder den Zeitpfeil herausfinden und damit die eine Variable als Ursache und die andere Variable als Wirkung identifizieren: „In an experiment there is a readily available piece of information that we have overlooked so far because it is not mentioned in the counterfactual approach. The factor that has been manipulated can determine the direction of causality and help to rule out spurious correlation. The manipulated factor must be the cause“ (Brady 2011 [2009]: 1076).

c. Erster Exkurs: von der Korrelation zur Kausalität oder von der Regularität auf der Makroebene zum kausalen Prozess auf der Mikroebene. Paarungsproblem und Ursache-Wirkungs-Mechanismus

Mit den ersten drei Ansätzen hat man erstens Korrelationen auf der Makroebene ermittelt, zweitens zufällige Korrelationen ausgeschlossen oder nur richtige identifiziert. Drittens wurde die temporale Frage gelöst, welches Ereignis vorangeht, damit konnten Ursache und Wirkung identifiziert werden. Hat man aber auch Kausalitäten gefunden? Nein, „da Korrelationen Erscheinungen nicht erklären, sondern selbst der Erklärung bedürfen“ (von Beyme 2000 [1972]: 175). Man hat, anders ausgedrückt, in diesen drei Ansätzen kausale Regularitäten oder Muster auf der Makroebene und damit nur die nomologische Eigenschaft von Kausalität ermittelt (Salmon 1989).

Es müssen noch zwei wichtige Fragestellungen geklärt werden: Wie kann man eine konkrete Korrelation auf der Mikroebene identifizieren? Wie verläuft der kausale Prozess oder der Ursache-Wirkungs-Mechanismus konkret? Bei der ersten Frage geht es um die Lösung des Paarungsproblems. Die zweite Frage zielt auf die ontische Eigenschaft der Kausalität (Salmon 1989: 129 und 182). Man muss also erstens genau angeben können, wie der Ursache-Wirkungs-Mechanismus oder der kausale Prozess funktioniert. Erst danach kann man von Kausalität sprechen oder hat Kausalitäten festgestellt. Damit komme ich zum vierten Ansatz, dem Mechanismus- und Kapazitätsansatz, sowie zu den dafür notwendigen qualitativ-mathematischen Werkzeugen (King/Keohane/Verba 1994 und Brady/Collier 2010 [2004], Kapitel 3.9.1). Die qualitativ-mathematischen Methoden ermöglichen auf der Mikroebene, das Paarungsproblem sowie das Problem kausaler Komplexität zu lösen und Wie-Fragen zu beantworten.

Das deduktiv-nomologische Modell (DN-Modell) der Erklärung wurde während des 19. und 20. Jahrhunderts als die adäquate Vorgehensweise erachtet, von der Makro- auf die Mikroebene zu schließen oder den Einzelfall unter eine allgemeine Regularität (Gesetz) zu subsumieren. Warum dies nicht möglich ist oder genauer gesagt, nur in einer deterministischen Welt möglich ist, zeige ich in einem anderen Kapitel (Kapitel 3.8).

Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) unterscheidet zwei Haupttypen kausaler Erklärung, die sich logisch gesehen wie folgt voneinander unterscheiden:

  • Erstens gibt es Erklärungen mit Hilfe von hinreichenden Bedingungen, das ist der erste Haupttypus von kausalen Erklärungen, damit werden Warum-Fragen erklärt. Hierunter würden, wenn die vier Ansätze Bradys mit dieser Terminologie erfasst werden, alle Erklärungen fallen, die aufgrund der regulativen, kontrafaktischen und manipulativen Ansätze mittels Korrela-tionsanalysen, Experimenten und Simulationen auf der Makroebene Regularitäten und damit die nomologische Eigenschaft von Kausalität ermitteln.
  • Der zweite Haupttypus von kausalen Erklärungen (genauer gesagt kausale Mechanismen bzw. kausale Prozesse) enthält Erklärungen mit Hilfe von notwendigen Bedingungen, damit kann mit Hilfe von Wie-Fragen die ontische Eigenschaft der Kausalität erkannt werden. Hierzu zählt von Wright auch quasiteleologische Erklärungen, die primär in den biologischen Wissenschaften zu Hause sind, eine teleologische Terminologie besitzen und auf kausale Erklärungen reduziert werden können.

Diese Unterscheidung hat sich nicht durchgesetzt, die Analysen unter anderem von Wesley C. Salmon (vgl. „Four Decades of Scientific Explanation“, Salmon 1989) waren einflussreicher. Diese Analysen nehmen eine ähnliche Differenzierung vor, sind aber weniger an logischen Aspekten oder Argumentationsweisen wie die Analysen von Wright, sondern mehr an einer Theorie der Kausalität interessiert. Salmon nimmt Bezug auf Carnaps „Logical Foundations of Probability“ (Carnap 1963 [1950]) und unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen von Erklärungen: „Let us identify explanation1 with causal/mechanistic explanation. It could fairly be said, I believe, that mechanistic explanations tell us how the world works. These explanations are local sense […] they explain particular phenomena in terms of collections of particular causal processes and interactions […]. Explanation2 then becomes explanation by unification. Explanation in this sense is, as Friedman emphasized, global; it relates to the structure of the whole universe“ (Salmon 1989: 184).

Diese beiden Formen von Erklärungen sind nicht inkompatibel miteinander, weil sie unterschiedliche Fragen behandeln, einmal die Warum-Frage, ein andermal die Wie-Frage: „These two ways of regarding explanation are not incompatible with another; each one offers a reasonable way of construing explanations. Indeed, they may be taken as representing two different, but compatible, aspects of scientific explanation“ (Salmon 1989: 183).

Die Szientisten arbeiten mit einer naturalistischen Methodologie und wollen, wie oben ausführlich erläutert, mit Hilfe von Kausalanalysen die Welt erklären. Die Orientierung an der Physik ist im 20. Jahrhundert der Ausrichtung an der Biologie gewichen, dabei geriet vor allem die Mikroebene verstärkt in den Mittelpunkt und das DN-Modell der Erklärung wurde obsolet, d.h., dass das Paarungsproblem auf der Mikroebene nicht per Subsumtion gelöst werden kann (Kapitel 3.8). Allein schon deswegen sind unabhängige Untersuchungen auf der Mikroebene erforderlich. Hinzu kommt dann noch ein weiteres Problem.

Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist es offensichtlich, dass man neben Korrelationsanalysen auf der Makroebene auch auf der Mikroebene kausale Ursache-Wirkungs-Mechanismen erforschen muss, weil man neben dem nomologischen auch einen ontischen Erklärungsansatz braucht, denn nur so ist der Weg von der Korrelation zur Kausalität erfolgreich: „[T]he sharply falling barometric reading is a satisfactory basis for predicting a storm, but contributes in no way to the explanation of the storm. The reason is, of course, the lack of a direct causal connection. For the ontic conception, therefore, mere subsumption under a law is not sufficient for explanation. There must be, in addition, a suitable causal relation between the explanans and the explanandum“ (Salmon 1989: 129-130).

Anders ausgedrückt, Kausalität hat neben der nomologischen auch eine ontologische Eigenschaft. Regulative, kontrafaktische und manipulative Kausa-litätstheorien, die methodisch mit Hilfe von Korrelationsmethoden, Experimenten und Simulationen generiert werden, können nur den nomologischen Aspekt von Kausalität nachweisen und die Warum-Frage beantworten. Die Wie-Frage ist aber eine ontologische Frage und soll vor allem erklären, wie eine Ursache eine Wirkung hervorbringt: „Now, to explain a fact is to exhibit its underlying mechanism(s) […]. In all cases we explain facts by invoking some mechanism or other, perceptible or hidden, known or suspected“ (Bunge 1996: 137).

Es handelt sich da nicht notwendigerweise um mechanische Vorgänge, Mechanismen im engeren Sinne: „We now understand that mechanism need not be mechanical: they may be physical, chemical, biological (in particular, psychological), social, or mixed. They may be natural or artificial: causal or stochastic or a combination of the two; pervasive or idiosyncratic, and so on. The only condition for mechanism hypotheses to be taken seriously in modern science or technology is that it be concrete (rather than immaterial), lawful (rather than miraculous), and scrutable (rather than occult)“ (Bunge 1996: 138).

IV. Mechanismus- und Kapazitätsansatz (Mechanism and Capacities Approach) zur Ermittlung von kausalen Prozessen

Um die Frage, wie eine Ursache eine Wirkung hervorbringt, zu beantworten, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kausalitätstheorie weiterentwickelt, dabei steht der kausale Mechanismus oder der kausale Prozess im Vordergrund. Mit diesem Ansatz will man erklären, wie die Ursache eine Wirkung generiert: Salmon spricht von „ontic conception of scientific explanation […]. As this approach had developed by the close of the fourth decade, it became the causal/mechanical view that is advocated by – among others – Humphreys, Railton, and me […] this version of the ontic conception has developed into a view that makes explanatory knowledge into knowledge of the hidden mechanisms by which nature works. It goes beyond phenomenal descriptive knowledge into knowledge of things that are not open to immediate inspection. Explanatory knowledge opens us the black boxes of nature to reveal their inner workings. It exhibits the way in which the things we want to explain come about. This way of understanding the world differs funda-mentally from that achieved by way of the unification approach. Whereas the unification approach is ‘top-down’, the causal/mechanical is ‘bottom-up’“ (Salmon 1989: 182-183).

Bevor ich eine qualitativ-mathematische Methode, um kausale Mechanismen zu ermitteln, erörtere, soll zuerst eine qualitativ-mathematische Methode vorgestellt werden, mit deren Hilfe das Paarungsproblem sowie das Problem kausaler Komplexität gelöst werden.

Im Folgenden beleuchte ich, wie die Szientisten im 21. Jahrhundert dieses sogenannte Paarungsproblem (pairing-problem) auf der Mikroebene lösen. Einfacher gesagt, man muss auch auf der Mikroebene methodisch eine Korrelation nachweisen oder anders ausgedrückt ein konkretes Paarungsproblem lösen. Auf der Makroebene werden nur Regularitäten nachgewiesen und keine konkrete Kausalität betreffend einen Einzelfall.

Das Paarungsproblem und das Problem kausaler Komplexität kann man mit Hilfe von QCA (Qualitative Comparative Analysis, Wagemann 2015) lösen. Diese qualitativ-mathematische Methode, nicht zu verwechseln mit den qualitativ-interpretativen Methoden (Kapitel 3.9), wurde seit den 70er Jahren entwickelt. Mit dieser Methode kann man nachweisen, dass eine auf der Makroebene festgestellte Regularität in einem partikularen Fall auf der Mikroebene am Werke ist. Damit dies gelingt, muss die oft vorhandene kausale Komplexität entwirrt werden, wobei die Komplexität in mehreren Hinsichten besteht (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 311, Wagemann 2015: 441): Multikollinearität (multicollinearity) existiert dann, wenn mehrere Bedingungen nicht isoliert, sondern parallel auftauchen. Äquifinalität (equifinality) ist dann gegeben, wenn ein Ereignis auf verschiedenen, alternativen und gleichwertigen Wegen erreicht werden kann. Multifinalität (multifinality) besagt, dass eine unabhängige Variable verschiedene Wirkungen (outcomes) verursachen kann. Von asymmetrischer Kausalität spricht man, wenn die Erklärung eines Phänomens nicht automatisch auch die Abwesenheit des Phänomens erklärt, dass etwa „Negativentscheidungen nicht automatisch durch das Fehlen der Bedingungen von Positiventscheidungen erklärt werden können“ (Wagemann 2015: 442).

Andrew Bennett erläutert, wie man mit der Prozessanalyse eine Kausalität auf der Mikroebene identifizieren kann, auch wenn es sich dabei um komplexe kausale Strukturen handelt (Bennett 2010 [2004], 2010 [2008] sowie Starke 2015): „[P]rocess tracing is a powerful means of discriminating among rival explanations of historical cases when these explanations involve numerous variables“ (Bennett 2010 [2004]: 219). Dabei kann die Prozessanalyse auf verschiedene Tests zurückgreifen: „[P]rocess tracing involves several different kinds of empirical tests, focusing on evidence with different kinds of probative value. Van Evera (1997: 31-32) has distinguished four such tests that contribute in distinct ways to confirming and eliminating potential explanations“ (Bennett 2010 [2004]: 210).

Die Ermittlung einer Kausalität auf der Mikroebene wollen Szientisten durch neue Observationen erreichen. Ein zentrales Ziel des Bandes „Rethinking Social Inquiry. Diverse Tools, Shared Standards“ (Brady/Collier 2010 [2004]) besteht darin, mit Hilfe von causal-process observations (CPOs) auf der Mikroebene eine konkrete Korrelation zwischen zwei Ereignissen oder einen konkreten kausalen Prozess zu identifizieren. Diese CPOs sollen data-set observations ergänzen, die man in Korrelations- und Regressionsanalysen auf der Makroebene braucht. So erläutert Brady in einem Beitrag dieses Bandes, dass eine mittels Regressanalyse ermittelte kausale Regularität in einem konkreten Fall nicht vorhanden ist, und beweist damit die Notwendigkeit von Einzelfallanalysen auf der Mikroebene (Brady 2010 [2004]). Die Unterscheidung zwischen data-set observation (DSO) und causal-process observation (CPO) wird anderswo ausführlich erörtert (Kapitel 3.9).

Damit sind wir noch immer nicht bei der Kausalität angekommen, sondern es wurde nur eine konkrete Korrelation nachgewiesen. Wie wichtig die ontische Dimension der Kausalität ist, kann man auch dadurch ersehen, dass man mit Hilfe von statistischen und komparativen Methoden neben dem Paarungsproblem auch noch zwei weitere Probleme aus prinzipiellen Gründen nicht lösen kann. Diese Probleme werden von Brady nicht besprochen. Es handelt sich um das Galton-Problem (Galton’s problem), das zweite Problem nenne ich das Mill-Problem, beide betreffen sowohl statistische als auch komparative Methoden.

Wissenschaft ist gekennzeichnet durch Spezialisierung, daher steht die Reduktion von Komplexität generell am Anfang jeder wissenschaftlichen Arbeit. Dabei muss jeder Wissenschaftler auf das ockhamsche Rasiermesser zurückgreifen. Leider gibt es nun keine sichere Methode, wie man wichtige von unwichtigen Faktoren trennen kann. Ein zentrales Ziel von King, Keohane und Verba ist gerade herauszufinden, wie man wichtige Faktoren herausfiltern kann (King/Keohane/Verba 1994). Auch die Weiterentwicklung dieses Ansatzes von Brady und Collier (2010 [2004]) geht dahin, Hinweise zu erarbeiten, wie man wichtige (DSOs und CSOs) von unwichtigen Informationen trennt.

Trotz aller Vorsicht kann es nämlich immer vorkommen, dass man einen dritten Faktor übersieht oder ignoriert, d.h., dass er wegrasiert wird, oder dass er schlicht noch nicht erkannt wurde. Damit ist das Galton-Problem schon beschrieben: „[A]ffected by some unidentified (underlying or lurking) third factor (in other words, Galton’s Problem)“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 105).

Das nächste Hauptproblem ist das Mill-Problem. Statistische und komparative Methoden können keine Notwendigkeit zwischen den untersuchten Variablen angeben: „Mill believed that the main problem with this method is its inability to establish any necessary link [eigene Hervorhebung] between cause and effect“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 105).

Der Weg von der Korrelation zur Kausalität kann also nicht allein mit Hilfe von Makroanalysen bestehend aus hypothesenprüfenden Verfahren geführt werden, sondern erfordert zwingend Mikroanalysen. Mit Makroanalysen kann man höchstens die Warum-Frage und damit die nomologische Eigenschaft klären (Rauchen führt zu Lungenkrebs), aber nicht die Wie-Frage oder die ontische Eigenschaft: Wie funktioniert der biologische Ursache-Wirkungs-Mechanismus konkret oder wie kann Rauchen Lungenkrebs verursachen? Auf der Makroebene werden quantitativ-mathematische Methoden eingesetzt auf der Mikroebene qualitativ-mathematische Methoden (nicht zu verwechseln mit den qualitativ-interpretativen Methoden, siehe Kapitel 3.9), z.B. Prozessanalyse (Bennett 2010 [2004] und 2010 [2008], Starke 2015) und Qualitative Comparative Analysis (QCA), die in Fallstudien oder Small-N-Studien zur Ermittlung von konkreten Ursache-Wirkungs-Mechanismen angewendet werden.

An einem Beispiel sollen nun die vier methodischen Ansätze zur Ermittlung der Kausalität geschildert werden. Mit dem Regularitätsansatz kann man z.B. herausfinden, dass zwischen Rauchen und Lungenkrebs eine Korrelation, Regularität oder ein probabilistisches Gesetz besteht. Mit dem kontrafaktischen Ansatz kann man zeigen, dass es sich um keine zufällige Korrelation handelt, und der manipulative Ansatz ermöglicht, das Rauchen als Ursache (Bedingung) für Lungenkrebs (Wirkung) zu identifizieren, genauer gesagt wird gezeigt, welches temporale Vorkommen zwischen diesen beiden Variablen besteht. Da per definitionem die Ursache der Wirkung vorangeht, können auch Ursache und Wirkung identifiziert werden.

Es ist aber noch überhaupt nicht erklärt, wie oder welcher Mechanismus am Werke ist. Erst wenn dies gelungen ist, ist eine kausale Erklärung vollständig. Weiterhin ist damit die Komplexität der diesbezüglichen kausalen Relationen noch bei weitem nicht aufgeklärt. Weitere Kausalanalysen können nachweisen, dass auch andere Umweltverschmutzungen als Rauchen zu Lungenkrebs führen (Äquifinalität) und dass einige Menschen trotz intensiven Rauchens nicht an Lungenkrebs erkranken und andere, die nicht rauchen, Lungenkrebs bekommen (asymmetrische Kausalität). Anders ausgedrückt: Verschiedene Wirkungen können eine gemeinsame Ursache haben (Äquifinalität) und umgekehrt kann eine Ursache in Kombination mit anderen Bedingungen verschiedene Wirkungen hervorbringen (Multikollinearität, conjunctural causality). Damit sind wir beim Paarungsproblem (pairing-problem) angekommen. Wenn nun jemand an Lungenkrebs stirbt, der geraucht hat, dann bleibt die Frage, was die Todesursache war: Rauchen oder andere Umwelteinflüsse (Multikollinearität).

Die Methodologen, die qualitativ-mathematische Methoden einsetzen (King/Keohane/Verba 1994, Brady/Collier 2010 [2004]), vertreten eine naturalistische Methodologie in Reinkultur. Sie haben den Schwenk der Wissenschaftstheorie von der Physik zur Biologie vollzogen, bringen sogar, wenn sie den Typus qualitativ-mathematischer Methoden erläutern, Beispiele aus der Medizin und der Biologie (so auch Freedman 2010 [2004]). Genau diese Weiterentwicklung bei den Szientisten haben die Perestroikans und die überwiegende Mehrheit der Interpretivisten nicht mitbekommen.

Für diese Untersuchung ist Folgendes wichtig: Die Existenz von vielfältigen qualitativ-mathematischen Methoden zur Ermittlung von Kausalitäten auf Mikroebene innerhalb von Einzelfallstudien (case studies) und Small-N-Studien zeigt, dass auch Szientisten nicht nur nomothetischen, sondern auch idiographischen Untersuchungen nachgehen, genau dies bestreiten die Perestroikans (Kapitel 3.8).

d. Zweiter Exkurs: Korrelation statt Kausalität?

Im Internetzeitalter spielt die logisch-mathematische Methodologie eine entscheidende Rolle. Unternehmen, die die digitale Internetwirtschaft in unserer Wissensgesellschaft prägen, arbeiten insbesondere mit Algorithmen und Korrelationen. Mit Hilfe von mathematischem Modellen, Algorithmisierung sowie Diskretisierung – der Gewinnung von endlich vielen, diskreten Daten aus kontinuierlichen und unendlichen Informationen – will man aus einer großen Datenflut (data deluge oder big data) Wissen ermitteln. Da bleibt es nicht aus, dass dem Kausaldenken ein prominenter Platz zukommen sollte.

Im Folgenden soll ein Vorschlag zur revolutionären Weiterentwicklung wissenschaftlicher Methodologien und Theorien erörtert werden, der eine Ersetzung der Kausalität durch Korrelation vorschlägt (correlation supersedes causation), daher stehen diese Fragen im Mittelpunkt: Zurück zur Korrelation? Reicht allein die Korrelation, um aus der Datenflut Wissen zu generieren?

Chris Anderson, der ehemalige Chefredakteur des Magazins „Wired“ (die führende Szenezeitschrift aller Internetpropheten), hält die Methodologie der Wissenschaften für veraltet und fordert, dass die Wissenschaftler sich an Google orientieren sollten. Google verfüge nicht nur über eine Menge Daten, die den Rohstoff des Informationszeitalters bilden, sondern könnte die Datenflut auch besser in Wissen verwandeln.

Sowohl wissenschaftliche Theorien als auch die wissenschaftliche Methodologie seien veraltet, Korrelationen innerhalb der gesammelten Datenflut sollten Kausal-analysen ersetzen: „The End of Theory. The Data Deluge makes the Scientific Method obsolete“ (Anderson 2008), lautet der programmatische Titel seines Aufsatzes.

Anderson meint, dass man Kausalitäten durch Korrelationen ersetzen kann. Aufgrund der schieren Masse an Daten kann man sowohl auf semantische als auf kausale Analysen verzichten: „Petabytes allow us to say: Correlation is enough […]. We can throw the numbers into the biggest computing clusters the world has ever seen and let statistical algorithms find patterns where science cannot […]. The new availability of huge amounts of data, along with the statistical tools to crunch these numbers, offers a whole new way of understanding the world. Correlation supersedes causation, and science can advance even without coherent models, unified theories, or really any mechanistic explanation at all“ (Anderson 2008).

Theorie wird von Anderson eben nicht gemeuchelt, obwohl der Titel (The End of Theory) dies nahelegt. Auch auf dem von Anderson vorgeschlagenen reduktionisti-schen Weg mittels Korrelation aus der Datenflut werden ja Theorien generiert, nur nicht mit Hilfe von kausalen Analysen, sondern mittels Korrelationen.

Verworfen wird die wissenschaftliche Methodologie, mittels Hypothesen und Experimenten Theorien zu generieren: „The Data Deluge makes the Scientific Method obsolete“, so der Untertitel des Aufsatzes. „Google’s founding philosophy is that we don’t know why this page is better than that one: If the statistics of incoming links say it is, that's good enough. No semantic or causal analysis is required“ (Anderson 2008).

Die besseren Erklärungen liefern die Nutzer und nicht Google. Anderson übersieht, dass zwar nicht Google, aber die Nutzer sehr wohl semantische oder kausale Analysen machen. Jeder Leser führt diese Analysen durch und/oder bestätigt mit einem Link darauf die Analysen. Google bewertet nur die quantitativen Hinweise, es erfolgt keine inhaltliche Auseinandersetzung. Wie oben bei den erläuterten Ansätzen zur Identifikation von Kausalität gezeigt wurde, reicht der Regularitätsansatz bei weitem nicht aus. Wichtig ist ja nicht nur zu erfahren, welche Variablen miteinander korrelieren, sondern auch welches die Ursache und welches die Wirkung ist. Weiterhin ob es sich in einem konkreten Fall um eine Regularität handelt und wenn ja um welche. Am obigen Beispiel: Hat Rauchen oder Umweltverschmutzung in einem konkreten Fall zu Lungenkrebs geführt? Wie funktioniert der biologische Mechanismus dazu? Dies sind Fragen, die man mit einer größeren Datenflut nicht beantworten kann.

„The new availability of huge amounts of data, along with the statistical tools to crunch these numbers, offers a whole new way of understanding the world. Correlation supersedes causation, and science can advance even without coherent models, unified theories, or really any mechanistic explanation at all“ (Anderson 2008).

Wer nur Korrelationen angeben kann und keine Kausalität, der versteht den Ursache-Wirkungs-Mechanismus nicht, der kann die Wie-Frage, wie der biologische Mechanismus funktioniert, überhaupt nicht beantworten. Er kann zwar sagen, dass Rauchen und Lungenkrebs korrelieren, aber nicht, ob es sich dabei um eine nicht zufällige Korrelation, sondern um eine Kausalität handelt. Weiterhin kann man nicht einmal die Warum-Frage in einem konkreten Einzelfall eindeutig entscheiden, weil das Paarungsproblem nicht gelöst werden kann.

Korrelationsanalysen sind insbesondere im regulativen Ansatz notwendig, können aber nicht ausreichend zur Erklärung der Wirklichkeit beitragen. Google liefert, wenn es hochkommt bzw. innerhalb des Unternehmens überhaupt welche entwickelt wurden, die „better analytical tools“, wobei Korrelationsanalysen in allen Wissen-schaften schon seit Jahrzehnten zum Standard gehören. Wer da bei wem abschreiben sollte, ist klar, zumal die Google-Forscher ihr wichtigstes Handwerk nicht bei Google, sondern nach wie vor in Universitäten lernen. Google liefert nur die technischen und wirtschaftlichen Mittel, die in Universitäten erlernten Korrelationsmethoden anzuwenden.

Anders ausgedrückt, Google lässt die wichtigsten und entscheidenden Analysen von den Nutzern machen. Google selber präsentiert nur die Ergebnisse anderer Menschen Arbeit: „Out with every theory of human behavior, from linguistics to sociology. Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do what they do? The point is they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves“ (Anderson 2008).

Auch hier vertraut Google nicht nur auf die große Zahl, sondern darauf, dass die Mehrheit der Nutzer die Resultate aufgrund deren personaler Kompetenz gut beurteilt. „That’s why Google can translate languages without actually ‘knowing’ them (given equal corpus data, Google can translate Klingon into Farsi as easily as it can translate French into German). And why it can match ads to content without any knowledge or assumptions about the ads or the content“ (Anderson 2008). Die Qualität der Google-Übersetzungen spricht nicht gerade für eine hervorragende Qualität der Korrelationsanalysen. Im Gegenteil, die Übersetzungen zeigen, dass sehr wohl weitergehende semantische Analysen notwendig sind.

Eine Revolution von der Kausalität zurück zur Korrelation würde eher einen wissenschaftlichen Rückschritt statt Fortschritt bedeuten. Die Steigerung der Quantität der Daten kann nicht zu einer neuen Qualität bei Korrelationsanalysen führen, genauer der Weg von der Korrelation zur Kausalität kann weder mittels der drei oben erläuterten Korrelationsansätze (regulativer, kontrafaktischer und manipulativer) ermittelt werden noch deduktiv mit Hilfe des deduktiv-nomologischen Modells. Korrelationen können daher Kausalitäten nicht ersetzen. Die ontische Eigenschaft der Kausalität, d.h. die genaue Erläuterung des kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismus (causal mechanism), kann nicht mittels Korrelationsanalysen ermittelt werden.

Für eine gehaltvolle Erkenntnis der Welt bedarf es aber neben Kausalanalysen auch der Erforschung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen. Letzteres wird jetzt im nächsten Abschnitt behandelt.

C. Wissensgenerierung oder Welterkennung als Weltinterpretation, Weltdeutung oder Weltbeschreibung mittels Sprache: Ermittlung von (sichtbaren) Phänomenen innerhalb von interpretativen Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities)

Der „Methodenstreit“ begann zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf der wissenschaftstheoretischen (axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen) Ebene (Dilthey 1922 [1883], Rothacker 1926, Rickert 1910 [1896], Windelband 1900 [1894], Weber 1973b [1903-1906], Weber 1973c [1904],  Weber 1973d [1917], Weber 1973e [1919]), Weber 1973g [1906].

Danach verlagerte er sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Methodenebene im engeren Sinne und zwar zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Die Szientisten haben in den Titeln ihrer Methodenbücher selten darauf hingewiesen, dass es dabei um quantitativ-mathematische Methoden geht (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]). Ganz anders die qualitativen Forscher, die sich fast immer von der anderen Seite demonstrativ absetzen. Diese weisen schon im Titel ihrer Bücher darauf hin, dass es sich um Handbücher für qualitative Forschung (qualitative Research or Inquiry) handelt (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Flick 2008 [2002], Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Blatter/Janning/Wagemann 2007).

Seit der letzten Jahrhundertwende wurde der „Methodenstreit“ von den Interpretivisten und den Perestroikans wieder von der Methodenebene mehr auf die wissenschaftstheoretische Ebene verlagert. Daher fehlt das Wort „interpretative“ kaum in methodologischen Handbüchern im Titel (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009, Rosenthal 2014 [2005], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006], Bevir/Rhodes 2016a). Bei den phronetischen Perestroikans findet man einen Titel wie „Real Social Science“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).

Zwei Gründe haben zu dieser Entwicklung geführt. Einmal war es die Erkenntnis, dass man quantitative und qualitativ-interpretative Methoden sowohl für Kausalanalysen als auch für Sinnstiftung (sense making, meaning making) einsetzen kann. Zweitens kamen methodologische Innovationen seit den 70er Jahren hinzu, die zu einer Etablierung von, wie ich sage (Kapitel 3.9), einer qualitativ-mathematischen Forschungsmethodologie beitrugen. Moses und Knutsen machen dies vor allem an der Qualitative Comparative Analysis (QCA) fest und verweisen insbesondere auf die Arbeiten von Charles Ragin und die Internetseite www.compass.org, damit sei die Lücke zwischen Small-N-Studien und Large-N-Studien geschlossen worden. Daraus schließen sie, dass man kaum mehr von einer quantitativen und qualitativen Trennung sprechen kann: „This developements have made it more difficult to refer to a quantitative/qualitative divide in social science“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 97). Wichtig sind meiner Meinung noch darüber hinaus vor allem die sehr einflussreichen Handbücher, Mr. Perestroika würde sagen der Ostküsten-Brahmanen aus Harvard (King/Keohane/Verba 1994) sowie der Westküsten-Brahmanen aus Berkeley (Brady/Collier 2010 [2004]), die einen dezidiert kausalen Reduktionismus vertreten und die neue Forschungsmethodologie „qualitativ“ titulieren, obwohl diese Forschungsmethodologie keinen sprachlich-interpretativen oder hermeneutischen Hintergrund hat, sondern erstens auf alethische Modallogik und zweitens auf Mathematik, konkret auf die Mengenlehre, basieren (Kapitel 3.9).

Autoren aller Traditionen, nicht nur Szientisten, wehren sich mittlerweile völlig zu Recht, den „Methodenstreit“ auf quantitative und qualitative Methoden zu reduzieren: So wendet sich auch Flyvbjerg (2006: 56 ff.) dagegen, dass er quantitative Methoden ablehnen würde, vielmehr trete er für eine Balance zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden ein.
Es ist meiner Meinung nach zutreffender statt von einem qualitativen und qualitativen Schisma von einem methodologischen Glaubenskrieg zwischen Szientisten auf der einen und Interpretivisten, darunter auch phronetische Perestroikans, auf der anderen Seite zu sprechen. Erstere betreiben Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung, indem sie nach unsichtbaren Kausalitäten mittels einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie suchen.

Im Folgenden werde ich das Forschungsprogramm der Interpretivisten beschreiben: Welterkennung als Weltbeschreibung oder Weltinterpretation mittels einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie (a). Danach werde ich zeigen, dass es sich bei diesen beiden Formen der Welterkennung nicht um gegensätzliche Methodologien handelt, sondern dass diese auch komplementär betrieben werden können, ja sogar betrieben werden müssen (b).

a. Welterkennung als Weltinterpretation, Weltdeutung, Weltbeschreibung von (sichtbaren) Phänomenen mittels Sprache: Deutung und (Sinn)Verstehen (Sense Making, Meaning Making) innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities): hermeneutische, phänomenologische und strukturalistische Erforschung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen

Während die einen (Kausalisten, Szientisten oder (Neo-)Positivisten) nur nach kausalen Erklärungen suchen, kritisieren andere dies. Innerhalb der aristotelischen Tradition werden auch teleologische Relationen (von Wright (1974 [1971]) untersucht. In der galileischen Tradition meint man, dass man teleologische auf kausale Relationen reduzieren kann.

Weitaus wichtiger wurde die Gegenüberstellung von kausalen Analysen mittels logisch-mathematischer und quantitativer Forschungsmethodologie auf der einen Seite und die Erforschung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen mit Hilfe einer sprachlich-interpretativen, hermeneutischen oder phänomenologischen, qualitativen Forschungsmethodologie auf der anderen Seite. Während Forscher, die die erste Vorgehensweise bevorzugen, sich an den Naturwissenschaften orientieren, wurde die zweite Vorgehensweise innerhalb der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (Humanities) erarbeitet (eine Gegenüberstellung findet man im 2. Schaubild sowie im 6. Schaubild und 7. Schaubild).

In den USA macht sich dies auch sprachlich an den Namen der Institute (Departments) deutlich, einmal Sozialwissenschaften (social sciences) und andererseits Humanities. Politikwissenschaftler, die sich den Sozialwissenschaften zugehörig fühlen, orientieren sich an den Naturwissenschaften, indem sie mittels einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie nach Kausalitäten suchen. Einen Überblick über ihre Methodologie findet man, wie oben gesagt, im Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Hans Albert weist auf hypothesenorientierte versus begriffsorientierte Vorgehensweisen hin und nennt damit eine weiteren Unterschied zwischen denen, die sich an den Naturwissenschaften, und denen, die sich an den Geisteswissenschaften orientieren: „Die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich ist, soweit sie theoretische Relevanz haben soll, im allgemeinen nicht, wie in den Naturwissenschaften, hypothesenorientiert, sondern begriffsorientiert“ (Albert 1967c [1965]: 419).

Beide Methodologien haben Grenzen: Sofern eine Immunisierung gegenüber der Erfahrung (Tatsachen) stattfindet, spricht Albert bei der Ersteren von den Gefahren eines „Modell-Platonismus“, bei Letzteren von den Gefahren eines „Begriffsrealismus“ (Albert 1967c [1965]: 420, Details zum Modell-Platonismus in Kapitel 3.10).

Auch Theoretiker (undisciplined political theorists), die sich vor allen an Hermeneutikern und Phänomenologen und damit nicht an den Naturwissenschaften, sondern an den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (Humanities) orientieren, können auf eine sehr differenzierte und ausgearbeitete Methodologie zurückgreifen (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Flick 2008 [2002], Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Blatter/Janning/Wagemann 2007, Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009).

Manche qualitativ-interpretative Forscher unterscheiden drei Forschungs-perspektiven und weisen damit auf Phänomenologie, Ethnomethodologie, Hermeneutik, Strukturalismus, symbolischen Interaktionismus, Konstruktivismus, Cultural Studies, Geschlechterforschung und Evolutionsforschung hin: „Zugänge zu subjektiven Sichtweisen“, zweitens „Beschreibung von Prozessen der Herstellung sozialer Situationen“ und drittens „[h]ermeneutische Analyse tiefer liegender Strukturen“ (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000]: 19).

John W. Creswell zählt folgende wissenschaftstheoretischen Grundlagen (interpretative Frameworks) qualitativer Forschung auf: Postpositivism, Social Constructivism, Transformative Frameworks, Postmodern Perspectives, Pragmatism, Feminist Theory, Critical Theory and Critical race Theory (CRT), Queer Theory, Disability Theory (Creswell 2013 [1998]: 22 ff.). Damit könnten fünf qualitative Ansätze begründet werden: Narrative Research, Phenomenology, Grounded Theory, Ethnography, Case Study.

Das Ziel qualitativ-interpretativer Forschung besteht vornehmlich darin, Deutungen und Sinnzusammenhänge mittels einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie herauszuarbeiten. Ein weiteres vor allem politisch-praktisches Ziel ist es, problemorientierte, wertorientierte Forderungen zu formulieren, wobei im Unterschied zu den Szientisten zwischen Sein und Sollen nicht unterschieden wird und daher auch sehr selten praktische Ansätze und Methoden formuliert werden. Die phronetischen Perestroikans tun dies mit der angewandten Klugheit, daher habe ich auch diese als paradigmatisches Beispiel für die aristotelische Tradition ausgesucht.

Während Hermeneutiker annehmen, dass der Sinn von Texten ermittelbar ist, gehen Dekonstruktivisten davon aus, dass es ein „nie völlig ausleuchtbare[s] Gewebe von Quer- und Sinnbezügen gibt“ (Ruffing 2005: 237). Jacques Derrida grenzt sich wie folgt von Gadamers Hermeneutik ab: „Die Hermeneutik ist eine allgemeine Praxis der Lektüre oder Entzifferung eines religiösen, literarischen oder philosophischen Textes, die voraussetzt, dass sich der Text in einem bestimmten Sinn lesen lässt und dass man, wenn man die Tiefgründigkeit des Textes berücksichtigt, zwangsläufig zum Sinn, zum Inhalt und zur Bedeutung des Textes gelangt. Ich habe sehr viel Achtung vor der Hermeneutik und halte eine hermeneutische Wissenschaft auf allen Gebieten immer für notwendig. Aber die Dekonstruktion ist keine Hermeneutik, weil der Sinn als letzte Schicht des Textes immer geteilt und vielfältig ist und sich nicht zusammenfügen lässt“ (zitiert nach Ruffing 2005: 237).

Derrida ist auch in einem anderen Zusammenhang für die Perestroikans sowie die Interpretivisten wichtig und zwar, weil er die Bedeutung des Kontextes problematisiert: „Der Satz, der für manche gleichsam zum Slogan der Dekonstruktion geworden ist […] es gibt kein außerhalb des Textes ‚il n’y a pas de hors texte‘, heißt nichts anders als: Es gibt kein außerhalb des Kontextes ‚il n’y a pas de hors contexte‘“ (zitiert nach Ruffing 2005: 236). Die Perestroikans kritisieren, wie geschildert, die Kausalisten, weil diese angeblich den Kontext überhaupt nicht beachten.

Die Ergebnisse, die Politikwissenschaftler mittels einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie erlangt haben, werden in den unterschiedlichen Bänden des Oxforder Handbooks of Political Science aufgenommen. Die Methodologie, mit deren Hilfe die sprachlich-interpretativen Theorien generiert wurden, wird hingegen nicht im Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) erläutert.

Zwar behauptet Robert Edward Goodin, der Herausgeber (General Editor) der elfbändigen Reihe „The Oxford Handbook of Political Science“, in seinem „State of the Discipline“, dass er gegen ein „Either-Or“ (Goodin 2011b [2009]: 9) ist und auch die anderen Autoren des Handbuchs eine pluralistische Methodologie vertreten. Der 10. Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) spricht aber eine andere Sprache; dieser enthält einen herausragenden Überblick über den kausalen und empirischen Reduktionismus und dessen Methodologie, bestehend aus deduktiven und induktiven Argumentationsweisen, quantitativ-mathematischen und qualitativ-mathematischen Methoden sowie empirischen und praktischen (normativen) methodischen Ansätzen, innerhalb der Politikwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Erörterungen über Bedeutungen und Sinnzusammenhänge fehlen ebenso wie ein Überblick über sprachlich-interpretative Werkzeuge (Begriffe, Argumentationsweisen, Methoden oder methodische Ansätze).

Die Kritik der Perestroikans an der methodologischen Engführung (Konzentration auf die logisch-mathematische Forschungsmethodologie) der Szientisten ist berechtigt. Es ist hier indes nicht der Ort, die vielfältige sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie zu erörtern. Von Bedeutung für den hier behandelten „Methodenstreit“ ist Folgendes: Die Perestroikans weisen immer auf die Bedeutung der Mikroebene, des Kontextes sowie von detaillierten Fallanalysen oder Fallstudien (case studies) hin, die angeblich von den Positivisten ignoriert werden, da sie nur auf die Makroebene und die dort angesiedelten Gesetze schauen (Flyvbjerg 2001: 26, Schram 2003: 836).

Diese Kritik ist mittlerweile obsolet. Wie oben geschildert, spielen die Mikroebene sowie Fallstudien, Experimente und Simulationen im Mechanismus- und Kapazitätsansatz für die Ermittlung von Kausalitäten eine entscheidende Rolle. Inwieweit die jahrzehntelange Kritik zur Wandlung des Kausalitätskonzeptes sowie zur Etablierung einer qualitativ-mathematischen Methodologie beigetragen hat, kann hier nicht erörtert werden. Die Grenzen der quantitativen Forschungsmethodologie wurden aber auch von quantitativen Forschern thematisiert und daher auch qualitative Wege zu deren Überwindung erarbeitet, die sich ausdrücklich der logisch-mathematischen Forschungsmethodologie verpflichtet fühlen (King/Keohane/Verba 1994 und Brady/Collier 2010 [2004]).

Sehr bedauerlich allerdings ist, dass diese Methoden zur Ermittlung von Kausalität auf der Mikroebene auch das Adjektiv „qualitativ“ bekommen haben und es deshalb zu vielen vermeidbaren Missverständnissen kommt (Kapitel 3.9).

b. Komplementarität zwischen Beschreibung (Description) und Erklärung (Explanation)

Seit dem 19. Jahrhundert wird zwischen Beschreibungen und Erklärungen unterschieden. Geistes- und Kulturwissenschaften liefern vor allem Beschreibungen und wollen damit die Welt deuten oder verstehen; Naturwissenschaften generieren Erklärungen sowie Prognosen und wollen die Welt erklären oder Prognosen erstellen. Erstere verwenden in der Regel qualitativ-interpretative Methoden zur Generierung von Beschreibungen von Erscheinungen (Phänomenen), Letztere quantitativ-mathematische Methoden für die Erstellung von unsichtbaren Erklärungen. Inwieweit man für Erklärungen auch qualitativ-interpretative Methoden und für Beschreibungen quantitativ-mathematische Methoden einsetzen kann oder mittlerweile aufgrund der Datenflut sogar muss, wird in diesem Zusammenhang nicht erörtert.

In seinem Spätwerk unterscheidet Wittgenstein (1984c [1953]) zwischen Sprach- und Sachproblemen (Lauer 1987). Sachprobleme gehören Wittgenstein zufolge nicht zur Philosophie, solche Probleme lösen Naturwissenschaftler mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Erklärungen. Allein Sprachprobleme will er lösen oder besser gesagt therapieren.

Bei Bacon (1990 [1620]) wird das Wort „Interpretatione“ in einem sehr umfassenden Sinne gebraucht. Auch das Wort „Erklärung“ kann erstens in einem sehr umfassenden Sinn gebraucht werden und kann dann synonym zur Interpretation, wie Bacon das Wort verwendete, benutzt werden. Zweitens wird es in einem sehr engen Sinne verwendet, so wie mittlerweile die Szientisten dies tun (Kapitel 3.1.2, B).

Wenn es um die Therapie sprachlicher, insbesondere philosophischer Probleme geht, benutzt Wittgenstein Erklärungen im Sinne von Klärung. Es handelt sich dabei nicht um empirische Probleme, sondern um sprachliche Probleme (Wittgenstein 1984c [1953]: §§ 109, 133, 383, Wittgenstein 1984b [1922]: 4.0031, 4.003(2), 6.5 (2)). Besser ist es hier von Beschreibungen zu sprechen, da es nicht um kausale Erklärungen geht, sondern darum ein Sinnverstehen zu ermöglichen: „Philosophie klärt die Grenzen des Sinnes. Sie klärt, welche Fragen und welche Unterscheidungen prinzipiell sinnvoll sind. Philosophische Erklärung oder Klärung liefert Verstehen, indem sie eine Übersicht liefert. Daher sei die Philosophie eine Aktivität der Klärung von Gedanken“ (Lauer 1987: 32). Deshalb kann eine klare Unterscheidung zwischen Beschreibungen (Klärungen, descriptions) und kausalen Erklärungen (explanations) bei Wittgenstein identifiziert werden: „Philosophy, one might claim, explains by description whereas science explains by hypothesis. Philosophical explanation produces understanding by means of an Übersicht, scientific explanation produces new knowledge by constructing theories“ (Baker/Hacker 1980: 490).

Auf die Kontroverse zwischen Interpretivisten und Szientisten übertragen, könnte man sagen, dass es zwischen Beschreibungen und Erklärungen prinzipielle Unterschiede schon aufgrund der Ziele und deren methodologischer Umsetzung gibt: Erstens ermöglicht eine empirisch-deskriptive Methodologie eine Wissensgenerierung oder Welterkennung als Weltinterpretation, Weltdeutung oder Weltbeschreibung von (sichtbaren) Phänomenen mittels Sprache. Zweitens generiert eine empirisch-explanative sowie eine empirisch-prognostische Methodologie Wissen von unsichtbaren Kausalitäten oder Welterkennung als Welterklärung mittels Logik und Mathematik. Beschreibungen können weder Erklärungen noch Wertungen rechtfertigen, widerlegen oder durch andere ersetzen. Da es auch zwischen Erklärungen und Wertungen prinzipielle Unterschiede gibt, ist, wie man im zweiten Schaubild sehen kann, auch eine dritte Unterscheidung auf der horizontalen Ebene notwendig: eine praktische Methodologie, um Geltungsfragen oder Wertfragen zu begründen oder legitimieren.

Eine strukturelle Trennung zwischen Beschreibungen (Klärungen) und Inferenzen (Erklärungen) hat also einen Wittgenstein-Bias. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) dies ebenfalls fordert. Von Wright war Wittgenstein-Schüler, Wittgenstein-Nachfolger in Cambridge und einer von drei Herausgebern von Wittgensteins Nachlass.

Nach Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) geht ein Verstehen einer Erklärung voraus, d.h., zuerst wird die sichtbare Erscheinung eines Ereignisses beschrieben (Phänomenologie), danach werden die unsichtbaren Aspekte in Form von notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Kausalität erklärt. Die Beschreibung sichtbarer Erscheinungen wird in der Regel mittels qualitativ-interpretativer Methoden vorgenommen. Die Erklärung der notwendigen Bedingungen, nach von Wright die Klärung der Wie-Fragen, wird seit den 70er Jahren innerhalb der Politikwissenschaft mittels qualitativ-mathematischer Methoden vorgenommen. Die Warum-Fragen oder die hinreichenden Bedingungen werden mittels quantitativ-mathematischer Methoden ermittelt.

Mario Bunge, ein szientistischer Wissenschaftsphilosoph par excellence, steht Hermeneutikern, Phänomenologen, Sprachphilosophen und Strukturalisten ableh-nend bis feindselig gegenüber: „[I]t is not wise for social scientists to leave philosophy in the hands of philosophers like Husserl and Wittgenstein, who have never bothered with science in particular with social studies. And it is downright foolish to seek inspiration in the likes Heidegger and Derrida, who have written only gibberish, platitudes, or falsities“ (Bunge 1996: 12).

Auch Bunge unterscheidet zwischen Beschreibungen und Erklärungen: „In particular, objective description should precede everything else, for only a (sufficiently) true description of a social situation qualifies us in advancing explanatory hypotheses, identifying social issues, and designing efficient policies or plans for tackling the latter“ (Bunge 1996: 135). Erklärungen beantworten vor allem Warum-Fragen, während Beschreibungen klären sollen, wo, wann, woher, wohin oder woraus etwas geschah: „Description is necessary but insufficient: we want to know why, not just what, where, when, whence, or whither“ (Bunge 1996: 137).

Eine rein deskriptive Vorgehensweise reicht innerhalb der Wissenschaften nicht aus, weil man hier ein rationales Verständnis anstrebt, und dies erfordert neben einer adäquaten und dichten Beschreibung auch eine Erklärung: „We want explanation, either because we want rational understanding – not some vague intuition or a metaphor, let alone a story – or because we wish to tamper with the thing in question“ (Bunge 1996: 138).

Anders ausgedrückt eine adäquate Wissensgenerierung zur Welterkennung erfordert beides: erst einmal Weltbeschreibung und danach Welterklärung. Aufgrund unterschiedlicher Erkenntnisziele und größtenteils auch unterschiedlicher Forschungsmethodologie muss beides komplementär zueinander betrieben werden. Inkommensurabel ist nur die Forschungsmethodologie. Es gibt keine allgemeine Inkommensurabilität zwischen diesen Forschungsrichtungen. Forscher sind auf die Ergebnisse der jeweils anderen Tradition sogar angewiesen, eine Diskontinuität oder gar Sprachlosigkeit ist aufgrund dieser unterschiedlichen Methodologien nicht von vornherein gegeben.

Das Sinnverstehen verschwindet innerhalb der Politikwissenschaft aus der platonisch-galileischen Tradition vor allem aufgrund der Orientierung an den Naturwissenschaften und den oben erwähnten methodologischen Forschungsprogrammen oder „Revolutionen“. Bei Weber allerdings sind sowohl Kausaldenken als auch Sinnverstehen zwei gleichberechtigte Aufgaben der Wissenschaften (Weber 1980 [1922] und 1984 [1921]).

Auch andere naturalistische Wissenschaftsphilosophen unterscheiden sehr genau zwischen Beschreibungen und Erklärungen. Nur Phänomene kann man beschreiben (description of appearances) und erhält deskriptives Wissen (descriptive knowledge). Kausale Regularitäten sowie kausale Prozesse oder Ursache-Wirkungs-Mechanismen kann man hingegen erklären, dies nennt Wesley C. Salmon explanatives Wissen (explanatory knowledge). „For the proponents of the ontic conception of scientific explanation, realism provides a straightforward answer to the question of the distinction between descriptive and explanatory knowledge“ (Salmon 1989: 134).

Verwirrend kommt noch hinzu, dass in der Politikwissenschaft eine weitere Unterscheidung, die synonym gebraucht wird, getroffen wird und zwar zwischen Beschreibungen von Phänomenen (descriptive inference) und kausalen Schlussfolgerungen über Phänomene (causal inference): „[T]he next section of the handbook discuss regression-like statistical methods and their extensions. These methods can be used for two quite different purposes that are sometimes seriously conflated and unfortunately confused. They can be used for descriptive inferences about phenomena, or they can be used to make causal inferences about them (King/Keohane/Verba 1994). Establishing the Humean conditions of constant conjunction and temporal precedence with regression-like methods often takes pride of place when people use these methods, but they can also be thought of as ways to describe complex data-sets by estimating parameters that tell us important things about the data“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010b [2008]: 17).

Die Etablierung von Methoden zur Erforschung von kausalen Mechanismen oder Prozessen, im Gegensatz zu den quantitativen Methoden, die zur Ermittlung von kausalen Regularitäten eingesetzt werden, führt zu Begriffsverwirrungen zumindest in der Politikwissenschaft. Die disziplinierten Politologen tragen in ihren Methodologiebüchern zu zwei Begriffskonfusionen bei:

Erstens wird der Begriff „description“ dort verwendet, wo eigentlich „explanation“ angebracht wäre. Statt zu sagen „to explain causal mechanism“ wird die Erklärung von kausalen Prozessen oder werden die „qualitativen“ Methoden zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen unter der Überschrift „description and causal inference“ abgehandelt (King/Keohane/Verba 1994, Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008] und Brady/Collier 2010 [2004]).

Insbesondere diese Autoren, Mr. Perestroika würde sagen die Ostküsten-Brahmanen aus Harvard (King/Keohane/Verba 1994) und die Westküsten-Brahmanen aus Berkeley (Brady/Collier 2010 [2004]), setzen sich sehr intensiv für die Benutzung eines sehr engen Begriffs von Beschreibung und damit verbunden von qualitativen Methoden ein. Dabei wird unterschieden zwischen Beschreibungen, mit deren Hilfe Fakten gesammelt werden, und beschreibenden Inferenzen: „[W]e distinguish description – the collection of facts – from descriptive inference“ (King/Keohane/Verba 1994: 34).

Mit Hilfe von beschreibenden Inferenzen (descriptive inference) soll eine systematische Einteilung in wichtige und unwichtige Komponenten der Welt erfolgen: „[M]aking descriptive inference by partition the world into systematic and nonsystematic components“ (King/Keohane/Verba 1994: 75).

Es geht also um die Einteilung der sichtbaren Welt in systematische und nicht-systematische Komponenten, wobei nur Erstere die für kausale Referenzen notwendige Daten (DSOs und CPOs, wobei Letztere erst später von anderen Autoren (Brady/Collier 2010 [2004]) eingeführt wurden) liefern und alles andere sind vernachlässigbare Daten. Sogar kulturelle Faktoren als erklärende Variablen werden vernachlässigt: „The use of ‘culture’ as an explanatory variable in social science research is a subject of much contention but is not the subject of this book. Our only comment is that cultural explanations must meet the same tests of logic and measurement we apply to all research“ (King/Keohane/Verba 1994: 226). Dies ist nun eine Analogie, die bewiesen werden muss.

Wir haben es hier mit einem methodologischen Reduktionismus in Reinkultur zu tun, das sieht man auch an dem reduktionistischen Verständnis von Beschreibungen. Naturwissenschaftler haben kaum sprachliche Verständnisprobleme untereinander, wenn es darum geht miteinander zu kommunizieren und sichtbare Phänomene zu beschreiben. Dies liegt aber daran, dass Naturwissenschaftler mittlerweile alle auf Englisch miteinander kommunizieren, weltweit dieselben Curricula erfolgreich bewältigen müssen, ja aus einem gleichen Milieu stammen oder sich aufgrund der Sozialisation schon seit Jahren bewegen. Sie können sich also ohne viel sprachlich-interpretativen Aufwand oder Vorleistungen und damit auf Beschreibungen fast en passant einigen. Danach konzentrieren sie sich dann ausschließlich auf Erklärungen und Prognosen und greifen dabei auf eine logisch-mathematische Methodologie zurück.

Der Versuch innerhalb des logischen Empirismus (Philosophie der idealen Sprache), allein mit Hilfe einer logisch-mathematischen Methodologie die Welt wissenschaftlich zu erfassen (Frege 2008 [1963/1879], Wittgenstein 1984b [1922], Carnap 1998 [1928]), ist längst zumindest innerhalb der Philosophie als Sackgasse enttarnt worden.

Ethnologen, Soziologen und Politologen, die Fallstudien (area studies) außerhalb der westlichen Welt verfassen (Rudolph 2005a und 2005b), sehen dies ganz anders, sie haben sich mit den damit verbundenen Entwicklungen auseinandergesetzt. So müssen Ethnologen, bevor sie Erklärungen liefern, zuerst einmal z.B. die Sprache eines Stammes lernen und, genauso wichtig, dessen Lebensform verstehen. Dies gilt in sicherlich abgeschwächter Form auch für Soziologen, die in anderen als akademischen Milieus forschen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass aus diesen Wissenschaften die wichtigsten methodologischen Überlegungen für eine sprachlich-qualitative Forschung kommen (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Schmitz/Schubert 2006, Denzin/Lincoln 1994).

Die Verwendung des Begriffs „Beschreibung“ führt zweitens dazu, dass auch den Methoden, die zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen notwendig sind, das Etikett „qualitativ“ angeheftet wird. Dabei handelt es sich aber nicht um qualitativ-interpretative Methoden innerhalb der sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie (Kapitel 3.1.2, C), sondern um qualitativ-mathematische Methoden, wie ich noch zeigen werde (Kapitel 3.9).

Die Perestroikans verweisen nicht nur auf die Sprachphilosophie, sondern auch auf den Strukturalismus: „Unterhalb des Sichtbaren verborgene Beziehungsgeflechte zu entziffern, ist die Methode des Strukturalismus“ (Ruffing 2005: 202). Verborgene Strukturen sichtbar zu machen, ist nicht nur ein Ziel des Strukturalismus, sondern kann als ein allgemeines Ziel der Wissenschaften angesehen werden, ob man nun nach unsichtbaren kausalen Regularitäten, konkreten kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen, teleologischen Relationen oder wie Michel Foucault nach Machtbeziehungen sucht. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Suche nach Kausalitäten mittels einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie und nach Sinnzusammenhängen mittels einer qualitativ-interpretativen Forschungsmethodologie die differenziertesten und ausgearbeitetsten Methodologien zur Welterkenntnis hervorgebracht haben.

Bisher habe ich die Ziele und Vorgehensweisen der Interpretivisten insgesamt geschildert. Im Folgenden werde ich mich paradigmatisch auf die phronetischen Perestroikans beschränken.

D. Wissensgenerierung oder Welterkennung innerhalb der phronetischen Politikwissenschaft (Phronetic Political Science). Real Social Science - eine prinzipielle Alternative zum Naturalismus oder Szientismus?

Die Identität der Person, die unter dem Pseudonym „Mr. Perestroika“ (Mr. Perestroika 2005 [2000]) eine Kritik am Mainstream formuliert hat, ist, wie gesagt, bisher noch nicht geklärt. Eine heterogene Gruppe von Wissenschaftlern unterstützt diese Kritik wie oben ermittelt nicht am Mainstream, sondern vor allem am szientistischen Establishment. Einen Überblick findet man in dem Band von Kristen Renwick Monroe (2005) „Perestroika! The Raucous Rebellion in Political Science“, eine Evaluation der Perestroika-Bewegung wurde 2015 in der Zeitschrift „Perspectives on Politics“ publiziert (Gunnel 2015a und 2015b, Monroe 2015, Laitin 2015, Farr 2015, Schram 2015).

Sanford F. Schram (2003, 2005 und 2006, Schram/Caterino 2006) hat sich nicht nur zu dieser Bewegung bekannt, sondern auch die Ziele dieser Bewegung formuliert, und ist neben Bent Flyvbjerg, Todd Landman und anderen ein Vertreter einer phronetischen Sozialwissenschaft oder phronetischen Politikwissenschaft (Phronetic Political Science). Damit verstehen sie sich als Alternative zum Establishment (Mainstream) (Flyvbjerg 2001 und Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a). Das Buch von Flyvbjerg (2001) „Making Social Science Matter: Why Social Inquiry Fails and How it Can Succeed Again“ wurde unter anderem von Laitin (2006 [2003]) und Schram (2003 und 2005) als Manifest der Perestroika-Bewegung aufgeführt. Flyvbjerg selber steht hinter dieser Einschätzung (Flyvbjerg 2006: 56).

Im Folgenden sollen diese Konzeption und ihre Kritik am szientistischen Establishment vorgestellt werden.

a. Philosophische Grundlagen der phronetischen Perestroikans

Die Perestroikans orientieren sich am (amerikanischen) Pragmatismus, der
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, dem (französischen) (Post)Strukturalismus und der (britischen) Sprachphilosophie, weiterhin an den Hermeneutikern und Phänomenologen innerhalb der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (Humanities). Sie wollen sich von einer Sozialwissenschaft inklusive einer Politikwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, absetzen, einige möchten demgegenüber eine eigenständige phronetische Politikwissenschaft (phronetic political science) begründen.

Zuerst wurden fast alle oben genannten philosophischen Fundamente innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft im Rahmen der argumentativen Wende der Politikfeldanalyse (Fischer/Forester 1993a, Fischer 2003) vorgetragen. Frank Fischer fasste diese kurz wie folgt zusammen: „The growing interest in argumentation in policy analysis draws from both theoretical and practical perspective. On the one side, as we have already seen, its diverse theoretical influences run through British ordinary-language analysis, French poststructuralism, the Frankfurt school of critical social theory, and a renewed appropriation to American pragmatism. On the other hand, it is based in practical terms on a range of experiments on the part of policy analyst and planners, from stakeholder analysis and participatory research to citizen juries and consensus conferences“ (Fischer 2003: 182).

Diese philosophischen Positionen liegen auch den phronetischen Wissenschaft-lern innerhalb der Perestroika-Bewegung zugrunde, so weist auch Sanford F. Schram auf eine Erweiterung der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft hin. Dabei werden eine pluralistische Methodologie, Kontextbezogenheit und eine bessere Praxisbezogenheit gefordert: „In its place, Perestroika would put a more pluralistic emphasis on allowing for the blossoming of more contextual, contingent, and multiple political truths that involve a greater tie between theory and practice and a greater connection between thought and action in specific settings. Perestroika lays open the possibility that political science could actually be a very different sort of discipline, one less obsessed with proving it is a ‘science’ and more connected to providing delimited, contextualized, even local knowledges that might serve people within specific settings“ (Schram 2003: 837, vgl. Monroe 2005).

Die Praxisferne des kausalen Reduktionismus wird am Anfang des 21. Jahrhunderts von vielen Seiten kritisiert, dies war auch im Positivismusstreit der 1960er Jahre (Adorno et al. 1976 [1969], Falter 1982) ein auftauchender Topos. Wichtig ist den Kritikern vor allem, dass man nicht nur die politische Realität beschreibt, sondern diese auch verändert, so lautet der Titel von Bent Flyvbjergs Buch „Making Social Science Matter“ (Flyvbjerg 2001). Klingt wie die im Jahre 1845 formulierte 11. Feuerbach-These – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“ (Marx/Engels, MEW 3, S. 535, 1845). Diese Feuerbach-These war auch das Motto der Caucus for a New Political Science, die sich vor allem in den USA in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts formierte (Goodin 2011b [2009]: 5). Auch im neusten Werk wird dies als Motto angeführt: „Real social science is when studying the world has the effect of changing it, by means of what Machiavelli calls verita effectuale (effective truth). Real social science that contributes to phronesis grows out of experience and, in turn, contributes to that experience. It cannot be theorized in toto in advance“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 4).

b. Kritik der Perestroikans an der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise

Bent Flyvbjerg liefert eine radikale Kritik an einer Sozialwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften orientiert. Er konstruiert ein Modell einer epistemischen Wissenschaft, das seiner Meinung nach in den Naturwissenschaften dominiert und von den Sozialwissenschaften kritiklos übernommen wurde: „By ‘epistemic’ is meant ‘well-founded’ or ‘what must be regarded as correct’. Epistemic science is science which has achieved a paradigmatic and normal-scientific level in the Kuhnian sense, and which is thereby capable of explaining and predicting in terms of context-free knowledge“ (Flyvbjerg 2001: 172-173). Dieses Buch und die damit verbundene Kritik wurden von Sanford F. Schram (2003) hervorgehoben und als eine Grundlage für eine Alternative zum Mainstream vorgestellt und damit auch als Fundament insbesondere der phronetischen Perestroikans angeführt und später noch weiterentwickelt (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).

Die Bewunderung der Naturwissenschaften aufgrund nicht zuletzt der technischen Erfolge erreichte im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt und führte dazu, dass die Naturwissenschaften einen großen Einfluss auf die im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften ausübten. Viele Sozialwissenschaftler plädierten für eine Orientierung an naturwissenschaftlichen Methoden. Gegen die Übernahme einer naturwissenschaftlichen Methodologie gab es beträchtlichen Widerstand, weniger unter der damals noch überschaubaren Zahl von Sozialwissenschaftlern, dafür umso mehr innerhalb der Geistes-, Geschichts- oder Kulturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften bedürften aufgrund ihres Gegenstandes einer eigenen Methodologie, so Wilhelm Dilthey (1922 [1883]) in seinen sehr einflussreichen Studien. Heinrich John Rickert (1921 [1896]) hob die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hervor und sah diese ungeeignet für die historischen Wissenschaften. Erich Rothacker (1926) ermittelte eine eigenständige Logik und Systematik der Geisteswissenschaften.

Auch Flyvbjerg sieht eine fundamentale Differenz zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften: „We may thus be speaking of so fundamental a difference that the same research procedure cannot be applied in the two domains. It is this argument which is put forth by hermeneutics and phenomenology“ (Flyvbjerg 2001: 32). Dabei bezieht er sich nicht auf die Diskussion an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sondern insbesondere auf die Arbeiten von Hubert L. Dreyfus (1991), der die Differenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften verteidigt: „If Dreyfus is right he has identified a fundamental paradox for social and political science: a social science theory of the kind which imitates the natural sciences, that is, a theory which makes possible explanation and prediction, requires that the concrete context of everyday human activity be excluded, but this very exclusion of context makes explanation and prediction impossible“ (Flyvbjerg 2001: 40).

Flyvbjerg/Landman/Schram (2012a) gehen von einem sozialwissen-schaftlichen Modell aus, das einer Überprüfung mit der Realität nicht standhält. In den Beiträgen des Bandes „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) wird gezeigt, wie am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Politikwissenschaft (political science) arbeitet oder arbeiten sollte, die sich an den Naturwissenschaften orientiert und als Wissenschaft auftreten kann. Die echten oder phronetischen Sozialwissenschaftler haben sich mit dieser komplexen Methodologie kaum auseinandergesetzt.

Die wichtigsten Einwände werden im Folgenden behandelt, weitere Einwände werden jeweils an geeigneter Stelle auf der entsprechenden methodologischen Ebene beleuchtet.

Ein zentraler Einwand betrifft die Kontextbezogenheit und die angebliche Unmöglichkeit, diese mit naturwissenschaftlichen Methoden aufzuzeigen: „We see, therefore, that context-dependence does not mean just a more complex form of determinism. It means an open-ended, contingent relation between contexts and actions and interpretations“ (Flyvbjerg 2001: 43). Eine weitere Eigenschaft sei der lokale Bezug des phronetischen Wissens: „These are local knowledges, even tacit knowledges and skills, that cannot be thought a priori but that grow from the bottom up, emerging out of practice. Add a sense of praxis, seeking the ability to push for change, leaven it with an appreciation of the ineliminable presence of power, and this phronetic social science can help people involved in ongoing political struggle question the relationships of knowledge and power and thereby work to produce change“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 2).

Die Wenn-dann-Tiefenstruktur der Wissenschaft (Kapitel 3.1.3, G) ermöglicht nicht nur eine Spezialisierung, sondern macht diese gleichzeitig auch notwendig und führt dann unweigerlich zu einer teilweisen Dekontextualisierung. Diesem Prozess können sich auch Perestroikans nicht entziehen. Wer lokales Wissen generiert, wird innerhalb der Politikwissenschaft auch notwendigerweise zumindest teilweise den regionalen, nationalen, europäischen und globalen Kontext ausblenden müssen oder sich bewusst sein, dass viele lokale Probleme andere als lokale Ursachen und Determinanten haben können.

Flyvbjerg kritisiert die Anhänger der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise in den Sozialwissenschaften, dass sie sich an einem Modell von Naturwissenschaften orientieren, das es so nie gab: „[T]he idealisation of the natural sciences has become more pronounced since Marx and Freud. This applies not only to positivism and critical rationalism, but also to areas of research not normally associated with the natural science model“ (Flyvbjerg 2001: 27).

Analog kann man Flyvbjerg kritisieren, dass er ein Modell innerhalb der Politikwissenschaft kritisiert, das es, wenn überhaupt, zwar im 19. Jahrhundert bei Marxisten und Positivisten gab, aber kaum noch seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts und schon gar nicht am Anfang des 21. Jahrhunderts in der Politikwissenschaft dominiert.

c. Spannungspunkte (Tension Points)

Der Suche nach Kausalitäten innerhalb der empirisch orientierten Sozialwissen-schaften entspricht bei den echten (real) Sozialwissenschaften die Suche nach Spannungspunkten (tension points). Beides wird mit einem eindeutig reduktionis-tischen Anspruch in praktischer Absicht vorgetragen, da die Identifizierung von Kausalitäten genauso wie die Identifizierung von Spannungspunkten sowohl eine Erkennung als auch eine Veränderung der politischen Realität ermöglichen soll: „These tension points are weak spots in any struggle where disagreement creates an opening for research to sway opinion and move a decision in a particular direction“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11).

Die Suche nach Spannungspunkten verfolgt das Ziel, Veränderungen in politischen und sozialen Prozessen anzustoßen. Damit soll die praktische Relevanz der Sozialwissenschaften nachgewiesen werden: „By exploiting these tension points, phronetic research can prove its relevance in specific settings and influence outcomes so as to improve social action and policy-making. In this way, phronetic social science can deliver on the promise of mainstream social science to speak truth to power, to inform society, improve decision-making and enhance social life“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11).

Im Vordergrund stehen vor allem Machtfragen, insbesondere Machtmissbrauch soll verhindert werden: „We explain the focus on tension points by the phronetic researchers to issues of power and especially researchers’ commitment to challenge the abuse of power“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 289).

Es sollen nicht nur Spannungs-, sondern gleichzeitig auch Schwachpunkte entdeckt werden, die einen gezielten Eingriff in bestehende Machtbeziehungen erlauben und eine Verbesserung der Situation ermöglichen: „[P]roblematizing tension points may be compared with hitting a rock with a hammer. If you hit the rock at random it seems unbreakable, even if you hit it hard. If you hit the rock strategically at the small, near invisible fault lines that most rocks have, the rock will fracture, even if you hit it gently. Tensions points are the fault lines that phronetic researchers seek out; that is where researchers hit exiting practices to make them come apart and create space for new and better ones“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 289-290).

Der Hinweis auf die Suche nach Spannungspunkten taucht erstmals im letzten Band (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) auf, vorher baute die Kritik vor allem auf die Problemorientierung (problem-driven, problem-based) auf. Wegen der Zentralität dieser Spannungspunkte wäre eine detailliertere Ausarbeitung nötig, diese ist aber nicht vorhanden. Alle wichtigen Stellen dazu aus der Einleitung (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b) und der Zusammenfassung (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c) des Bandes habe ich zitiert, dabei bieten diese Zitate vor allem blumige Metaphern und sind mit den methodologisch detaillierten Kausalanalysen der Szientisten nicht zu vergleichen, damit bieten Phronetiker lediglich metaphorische Analysen und keine methodisch-systematische Forschung. Weiterhin liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei den Spannungspunkten auch um Kausalitäten handeln könnte, damit würden die naturwissenschaftliche Orientierung und die Vorgehensweise der Szientisten wieder durch die Hintertür eingeführt.

d. Problemorientierte (Problem-driven, Problem-based) versus methodenorientierte Forschung (Method-driven Research)

In den USA plädieren neben den Perestroikans (Flyvbjerg 2001, 2006, Schram 2003, 2006) auch andere Wissenschaftler (Shapiro 2005) dafür, eine problemorientierte (problem-driven, problem-based) anstelle einer methodenorientierten (theory-driven) Politikwissenschaft zu betreiben.

Auf der einen Seite wird der Methodologie in der platonisch-galileischen Tradition eine zentrale, ja sogar eine konstitutive Bedeutung zugemessen. Kurz: Wissenschaft unterscheidet sich von anderen gnosiologischen Unternehmungen dadurch, dass die Wissenserzeugung und Wissensüberprüfung ein methodologisch nachvollziehbares Unternehmen ist (Kapitel 3.1.1, D).

Auf der anderen Seite trachten auch diese Wissenschaftler danach, dass die erarbeiteten Ergebnisse oder das von ihnen generierte Wissen auch in der öffentlichen Debatte nicht nur wahrgenommen, sondern auch beachtet werden. Die Problemorientierung ist geradezu ein zentrales Ziel: Das Motto der Szientisten lautet daher, das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern sowie Problemstellungen mit lebenspraktischer Relevanz (practical significance) zu erörtern (Kapitel 3.1.2, A).

Seit der Entwicklung der Politikwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts werden die Forscher, die sich an den Naturwissenschaften orientieren und mit mathematischen Methoden arbeiten, mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie das Fach ins Abseits führen. Dieser Vorwurf kam sowohl von normativ-ontologisch orientierten Politologen als auch von den Anhängern der Kritischen Theorie. Die Perestroikans erneuern diesen Vorwurf und fordern sogar in Beitragstiteln wie „Return to politics“ (Schram 2005) „Making Political Science Matter“ (Schram/Caterino 2006) eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg einer Methodenorientierung: „Perestroika lays open the possibility that political science could actually be a very different sort of discipline, one less obsessed with proving it is a ‘science’ and more connected to providing delimited, contextualized, even local knowledges that might serve people within specific settings“ (Schram 2003: 837, Monroe 2005).

Die Perestroikans beziehen sich bei dieser Kritik insbesondere auf die Arbeit von Green und Shapiro (1999 [1994], Shapiro 2005: 83, 1. Fußnote). Eine methodenorientierte Forschung geht laut Green und Shapiro wie folgt vor: „Die empirische Forschung wird sozusagen an der Theorie anstatt an Problemstellungen ausgerichtet; sie dient damit vornehmlich dem Zweck, irgendeine Variante der Rational-Choice-Theorie zu retten oder zu verteidigen, anstatt politische Phänomene zu erklären“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 17).

Demgegenüber hat eine problemorientierte Forschung folgende Attribute: „Problemgeleitet ist empirische Forschung dann, wenn die Theoriebildung darauf ausgelegt ist, tatsächlich auftretende Probleme zu lösen. Sie ist dagegen methodengeleitet, wenn zunächst eine Theorie ohne Ansehen der damit zu erklärenden Phänomene entwickelt wird und der Theoretiker erst dann nach Phänomenen sucht, auf die die betreffende Theorie angewendet werden kann […]. Wie Abraham Kaplan (1964, 28) einmal bemerkt hat: Wenn das einzige Werkzeug, das man besitzt, ein Hammer ist, dann sieht plötzlich alles andere wie ein Nagel aus“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 228).

Die Lösung lautet: „Problem-driven research would replace method-driven research“ (Schram 2003: 837). Diese Unterscheidung soll die Praxisnähe der neuen Ansätze sowie die Methodenverliebtheit der anderen Seite dokumentieren. Weg von Formalismen und Techniken, hin zu wichtigen, relevanten Fragestellungen.

Dagegen können zwei Einwände eingebracht werden, einmal würde dies ja indirekt bestätigen, dass die „happily still undisciplined political theorists“ tatsächlich so undiszipliniert und methodenfern arbeiten, quasi von den Problemen verblendet, wie dies die Gegner behaupten. Dies ist aber bei den meisten Kritikern des kausalen Reduktionismus nicht der Fall, sie arbeiten nur mit einer anderen Methodologie (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Blatter/Janning/Wagemann 2007, Denzin/ Lincoln 1994). Dies gilt auch für die phronetischen Perestroikans, auch wenn ihre Methodologie bei weitem noch nicht so ausgearbeitet ist wie die der Szientisten.

Zweitens verstehen die Kritiker die Bedeutung und Konsequenzen von Kausalanalysen nicht, zumindest nicht die Ansprüche, die damit verbunden werden: Mit Hilfe von Kausalanalysen soll erstens die (politische) Welt erkannt, d.h. vor allem erklärt werden (Beschreibungen spielen eine kleinere Rolle) und zweitens soll man durch die Kenntnis von Kausalitäten die Welt verändern können, dadurch dass man Kausalitäten in sozialtechnologische Regeln umwandelt.

Die Kritik an der Methodenorientierung (method-driven, methodologism) ist weiterhin missverständlich. Wissenschaft zeichnet sich essentiell durch methodologisches Vorgehen aus. Wissen wird mit Hilfe einer wissenschaftlichen Methodologie generiert, die jeder, der dieselbe Methodologie anwendet, auch nachprüfen kann; so werden Intersubjektivität, Objektivität und Reliabilität gewähr-leistet (Kapitel 3.1.3 und Kapitel 3.2).

Die Gefahr, dass sich Wissenschaftler in methodologischen Spielereien verlieren oder ihnen aufgrund der Komplexität der Methoden handwerkliche Fehler unterlaufen, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies rechtfertigt aber keineswegs, die Methodenorientierung aufzugeben und sich einer wie auch immer gearteten Problemorientierung (problem-driven) zu widmen – weil sich dann wieder die Frage stellt, mit welcher Methodologie die Probleme angegangen werden sollen. Daher ist John Gunnel zuzustimmen, der in seinem historischen Überblick über die Perestroika-Bewegung völlig zu Recht festhält: „The invocation of mantras such as problem-based research where far from adequate“ (Gunnell 2015a: 409).

Auch die Kritik an der Spezialisierung (Mead 2010: 453) ist unangebracht, weil schlicht und ergreifend aufgrund der Komplexität der Welt sowie des derzeitigen Forschungsstandes ohne Spezialisierung keine ernsthafte Forschung mehr betrieben werden kann. Selbstverständlich kann auch dies zu Verwerfungen führen, die Spezialisierung kann aber deshalb nicht zurückgedreht werden.

Die wichtigen Probleme der Differenzierung und Spezialisierung werden dabei aber nicht einmal angesprochen. Dabei geht es um die Frage: Wie kann man einzelne wissenschaftliche Ergebnisse zusammenfügen oder, salopp ausgedrückt, wie kann man die Einzelteile des Puzzles zusammenstellen?

e. Stringenz und Scholastizismus (Rigor, Scholasticism) versus Relevanz

Die Methodenorientierung und die damit verbundene Steigerung der Stringenz führt nach Lawrence M. Mead (2010) zu einem Scholastizismus, der vor allem die Ideale wie strenge Beweisführung und Transparenz hervorhebt: „[U]nder the norm of rigor, one ideal is proof – demonstrating conclusions, not simply asserting them. Hence the appeal of mathematical methods, where inferences are precise. Another ideal is transparency. One’s conclusion should follow strictly from the data rather than from contestable judgements, so that in principle others could replicate them“ (Mead 2010: 460).

Stringenz und Überbetonung der Methodologie sind genau wie die fehlende Problemorientierung wiederkehrende Topoi. Beides wurde schon an der „behaviorial revolution“ kritisiert, da dadurch der Gegenstand willkürlich eingeengt werde und die Relevanz auf der Strecke bleibe: „Durch eine rigide Methodologie ist der Gegenstand des wissenschaftlich Erkennbaren recht willkürlich eingeengt und die Relevanz dessen, was nach diesen rigorosen methodologischen Anforderungen noch erforscht werden konnte, stark eingeschränkt worden“ (von Beyme 2000 [1972]: 117).

Die Kritik der Perestroikans an der Überbetonung der Methodologie ist nicht neu: „Die Überbetonung der Methodologie [gemeint sind die Behavioralisten] wurde von einem Normativisten wie Herbert Spiro (1971: 323 ff.) bissig das ‚Masturbationsstadium der Politikwissenschaft‘ genannt“ (von Beyme 2000 [1972]: 117).

Der von Mead (2010) kritisierte Scholastizismus hat ihm zufolge insgesamt vier Komponenten, einige wurden von Albert, Green und Shapiro schon hervorgehoben, und zwar Methodenorientierung (methodologism) sowie Immunisierung gegenüber der Erfahrung (nonempiricism), hinzu kommen noch überhöhte Spezialisierung (specialisation) und ein Fokus auf die wissenschaftliche Literatur (literature focus) (Mead 2010, siehe auch Héretier 2016).

Die ersten drei Kritikpunkte wurden schon behandelt, bleibt noch der vierte Punkt. Ein Schriftsteller muss nicht an einen früheren Roman oder an die Arbeiten eines Kollegen anknüpfen, er kann immer alles neu entwerfen. Die Qualität und Relevanz der Wissenschaft ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil Wissenschaftler nicht nur sehr gerne ganz neue Theorien entwerfen, sondern vor allem sich erst einmal mit dem Stand der Forschung auseinandersetzen und diesen weiterentwickeln. Daher schießt der Vorwurf des „Literature Focus“ (Mead 2010) genauso wie der Methodologism-vorwurf weit über das Ziel hinaus und ist sogar kontraproduktiv.

Ganz im Gegenteil: Eine der größten Schwächen des „Methodenstreits“ besteht darin, dass sich beide Kontrahenten, Szientisten wie Perestroikans, nicht mit dem jeweiligen Stand der Forschung der anderen Partei auseinandersetzen.

So nehmen die Perestroikans etwa die verschiedenen methodischen Ansätze zur Ermittlung von Kausalitäten genauso wie die neu entwickelten Methoden und Experimente einfach nicht zur Kenntnis und kritisieren wissenschaftstheoretische Positionen und Methoden, die längst aufgegeben oder entscheidend verändert wurden.

Schlimmer sieht es bei den Kontrahenten aus: Die disziplinierten Wissenschaftler ignorieren die Methodologie der anderen Seite vollständig oder lehnen diese en passant in Fußnoten ab (Goodin 2011b [2009], Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Daher kritisiert Flyvbjerg (2006) völlig zu Recht, dass die Positionen der phronetischen Sozialwissenschaft nicht adäquat wiedergegeben werden und damit die entsprechende Kritik nicht zielführend ist. Seine Kritik richtet sich dabei vor allem an die Kritik, die von Laitin (2006 [2003]) in einer Rezension von Flyvbjergs Buch geübt wurde.

Mead stellt nicht nur wichtige wissenschaftliche Kriterien in Frage, sondern plädiert auch dafür den Scholastizismus dadurch zu überwinden, dass man etwas weniger Stringenz (rigour), dafür aber mehr Relevanz (relevance) anstrebt: „To limit scholasticism one must step back and question the values it serves – those of rigor“ (Mead 2010: 460).

Er schlägt vor, dass man zurück zu Wertfragen kommen sollte, d.h. einen politischen Realismus betreiben und die betroffene Zielgruppe im Auge behalten sollte: „In contrast, nonscholastic research serves the values of relevance. Under that norm, one ideal is realism – addressing problems as they appear in the real world of politics, as against the narrower issues that academics may define. Another ideal is audience – to speak to all those interested in a problem rather than just the researcher“ (Mead 2010: 460).

Höchstens die gleichzeitige Beachtung von Stringenz und Relevanz sei annehmbar: „At its best, political science accepts a tension between rigour and relevance, serving both values to some extent“ (Mead 2010: 460).

Mead bringt hier zwei völlig verschiedene Problematiken durcheinander. Auf der einen Seite geht es um die Ziele von Wissenschaft und auf der anderen Seite die methodologische Stringenz wissenschaftlicher Untersuchungen. Den Wert der Wissenschaft für die Gesellschaft bezweifeln auch die Szientisten nicht, im Gegenteil, die Wissenschaft sollte auch zur Förderung gesellschaftlicher Ziele eingesetzt werden (Kapitel 3.1.1). Bei der Stringenz kann es überhaupt keinen Rabatt geben, selbstverständlich müssen wissenschaftliche Fragen mit der besten zur Verfügung stehenden Methodologie beantwortet werden, alles andere ist für Wissenschaftler unredlich; wie Weber dies für unsere Ohren recht gewöhnungsbedürftig formuliert, gehören Propheten und Demagogen „nicht auf das Katheder eines Hörsaals“ (Weber 1973e [1919]: 602 [551]).

Kritikwürdig ist meiner Meinung nach auf keinen Fall die komplexe Methodologie zur Ermittlung von Kausalitäten, die die Szientisten innerhalb der Politikwissenschaft von den Naturwissenschaften übernommen, weiterentwickelt oder teilweise selber entwickelt haben. Im Gegenteil, dieser methodologische Fortschritt ist zu begrüßen.

Kritisieren sollte man die Zielreduzierung, d.h. den kausalen und empirischen Reduktionismus oder die ausschließliche Konzentration auf das Kausaldenken (causal thinking), das dadurch zum Ausdruck kommt, dass nur die Methodologie, die die Ermittlung von Kausalitäten zwischen Ereignissen anstrebt, in Lehrbüchern überhaupt behandelt wird, wie dies im Methodenband der Oxforder Reihe geschehen ist (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Kurz: Nicht die Stringenz ist das Problem, sondern die ausschließliche Konzen-tration auf Kausalitäten: „Methodische Rigoristen, die aus wissenschaftstheoretischen Skrupeln weite Gebiete des Relevanten den Spekulanten überlassen, geraten paradoxerweise selbst in uferlose Spekulation, sowie sie das schmale Terrain, das sie empirisch beackerten, verlassen müssen. Abnehmende Relevanz von mit großem Aufwand erreichten empirischen Ergebnissen wird durch Aufbauschung der theoretischen Einleitung und der Zusammenfassung zu kompensieren versucht“ (von Beyme 2000 [1972]: 120-121).

E. Wissensgenerierung oder Weltveränderung sowie axiologische Grundlagen wissenschaftlicher Methodologie

Der Weg von der aristotelischen zur platonisch-galileischen Tradition und zwar speziell von einer praktischen Philosophie zu einer angewandten (nicht praktischen!) Sozialwissenschaft, wie dies auch heute noch innerhalb der empirisch orientierten Politikwissenschaft vertreten wird (Hardin 2011 [2009]), kann am besten anhand der methodologischen Arbeiten von Weber, einem Klassiker der Sozialwissenschaften, nachgezeichnet werden; dies wird im Folgenden unternommen.

Webers Primärinteresse galt empirischen Untersuchungen, daher beschäftigte er sich in seinen methodologischen Arbeiten auch intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen von Erfahrungswissenschaften. Dabei werden wichtige wissenschafts-theoretische Grundlagen formuliert, die bis heute innerhalb der empirischen, insbesondere szientistischen Politikwissenschaft als methodologische Grundprinzipien gelten. Folgende Problemkomplexe werden getrennt erörtert:

  • a. Wertproblematik: einführende Bemerkungen.
  • b. Sein-Sollen-Verhältnis oder Werturteilsfreiheit: Werturteilsfreiheit innerhalb
    empirischer Wissenschaften.
  • c. Angewandte statt praktischer Sozialwissenschaften: Umkehrung von Kausalsätzen oder Umwandlung von Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis).
  • d. Normative oder rein technische Methodologie innerhalb der szientistischen
    Politikwissenschaft.
  • e. Praktische Methodologie der phronetischen Perestroikans: angewandte Klugheit (applied phronesis), praktische Weisheit (practical wisdom), praktische Vernunft (practical reason).

a. Wertproblematik: einführende Bemerkungen

Sowohl die aristotelische als auch die platonisch-galileische Tradition gehen von einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen Sein und Sollen aus, auf deren Grundlage eine Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie vorgenommen wird; innerhalb der Sozialwissenschaften müsste dann zwischen einer theoretischen und praktischen Sozialwissenschaft unterschieden werden.

Eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste sozialwissenschaftliche Zeitschrift der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Den Unterschied zwischen Sozialwissenschaft auf der einen und Sozialpolitik auf der anderen Seite hat Weber in einem seiner berühmtesten und bis heute wirkungsvollen Artikel festgehalten: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaft-licher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (Weber 1973c [1904]). Dieser Artikel wurde von Weber geschrieben, als er neben Werner Sombart und Edgar Jaffé Herausgeber der oben genannten Zeitschrift wurde. Genauso wichtig sind für die hier relevanten Fragestellungen der Artikel „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ (Weber 1973d [1917]) und die Rede „Wissenschaft als Beruf“ (Weber 1973e [1919]).

Die Orientierung Webers am Geist des Neukantianismus und zwar der Südwestschule wird in einer Fußnote festgehalten: „Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt – ich nenne nur Windelband, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich Rickert – wird sofort bemerken, daß im Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist“ (Weber 1973c [1904]: 146). Damit wird auch der prinzipielle Unterschied, für den der Neukantianismus bekannt war, zwischen theoretischen und praktischen Erörterungen anerkannt, d.h., dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen Sein und Sollen gibt.

Weber geht es in seinem programmatischen Artikel vor allem um „Gemeinverständlichkeit“ und nicht um eine „systematische Untersuchung“ (Weber 1973c [1904]: 146). Wahrscheinlich verwendet er wegen der Gemeinverständlichkeit nicht die aristotelische oder kantische Begrifflichkeit, obwohl er an deren Tradition expressis verbis anschließt. Stattdessen gebraucht er die Begriffe „empirische Fachdisziplin“, „empirische Wissenschaft“ und „Erfahrungswissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 149, 151 und 152) auf der einen und „praktische Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie „Sozialpolitik“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165) auf der anderen Seite. Weiterhin spricht er einerseits vom „empirische[n] Sein“ und andererseits vom „(normativ) richtigen Sinn“ (Weber 1973e [1917]: 532 [494]).

Die erste Begrifflichkeit hat sich in den Sozialwissenschaften durchgesetzt, niemand spricht z.B. von theoretischer Politikwissenschaft, sondern nur von empirischer oder, mittlerweile immer seltener, von empirisch-analytischer Politikwissenschaft.

Eine praktische Politikwissenschaft etwa wird nicht zuletzt unter Hinweis auf die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft unter Rückgriff auf Weber insbesondere vom liberal-szientistischen Establishment abgelehnt. Wilhelm Hennis (1963) wollte unter Rückgriff auf die aristotelische Topik eine praktische Politikwissenschaft begründen, hat damit aber keine Wirkung erzielen können. Einige der Perestroikans versuchen nun wieder unter Rückgriff auf die aristotelische Methodik (angewandte Klugheit, applied phronesis) eine problemorientierte (problem-driven) Politikwissenschaft zu etablieren (Flyvbjerg 2001, Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).

Mit wissenschaftlichen Mitteln kann man nur Tatsachen begründen, Ideale gehören nicht dazu; Ersteres wird Weber zufolge innerhalb der Sozialwissenschaft, Letzteres innerhalb der Sozialpolitik oder der philosophischen Disziplinen behandelt. Wertdiskursen wird teilweise schlicht die Wissenschaftlichkeit abgesprochen: „Es wird also in den Spalten der Zeitschrift – speziell bei der Besprechung von Gesetzen – neben der Sozialwissenschaft – der denkenden Ordnung der Tatsachen – unvermeidlich auch die Sozialpolitik – die Darlegung von Idealen – zu Worte kommen. Aber: wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für ‚Wissenschaft‘ auszugeben, und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165).

Das letzte Zitat könnte in die Richtung interpretiert werden, dass normative Erörterungen nicht zur Wissenschaft gehören. Weber ist im Unterschied zu Popper kein kausaler, empirischer und methodologischer Reduktionist. Weber zufolge sind sowohl kausale als auch sinnverstehende sowie normative Diskurse wissenschaftlich nicht nur möglich, sondern auch erforderlich.

Weber wird auch deshalb ausführlich zitiert, weil er oft als Reduktionist wahrgenommen wird. Die Ungenauigkeiten sind dem pädagogischen Anlass („Gemeinverständlichkeit“, Weber 1973c [1904]: 146) seiner Beiträge geschuldet.

Empirie (Sein) und Werte (Sollen) sind heterogene Ebenen und müssen auch getrennt behandelt werden: „Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es ankommt, ist: daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andrerseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht“ (Weber 1973d [1917]: 501 [463]).

Weber fordert von Wissenschaftlern eine klare Trennung zwischen erstens logisch-analytischen Erörterungen, zweitens empirischen Analysen und drittens praktischen Wertungen, zwischen dem, „was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die Fremdheit der Sphären zugibt; in diesem Falle ist es das absolute Minimum des zu Fordernden“ (Weber 1973d [1917]: 490-491 [452-453]).

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Weber auch auf der methodischen Ebene zwischen Ideen im Sinne von Idealtypen und Ideen im Sinne von Idealen unterscheidet. Idealtypen sind „begriffliche Mittel zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit“ (Weber 1973c [1904]: 199), während Ideale eine „wertende Beurteilung der Wirklichkeit“ erlauben (Weber 1973c [1904]: 200). Idealtypen eignen sich als Analysewerkzeuge für empirische Untersuchungen, Ideale sind praktische (normative oder pragmatische) Normen oder Regeln und eignen sich für praktische Untersuchungen.

Während die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen von den Szientisten anerkannt wird, lehnen nicht nur die Perestroikans unter Hinweis auf den amerikanischen Pragmatismus und die Frankfurter Schule diese Trennung vehement ab.

Die Trennung zwischen Sein und Sollen oder zwischen Werten und Fakten wird von allen Antipositivisten oder Interpretivisten nicht nur von den Perestroikans abgelehnt: „But even more than this, the debate may well constitute a „myth“ of academic practice, serving to deflect collective attention away from an area of incommensurable values about which there is no consensus – that ‘knowledge’ is always and deeply ‘political’, tied to the humanity of its producers (the interpretative position), rather than able, somehow, to escape the bounds of the physical, social, and historical embeddedness of those producers (the methodological positivist position). Where researchers stand on this metaphysical issue is often indicate of the gestalt with which they approach their research and their lives“ (Yanow/Schwartz-Shea 2014a [2006]: 425).

Bei der Ablehnung dieser Trennung handelt es sich um pauschale Argumentationen, die die vielfältigen Beziehungen zwischen Werten und Aussagen nicht berücksichtigen. Die Wertgeladenheit (value laden) wird als ein unhintergehbares Faktum vorausgesetzt. Im Folgenden soll genau diese Vielfalt aufgezeigt werden.

b. Sein-Sollen-Verhältnis oder Werturteilsfreiheit: Werturteilsfreiheit innerhalb empirischer Wissenschaften

Welche Beziehungen gibt es zwischen Normierungen, Regulierungen (Weber spricht nicht von Regulierungen sondern von „Praxis Rezepte[n]“ (Weber 1973c [1904]: 149, siehe S. 152) und Werturteilen auf der einen und Tatsachenaussagen und Tatsachenurteilen auf der anderen Seite?

Es lassen sich mehrere mögliche Positionen von Werten im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen untersuchen. Hans Albert unterscheidet drei Fragenkomplexe: Wertbasis („inwieweit sozialwissenschaftlichen Aussagen Wertungen irgendwelcher Art zugrunde liegen müssen“), Wertungen im Objektbereich („inwieweit diese Wissenschaften Wertungen irgendwelcher Art zum Gegenstand ihrer Aussagen machen müssen“) und das eigentliche Werturteilsproblem („inwieweit sozialwissenschaftliche Aussagen selbst den Charakter von Werturteilen haben müssen“) (Albert 1967b [1965]: 189).

Der Werturteilsstreit ist seit mittlerweile Jahrzehnten durch ein Aneinandervorbeireden gekennzeichnet, wie dies nur selten innerhalb der Wissenschaft in so einer gravierenden Form anzutreffen ist. Dies liegt vor allem daran, dass verschiedene Fragestellungen vermischt werden. Daher werde ich im Folgenden sechs Fragenkomplexe unterscheiden und getrennt erörtern:

  • I. Wertbeziehung: Wertüberzeugungen des Wissenschaftlers, Beziehung des
    Wissenschaftlers zu seinem Forschungsobjekt
  • II. Der Wert oder die politische und öffentliche Relevanz der Wissenschaft
  • III. Werte für die Wissenschaft oder Kriterien besser Methodologien, die die Autorität der Wissenschaft gewährleisten
  • IV. Werte als Objekt der Wissenschaft (Werte im Objektbereich)
  • V. Wertbasis: Normen und Werte, die die wissenschaftlichen Ergebnisse beeinflussen
  • VI. Das Werturteilsproblem im engeren Sinne: Wertfreie empirische Wissenschaft ist möglich, empirische Begründung von Normen hingegen unmöglich, während praktische Begründungen möglich sind

I. Wertbeziehung: Wertüberzeugungen des Wissenschaftlers, Beziehung des Wissenschaftlers zu seinem Forschungsobjekt

Bei diesem Fragenkomplex geht es um Normen und Werte sowie wertende Stellungnahmen des Forschers zum Objekt seiner Untersuchung, welche die Problemauswahl bestimmen: „Daß die Wissenschaft 1. ‚wertvolle‘, d.h. logisch und sachlich gewertet richtige und 2. ‚wertvolle‘, d.h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine ‚Wertung‘ enthält, – solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten allen Ernstes als ‚Einwände‘ aufgetaucht“ (Weber 1973d [1917]: 499 [461]).

Hier spricht Weber nicht nur die persönlichen Werte der Forscher an und deren Motivation für die Stoffauswahl, sondern den Wert der Wissenschaft für die Gesellschaft, z.B. indem Forscher wertvolle und wichtige Resultate erzielen (siehe nächster Abschnitt).

Begeisterung, Berufung oder Leidenschaft (vocation, Wolin 1969) und damit auch die persönlichen Normen und Werte des Forschers für bestimmte Fragestellungen und Forschungsobjekte bilden in der Regel kein prinzipielles Problem für eine objektive und werturteilsfreie Wissenschaft oder können neutralisiert werden.

Weber sowie alle Forscher in der platonisch-galileischen Tradition sind der Auffassung, dass methodologisch oder handwerklich gute wissenschaftliche Arbeit erbracht werden kann, ohne dass eigene Wertungen die Ergebnisse der Arbeit von vornherein bestimmen. Dies wird nach wie vor von vielen Perestroikans nicht geteilt. Damit komme ich schon zum nächsten Punkt.

II. Der Wert oder die politische und öffentliche Relevanz der Wissenschaften

Die Relevanz oder der Wert der Wissenschaft bezieht sich auf die Funktion der Wissenschaft für gewisse Interessenziele außerwissenschaftlicher Art, sei es nun, dass diese Ziele vom Staat oder von gesellschaftlichen Akteuren an die Wissenschaft herangetragen werden (Kapitel 3.2.4). Weber hat gegen solche außerwissenschaftlichen Wünsche nichts einzuwenden, er achtet aber streng darauf, dass Wissenschaft keine endgültigen Antworten geben, sondern nur vielfältige Möglichkeiten erarbeiten kann: „Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen ‚letzten‘ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar; – 2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt. – Damit sind wir bei unserer ‚Sache‘“ (Weber 1973d [1917]: 499 [461]).

In diesem Unterabschnitt geht es vor allem darum, die Komplexität der Wertproblematik und des Sein-Sollen-Verhältnisses aufzuzeigen. Dieser Punkt, Relevanz wissenschaftlicher Ergebnisse, spielt eine zentrale Rolle im derzeitigen „Methodenstreit“. Die Forderung nach einer Abkehr von einer methodologischen Orientierung hin zu einer Problemorientierung (method-driven versus problem-driven, Shapiro 2005) oder weg vom Scholastizismus hin zu mehr relevanter Forschung (Mead 2010, Héretier 2016) wurde schon in einem anderen Abschnitt problematisiert (Kapitel 3.1.2, D, e). Hier soll nur festgehalten werden, dass Weber keinen Gegensatz zwischen methodologisch stringenter Vorgehensweise und Relevanz der Wissenschaft erkennen konnte, sondern im Gegenteil die Stringenz wissenschaftlicher Vorgehensweise die eigentliche Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft ausmacht. Die Aufgabe von Gurus, die Sinnfragen beantworten, lehnte er kategorisch ab: „Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: ‚Weg zum wahren Sein‘, ‚Weg zur wahren Kunst‘, ‚Weg zur wahren Natur‘, ‚Weg zum wahren Gott‘, ‚Weg zum wahren Glück‘ versunken sind? Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‚Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.‘ Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar“ (Weber 1973e [1919]: 598 [540]).

Ein Wissenschaftler darf weder Prophet noch Demagoge sein: „Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin von Seiten des Dozenten. Gerade dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich mit Politik befaßt, und dann am allerwenigsten. Denn praktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellung ist zweierlei. […] Verlangen kann man von ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß Tatsachenfeststellung, Feststellung mathema-tischer oder logischer Sachverhalte oder inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle, – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaal behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören. Dem Propheten wie dem Demagogen ist gesagt: ‚Gehe hinaus auf die Gassen und rede öffentlich‘. Da, heißt das, wo Kritik möglich ist“ (Weber 1973e [1919]: 601-602 [543-544]).

Weber geht es hier in erster Linie um die Rechtschaffenheit, die Differenzierungsfähigkeit sowie die Kenntnis der Grenzen des Wissenschaftlers, die mit den Grenzen der Methodologie zusammenhängen. Ich denke es geht zu weit, aus dieser Stelle und einigen anderen überpointierten Stellen praktisch-normative Fragestellungen innerhalb der Wissenschaft abzulehnen, daher habe ich schon auf die Bedeutung von normativen Fragestellungen innerhalb einer „praktische[n] Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie „Sozialpolitik“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165) hingewiesen. Hinzu kommt noch, wie ich zeigen werde, die Bedeutung der „Philosophischen Disziplinen“ (Weber 1973d [1917]: 508 [470]), deren Aufgabe es ist, sich mit Werten rational auseinanderzusetzen.

III. Werte für die Wissenschaft oder Kriterien, die die Autorität der Wissenschaft gewährleisten

Erstens geht es um endogene Werte, die die Wissenschaftskriterien und die von der Forschungsgemeinschaft approbierten Methodologien liefern. Diese Methodologien werden ständig weiterentwickelt, aufgrund ihrer Komplexität werden sie hier auf zehn methodologischen Ebenen eingeteilt und diskutiert.

Zweitens gibt es exogene Werte, das sind jene Umstände, unter denen eine optimale Entfaltung der Wissenschaft gegeben ist. Es handelt sich also um Fragen danach, wie mit Hilfe einer optimalen Forschungspolitik Wissenschaften am besten gedeihen können.

Auch hiermit haben Forscher aus der platonisch-galileischen Tradition, entgegen vielen anderslautenden Kritiken, mit Werten oder Zielen, erst recht nicht mit konkreten Regulierungen keine Probleme, genauso wenig wie mit dem nächsten Fragenkomplex.

IV. Werte als Objekt der Wissenschaft (Werte im Objektbereich)

Werte sind materielle und ideelle Güter sowie Normen, die ethisch oder ästhetisch bedeutsam sind und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein können. Dass politische Normierungen und Werte Objekt empirischer Untersuchungen werden können, ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Politikwissenschaft, die dies nicht praktiziert, ist irrelevant. Diesen Vorwurf, der sowohl von normativ-ontologischen als auch von kritischen Wissenschaftlern den Szientisten gemacht wurde, kann man nicht erheben. Wenn Normierungen und Regulierungen Objekt empirischer Untersuchung werden, dann verlieren sie den Normcharakter, wir haben es dann mit einem Sein und nicht mit einem Sollen zu tun: „Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als ‚seiend‘, nicht als ‚gültig‘ behandelt“ (Weber 1973e [1917]: 531 [493]).

Hier trifft Weber eine Unterscheidung, die auch später in der Logik unumstritten ist. Die Unterscheidung zwischen Normen auf der einen und Aussagen über Normen auf der anderen Seite geht nach Georg Henrik von Wright (1963: 105) auf Ingemar Hedenius zurück. Mit Hilfe der deontischen Logik kann man die formalen Beziehungen eines empirischen Diskurses untersuchen oder normieren, mit der Normenlogik dagegen den praktisch-normativen Diskurs. Von Wright hat in mehreren Artikeln dargelegt (die wichtigsten wurden von Hans Poser herausgegeben, siehe von Wright 1977a), dass es z.B. zwischen der Aussage oder dem empirisch-deskriptiven Satz „es ist verboten, zu töten“ und der Norm bzw. dem normativen Satz „du sollst nicht töten“ prinzipielle Unterschiede gibt. Ihm zufolge muss man zwischen einem „Sein-Sollen“ oder einer wahrheitsdefiniten deontischen Modallogik auf der einen Seite und einem „Tun-Sollen“ oder einer nicht wahrheitsdefiniten Normenlogik auf der anderen Seite unterscheiden. Ein „Sein-Sollen“ bezieht die deontischen Operatoren auf „Handlungssätze“ (genauer Handlungsaussagen), auf Sachverhalte oder Zustände, ein „Tun-Sollen“ auf „Handlungsverben“ oder auf Handlungen (von Wright 1977g [1974]: 120, Kapitel 3.7).

V. Wertbasis: Normen und Werte, die die wissenschaftlichen Ergebnisse beeinflussen

Der größte Dissens in Wertfragen zwischen Vertretern der platonisch-galileischen und wohlgemerkt nur einigen Vertretern der aristotelischen Tradition, aber auch Forschern, die sich dem amerikanischen Pragmatismus oder der Frankfurter Schule verpflichtet fühlen, besteht in Fragen der Wertbasis.

Vertreter der platonisch-galileischen Tradition sind der Meinung, dass eine objektive und wertfreie Wissenschaft möglich ist und dass Werte und Normen weder die Feststellung der Tatsachen noch die Interpretation der Daten notwendigerweise beeinflussen.

Die Perestroikans bestreiten dies mit Hinweis nicht nur auf die Frankfurter Schule und den amerikanischen Pragmatismus, sondern auch mit Hinweis auf Stephen Edelston Toulmin, dessen Buch Schram (2003) als eines der wichtigsten philosophischen Grundlagen der Perestroikans ansieht. Daher zitiere ich im Folgenden aus diesem Buch: „Even now it takes a sophisticated analysis to convince many behavioral scientists that their theories rest on value assumptions which, if not always explicit, are nonetheless unavoidable. (This is especially hard when the scientists are skilled in such formal, abstract methods of analysis as neoclassical equilibrium theory in economics, and rational choice theory in political science“ (Toulmin 2001: 205).

Problematisch ist eigentlich nur die allgemeine Behauptung, dass Normen und Werte oder die Wertbeziehung des Forschers zu seinem Gegenstand die wissenschaftlichen Ergebnisse notwendigerweise beeinflussen müssen oder dass erkenntnisleitende Interessen (Habermas 1968b) methodologisch nicht neutralisiert werden können und damit wissenschaftliche Ergebnisse notwendigerweise beeinflussen. Während dies die Szientisten meiner Meinung nach zu Recht verneinen oder methodologische Möglichkeiten erkennen, normative Einflüsse zu neutralisieren, wird dies nicht nur von den Perestroikans bejaht oder als nicht vermeidbar hingestellt.

VI. Das Werturteilsproblem im engeren Sinne: Wertfreie empirische Wissenschaft ist möglich, empirische Begründung von Normen hingegen unmöglich

Brauchen wir eine praktische Sozialwissenschaft, die selbst Werturteile über ihren Gegenstandsbereich, die soziale Wirklichkeit, formuliert? Oder wie Hans Albert formuliert: „inwieweit sozialwissenschaftliche Aussagen selbst den Charakter von Werturteilen haben müssen“ (Albert 1967b [1965]: 189).

Es handelt sich bei diesem Streit um die Frage nach dem Selbstverständnis der
Human-, Geistes- oder Sozialwissenschaften. Das Problem der wertenden Wissenschaft selbst läuft auf die Beantwortung einer normativen Frage hinaus, nämlich der Frage nach der Aufgabe der Wissenschaft. Wissenschaftler innerhalb der aristotelischen Tradition halten eine rationale Begründung von Normen und Regeln für möglich. Die Szientisten der platonisch-galileischen Tradition behaupten nicht zuletzt durch Bezugnahme auf Weber, dass mit sozialwissenschaftlichen Methoden eine Begründung von Normen und Werten nicht möglich ist, allein die Begründung von sozialtechnologischen Regeln wird bejaht. Von vielen, insbesondere empirisch orientierten Sozialwissenschaftlern wird die erste These unter Rückgriff auf Weber dahingehend verallgemeinert, dass man mit keinen wissenschaftlichen Werkzeugen Normen und Werte begründen kann. „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will“ (Weber 1973c [1904]: 151). „Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fachdisziplin muß, wie wir gleich vorweg feststellen wollen, diese Ansicht grundsätzlich ablehnen, denn wir sind der Meinung, dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“ (Weber 1973c [1904]: 149, vgl. S. 152).

Weber wird mit Hinweis auf diese Stellen völlig zu Unrecht als jemand ins Feld geführt, der normative Diskurse innerhalb der Wissenschaften ablehnt. Es geht hier, wenn man den Kontext des Artikels sowie der konkreten Zitate beachtet, expressis verbis nur um die Grenzen einer „empirischen Wissenschaft“ und nicht um Grenzen der Wissenschaften schlechthin. Weber verwendet, wie oben gezeigt, für eine normative Wissenschaft die Begriffe „praktische Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie „Sozialpolitik“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165).

Hier ist es wichtig hervorzuheben, dass eine Erfahrungswissenschaft oder empirische Wissenschaft die Begründung von Werten nicht vornehmen kann. Allerdings sieht auch Weber, dass normative Fragestellungen auch innerhalb der Wissenschaften erörtert werden können, und spricht von „Philosophischen Disziplinen“ (Weber 1973d [1917]: 508 [470]). Möglich ist etwa die Prüfung innerer Kohärenz von Normierungen und Regulierungen: „Diese Kritik [wissenschaftliche Behandlung von Werturteilen] freilich kann nur dialektischen Charakter haben, d.h. sie kann nur eine formal-logische Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten sein“ (Weber 1973c [1904]: 151).

Weber formuliert selber mehrere mögliche diesbezügliche Fragestellungen einer praktischen Sozialwissenschaft: „Der Sinn von Diskussionen über praktische Wertungen (der an der Diskussion Beteiligten selbst) kann also nur sein:
a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich ‚konsequenten‘ Wertaxiome, von
denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. […]
b) Die Deduktion der ‚Konsequenzen‘ für die wertende Stellungnahme, welche aus bestimmten Wertaxiomen folgen würden, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte. […]
c) Die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung
einer bestimmten praktisch werdenden Stellungnahme zu einem Problem haben müßte: 1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche Mittel, – 2. infolge der Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge. Diese rein empirische Feststellung […]
d) neue Wertaxiome und daraus folgende Postulate vertreten, welche der Vertreter eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eigenen Postulats mit jenen anderen entweder 1. prinzipiell oder 2. infolge der praktischen Konsequenzen, also: sinnhaft oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus c“ (Weber 1973d [1917]: 510-511 [472-473]).

Philosophische Disziplinen können den Sinn von Wertungen erörtern sowie deren sinnhafte Geltungssphären abgrenzen. Erfahrungswissenschaften hingegen können nur die Mittel zur Durchsetzung von Zwecken ermitteln sowie auf mögliche Folgen und Nebenfolgen hinweisen: „Philosophische Disziplinen können darüber hinaus mit ihren Denkmitteln den ‚Sinn‘ der Wertungen, also ihre letzte sinnhafte Struktur und ihre sinnhaften Konsequenzen ermitteln, ihnen also den ‚Ort‘ innerhalb der Gesamtheit der überhaupt möglichen ‚letzten‘ Werte anweisen und ihre sinnhaften Geltungssphären abgrenzen. Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte. Am allerwenigsten kann diese Wahl unsere streng empirische Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können“ (Weber1973d [1917]: 508 [470]).

Die Unmöglichkeit bezieht sich wohlgemerkt nur darauf, mit Mitteln der empirischen Sozialwissenschaft Normen und Werte zu begründen (Weber 1973c [1904], Weber 1973d [1917], Acham 1983: 230 ff., Albert 1967b [1965], Albert 1971, Stegmüller 1979: 177 ff., Krobath 2009: 193 ff.), nicht aber eine generelle Unmöglichkeit eines rationalen oder wissenschaftlichen, praktischen (normativen, pragmatischen oder technischen) Diskurses. Im Gegenteil, solche Diskurse sind erstens wünschenswert und notwendig als auch methodologisch machbar, da es keine normative Kraft des Faktischen gibt, vielmehr sämtliche Forderungen der Legitimierung und damit eines praktischen Diskurses bedürfen: „Eine normative Kraft des Faktischen gibt es jedoch nicht. Tendenzen und Entwicklungen in der Gesellschaft können als solche niemals Pflichten verbindlich machen oder Handlungen rechtfertigen. Die Faktizität von Forderungen, auch wenn sie vom modernen Götzen Gesellschaft erhoben werden, kann für sich allein niemals Legitimität von Normen begründen. Denn Forderungen sind ohne Ausnahme, von welcher Instanz sie auch erhoben werden mögen, selbst der Normierung und der Legitimierung bedürftig“ (Wieland 1986: 136).

Wie man sieht, setzt sich Weber sehr differenziert mit der Wertproblematik auseinander. Einflussreich werden aber insbesondere seine Überlegungen über die Grenzen empirischer Wissenschaft. Dies ist deshalb der Fall, weil sich hauptsächlich diejenigen Politikwissenschaftler, die in der platonisch-galileischen Tradition stehen, auch heute noch als empirische (Sozial)Wissenschaftler verstehen.

Die Möglichkeiten einer praktischen Sozialwissenschaft oder Sozialpolitik, die Weber durchaus sieht und für berechtigt hält, werden später vor allem von Politikwissenschaftlern, die sich ausdrücklich auf Weber berufen, nicht weiterverfolgt, genauso wie es mit seinen Überlegungen über Sinnverstehen geschieht. Sinnstiftung, Sinndeutung oder Sinnverstehen werden heute vor allem von Interpretivisten weiterverfolgt. Allein Kausalanalysen stehen bei szientistischen Wissenschaftlern im Vordergrund. Damit werden normative (ethisch-moralische) Fragestellungen innerhalb eines Wertdiskurses, z.B. ob Solidarität innerhalb einer Gesellschaft richtig oder falsch ist oder was gerecht oder ungerecht ist, überhaupt nicht behandelt. Dies gilt auch für pragmatische Fragestellungen innerhalb eines Zieldiskurses, z.B. welche Strategien zur Umsetzung von Solidarität klug oder unklug, wünschenswert oder unerwünscht sind. Allein technische Fragestellungen innerhalb eines Mitteldiskurses werden behandelt, z.B. wie man effizient Armut in einer ganz bestimmten Lebenslage vermeiden bzw. beheben kann (Kapitel 3.1.2, E, e).

Die Wertproblematik wird von Weber und den Naturalisten sehr differenziert
behandelt, während die Kritik der Perestroikans sehr pauschal ist und verschiedene Fragestellungen miteinander vermischt.

In dieser Arbeit werde ich auf zehn methodologischen Ebenen nachweisen, warum eine Trennung zwischen Sein und Sollen, genauer zwischen empirischer und praktischer Politikwissenschaft notwendig ist.

Im folgenden Unterabschnitt wird nun erörtert, wie man mit Kausalanalysen zwar keine praktischen, aber immerhin technische Mitteldiskurse nach Ansicht der empirisch orientierten Politikwissenschaftler führen könnte.

c. Angewandte nicht praktische Sozialwissenschaften: Umwandlung von Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis)

Die Reduzierung von praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) auf technische Diskurse innerhalb der platonisch-galileischen Tradition ist nur unter zwei wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen möglich, die leider innerhalb der methodologischen Literatur zwar angenommen, aber selten bis nie thematisiert werden. Einmal geht es um die Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung und zum Zweiten um Umkehrungen von Kausalsätzen oder die Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas. Mit Anwendung meint man die Umkehr von Kausalsätzen, empirisch ermittelte Kausalitäten in Form von Wenn-dann-Aussagen werden in technische Regeln umgewandelt. Diese Zusammenhänge sollen nun zuerst detaillierter geschildert werden.

I. Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung

Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des kausalen Reduktionismus wurden zuerst im 17. Jahrhundert formuliert, daher ist ein Rückblick auf die Entstehung des galileischen Denkens im 17. Jahrhundert notwendig und zwar speziell auf die wissenschaftstheoretischen Einsichten Francis Bacons.

Bacon behauptete, dass das aristotelische Organum oder die dort vorgestellten Werkzeuge überholt seien. Daher hat er neue Werkzeuge vorgeschlagen und ein „Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]) geschrieben. In Form von Aphorismen hat er seine Position geschildert und vor allem ein methodologisches Programm skizziert, das zukünftige Wissenschaftler eigentlich noch beweisen und damit mit Leben füllen sollten.

Francis Bacon hat damit den Fortschrittsgedanken nicht nur propagiert, sondern diesen auch erstmals in großem Maßstab umgesetzt. Er erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit: Ein Forscher stellt Thesen auf und ist sich sicher, dass zukünftige Forscher oder Forschergenerationen irgendwann mal mühelos die Beweise nachliefern können. Bacon liefert für seine Thesen auch keine Beweise, aber immerhin formuliert er wichtige Voraussetzungen des Kausaldenkens.

Der Untertitel seines „Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]) lautet: „Aphorismi de Interpretatione Naturae et Regno Homini“. Das Wort „Interpretatione“ kann man nicht im heutigen sehr engen Verständnis von hermeneutisch-sprachlicher Interpretation übersetzen, sondern beinhaltet neben Auslegung (Interpretation) auch Erklärung, Deutung, Beurteilung (siehe Lateinisches Wörterbuch de.pons.com), kurz es geht um Natur- und Welterkenntnis oder -verständnis (Interpretatione) auf der einen und menschlicher Natur- oder Weltbeherrschung (Regno Homini) auf der anderen Seite.

Kausalität kann nur dann die Grundlage sowohl von Welterkenntnis als auch Weltveränderung bilden, wenn beide eng miteinander verknüpft sind, genauer gesagt, wenn es eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung gibt. Diese Äquivalenz wird vorausgesetzt und leider heute in der Politikwissenschaft oder in anderen Sozialwissenschaften überhaupt nicht thematisiert. Auch im oben erwähnten Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) wird es nicht getan. Bacon war dieser Zusammenhang bewusst: „Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der Ausführung als Regel“ (Bacon 1990 [1620]: 81, 3. Aphorismus, Teilband 1).

  • „Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur; et quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est“ (Bacon 1990 [1620]: 80, 3. Aphorismus, Teilband 1).
  • „Human knowledge and human power come to the same thing, because ignorance of cause frustrates effect. For Nature is conquered only by obedience; and that which in thought is a cause, is like a rule in practice“ (Bacon 2000 [1620]: 33, vgl. Aphorismus 129).

Die Formulierung „ergänzen sich“ für „in idem coincidunt“ ist missverständlich, die von Wolfgang Krohn im Anschluss an Farrington vorgeschlagene deutsche Übersetzung „sie treffen in demselben zusammen“ trifft die Sache erst genau: „The twin goals, human science and human power, come in the end together“ (Übersetzung von B. Farrington, zitiert nach Krohn 1990: XVII).

Bacon stellt hier einen neuen Zusammenhang zwischen Naturkausalität und Handelsregel her: „Der zentrale Aspekt ist die Neuordnung der Beziehung zwischen den Begriffen der Naturkausalität und der Handlungsregel. Bacon stellt die Äquivalenz auf, dass die Erkenntnis eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs in der Natur als Regel der Hervorbringung einer Wirkung dienen kann (a3) und umgekehrt, dass die Hervorbringung eines Effektes durch eine Regel die Angabe einer Kausalität ermöglicht (b4)“ (Krohn 1990: XVI). Bei dieser Äquivalenz handelt es sich um eine „Transmissionsregel vom Wissen über die Natur zur Handlungsregel in der Natur“ (Kornwachs 2013: 42). Mario Bunge nennt dies einen pragmatischen Syllogismus (Bunge 1967b: 132-139). Wichtig ist, dass beides, der pragmatische Syllogismus wie die Analogie, formal nicht gültig ist. Logisch gesehen handelt es sich bei der Äquivalenz um eine bikonditionale Beziehung oder anders gesagt um eine Genau-dann-wenn-Beziehung (gdw. bedeutet: A genau dann, wenn B), die einmal eine notwendige Bedingung (wenn A, dann B) und gleichzeitig eine hinreichende Bedingung (wenn B, dann A) formuliert (im 13. Schaubild, werden die logischen Beziehungen übersichtlich festgehalten).

In der kausalistischen Terminologie von heute würde man wie folgt formulieren: Theorie und Praxis sind dasselbe oder treffen in demselben zusammen, Aussagen, die in der Theorie wahr sind, sind in der Praxis effizient.

Matthias Kortmann und Klaus Schubert sprechen auf der einen Seite von „kausalen Aussagen“, die mit Hilfe von empirischer Forschung generiert werden und dann durch Umkehrung in „zweckorientierte um-zu-Aussagen“ umgewandelt werden (Kortmann/Schubert 2006: 48). Damit wird die Vorgehensweise angedeutet, wie man empirisch generiertes Wissen in sozialtechnologische Regulierungen umwandeln kann. Dies wird nun im nächsten Abschnitt behandelt.

II. Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas

Weber ist strikt gegen eine „unzulässige Umdeutung von Tatsachen der Seinssphäre in Normen der Wertungssphäre“ (Weber 1973d [1917]: 539 [501]). Legitimitätsfragen innerhalb von Wertdiskursen und Zieldiskursen können mit Hilfe einer empirischen Methodologie nicht erörtert werden. Allerdings kann man ihm zufolge durch „einfache Umkehrungen von Kausalsätzen“ technische Mittel, Weber spricht von „Mittel“ oder von „Maßregel“, die moderne Bezeichnung lautet sozialtechnologische oder technische Regeln oder Regulierungen innerhalb eines Mitteldiskurses begründen, die für ein erfolgsorientiertes (zweckrationales) Handeln nötig sind: „Es bleibt eben dabei: daß die ökonomische Theorie absolut gar nichts andres aussagen kann als: daß für den gegebenen technischen Zweck x die Maßregel y das allein oder das neben y1, y2 geeignete Mittel sei, daß im letzteren Fall zwischen y, y1, y2 die und die Unterschiede und Wirkungsweise und – gegebenenfalls – der Rationalität bestehen, daß ihre Anwendung und also die Erreichung des Zweckes x die ‚Nebenfolgen‘ z, z1, z2 mit in den Kauf zu nehmen gebietet. Dass alles sind einfache Umkehrungen von Kausalsätzen und sowie sich daran ‚Wertungen‘ knüpfen lassen, sind sie ausschließlich solche des Rationalitätsgrades einer vorgestellten Handlung. Die Wertungen sind dann und nur dann eindeutig, wenn der ökonomische Zweck und die sozialen Struktur-Bedingungen fest gegeben sind und nur zwischen mehreren ökonomischen Mitteln zu wählen ist, und wenn diese überdies ausschließlich in Bezug auf die Sicherheit, Schnelligkeit und quantitative Ergiebigkeit des Erfolges verschieden, in jeder anderen für menschliche Interessen möglicherweise wichtigen Hinsicht aber völlig identisch funktionieren“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491], vgl. auch S. 517 [479], S. 538 [500] sowie S. 526 [488]).

Nur Mitteldiskurse bei vorliegendem Zweck sind innerhalb einer Erfahrungswissenschaft oder empirischen Wissenschaft möglich: „Nur wo bei einem absolut eindeutig gegebenen Zweck nach dem dafür geeigneten Mittel gefragt wird, handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidende Frage. Der Satz: x ist das einzige Mittel für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x folgt y“ (Weber 1973d [1917]: 517 [479], vgl. auch S. 529 [491], 538 [500] sowie 526 [488]).

Wenn es um Kausalanalysen geht (notabene nur dort!), folgt Weber den von Bacon formulierten Grundsätzen und ist der Meinung, dass technische Regulierungen mittels Umkehrung von Kausalsätzen erbracht werden können. Genauso wie später auch Karl Raimund Popper: „Wir sehen also, daß, vom logischen Standpunkt betrachtet, die Prognosededuktion und die technische Anwendung lediglich eine Art Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas darstellen“ (Popper 1984 [1972]: 367).

Für die Politikwissenschaft im Hinblick vor allem auf die Bedeutung der Praxis hat dies Adrienne Héretier wie folgt formuliert: „In other words, if theory guided hypotheses are not logically consistent, the causal relations derived from them would be flawed. If in turn, policy recommendations would derived from latter, the policy recommendations would be detrimental rather than beneficial“ (Héretier 2016: 23).

Heute kann man aufgrund der Entwicklung von Logik und Sprachphilosophie wesentlich gründlicher und differenzierter formulieren, was Weber und Popper damit meinten. Der erste Satz ist eine Aussage der Form, wenn x, dann y. Bei der Umkehrung handelt es sich um eine (technische) Regel der Form, wenn du y erreichen willst, dann tue x. Es gibt nur eine pragmatische, aber keine logische Beziehung zwischen gesetzesartigen oder regulativen Aussagen oder Propositionen, z.B. wenn A, dann B, und dazugehörigen (technischen) Regeln oder Anweisungen, z.B. B per A, wenn du B erreichen willst, dann versuche A (Kornwachs 2008: 139 und Kornwachs 2012: 64 ff.). Es gibt einen Unterschied „zwischen den Aussagen A und B und der zugehörigen Handlung A oder eines realen Zustands B, der durch die Handlung A ins Werk gesetzt wird“ (Kornwachs 2012: 65). Diese Notation übernimmt Kornwachs von Mario Bunge (1967b). „Der pragmatische Syllogismus ist ein Ergebnis der pragmatischen Interpretation einer deduktiv-nomologischen Erklärung und deren Verknüpfung mit einem normativen Satz, z.B. dass B gewünscht werde. Bunge nennt diesen Ausdruck zuweilen technologische Regel“ (Kornwachs 2012: 67). Das Unterkapitel von Mario Bunge lautet „Technological Rule“ (Bunge 1967b: 132-139). Bunge verwendet die Ausdrücke „nomological statement“ (nomologische Aussage) und „nomopragmatic statement“. Die Übersetzung Letzterer ist nicht so einfach, eine wörtliche Übersetzung „nomopragmatische Aussage“ ist aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll, eher schon „technologische Regel“, wie die Kapitelüberschrift nahelegt (Bunge 1967b: 132-139). Die prinzipielle Kritik daran, die erstaunlicherweise insbesondere von der Technikphilosophie kommt, wird im nächsten Abschnitt wesentlich detaillierter formuliert (13. Schaubild).

Warum erkennen Kausalisten nicht, dass die oben geschilderte Äquivalenz notwendig ist oder vorausgesetzt werden muss, wenn man Umkehrungen von Kausalsätzen vornimmt?

Die Antwort lautet, dass alle, die Weber und Popper folgen, wie z.B. Hans Albert, fälschlicherweise annehmen, dass es sich bei der Umkehrung von Kausalsätzen um eine tautologische Transformation handelt, die keine zusätzlichen Prämissen braucht: „Um ein theoretisches in ein technologisches System zu transformieren, bedarf es bestimmter logischer Operationen. Da es sich um eine tautologische Transformation des betreffenden Systems handelt, benötigt man keine zusätzlichen Prämissen. Der Informationsgehalt eines technologischen Systems geht in keiner Weise über den seiner theoretischen Grundlage hinaus“ (Albert 1967b [1965]: 192). Diese Annahme ist auch aus noch anderen Gründen, wie oben dargelegt, nicht haltbar.

Bacon hat Recht, ohne die Annahme einer Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung ist eine Transformation nicht möglich. Nur unter dieser Voraussetzung kann man durch „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491] oder durch „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]: 367) Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis), d.h. in Sozialtechnologie, umwandeln.

Ohne die versteckten Annahmen (hidden assumptions) der platonisch-galileischen Tradition zu thematisieren, kann man weder die Missverständnisse im „Methoden-streit“ klären noch den Unterschied zwischen angewandter und praktischer Wissenschaft verstehen. Daher werden die drei wichtigsten versteckten Annahmen hier nochmals angeführt:

  • 1. Kausalität als unsichtbare und verborgene Kraft, die die Welt im Innersten
    zusammenhält
  • 2. Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung
  • 3. Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen
    Erklärungsschemas sind tautologische Transformationen.

Hinzu kommt als sichtbare Komponente die Bevorzugung einer kausalen und empirischen Vorgehensweise sowie einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie.

III. Angewandte (applied) statt praktischer (practical) Sozialwissenschaften

Die Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung und damit eine Äquivalenz zwischen Aussagen und Regeln führt aber auch zur Einteilung in empirische (theoretische) und angewandte Wissenschaften. Innerhalb Ersterer werden Kausalitäten ermittelt, die angewandten Wissenschaften müssen diese nur noch umkehren. Damit können Anweisungen oder Ratschläge als Teil einer wohlgemerkt angewandten (nicht praktischen) Politikwissenschaft quasi nebenbei formuliert werden. Dies ist deshalb möglich, weil mit der Ermittlung von Kausalitäten die Welt erstens erkannt wird und zweitens verändert werden kann.

Dabei werden die ethisch-normativen sowie pragmatischen Dimensionen überhaupt nicht thematisiert, wie dies seit der Antike in der praktischen Philosophie gemacht wurde. Allein eine „halbierte“, „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer 1967 [1947]) ist hier am Werk. Nur ein technisches Sollen kann der platonisch-galileischen Tradition folgend wissenschaftlich begründet werden. Weder ein pragmatisches noch ein normatives Sollen wird auch nur angestrebt. Normative oder ethisch-moralische Fragen werden ausdrücklich ausgenommen. Normative Diskurse sind nur insoweit ein Anliegen der Wissenschaften, sofern es um die Erörterung von Mitteln geht. Dies wird auch deutlich von den Adepten anerkannt: „Man darf die Relevanz eines technologischen Systems nicht mit einer Legitimation für seine praktische Anwen-dung verwechseln“ (Albert 1967b [1965]: 193).

Die Kritik der Frankfurter Schule wird nach wie vor geteilt, so spricht Bo Rothstein davon, dass diese kausale und empiristische Orientierung nur „technically competent barbarians“ (Rothstein 2005) hervorbringe. Dies schießt nun über das Ziel hinaus, weil es auch sichtbare Annahmen, z.B. liberale und utilitaristische Prinzipien, gibt, die die normativen Werte enthalten, für die dann etwa mittels des normativen Rational-Choice-Ansatzes Mittel formuliert werden (Kapitel 3.1.1, D, e). Die normativen (liberalen und utilitaristischen) Werte, die eigentlich der Rationalwahlansatz voraussetzt, können allerdings nicht mit demselben Rationalwahlansatz legitimiert werden.

Mit Hilfe von „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529), „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1973]: 367) oder des pragmatischen Syllogismus (Bunge 1967b: 134) wird von empirischen Aussagen mittels Analogie (notabene: mit einer formal nicht gültigen Argumentationsweise) auf angewandte Regeln geschlossen und damit werden Ergebnisse der empirischen Wissenschaften in Ergebnisse für angewandte Wissenschaften umgewandelt (13. Schaubild).

Entscheidend ist, dass damit keine genuin praktische Methodologie mehr notwendig ist. Dieser methodologische Reduktionismus wird, wie ich im nächsten Abschnitt genauer nachweisen werde, auch heute noch innerhalb der platonisch-galileischen Tradition angenommen. Wenn man von angewandten Wissenschaften spricht, dann wird damit keine eigenständige Methodologie propagiert, im Gegenteil, das Adjektiv „empirisch“ weist oft noch nachdrücklich darauf hin, dass man dieselbe Methodologie wie empirische Wissenschaften benutzt. Der Unterschied liegt darin, dass man möglichst in der Praxis schnell umsetzbare Fragestellungen behandelt.

Der Einfluss Webers und Poppers auf die Anwendung von Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis), d.h. Umwandlung von empirischem Wissen in angewandte Praxis, ist nicht nur enorm, sondern mittlerweile auch so selbstverständlich, dass Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas heute zu den implizierten und unausgesprochenen Voraussetzungen (hidden and tacit assumptions) gehören, die sehr selten als solche angegeben oder gar thematisiert werden. Popper hat im Unterschied zu Weber auch die praktischen Aspekte genauer untersucht und über die Erfordernisse einer angewandten Sozialtechnologie publiziert (Popper 1980a [1944], 1980b [1944] und 2003 [1957]).

Die Umwandlung der Kausalitäten ist dabei nicht so trivial, wie es den Anschein hat, da es sich ja angeblich um tautologische Umwandlungen handelt. Die Formulierung von sozialtechnologischen Regulierungen erfordert dann doch einige „Phantasieleistung“, wie auch Hans Albert zugibt: „Was sich logisch als eine tautologische Transformation theoretischer in relevante technologische Aussagen darstellt, ist also praktisch vielfach eine beachtliche Phantasieleistung. Die Begründung für diesen an sich seltsam anmutenden Tatbestand liegt darin, daß auch die Auffassung bestimmter logischer Zusammenhänge, Ableitungsmöglichkeiten und Konsequenzen in wichtigen Fällen nicht mechanisierbar ist“ (Albert 1967b [1965]: 197).

Weder die Perestroikans noch ihre Kontrahenten erörtern in den oben genannten Büchern diese Zusammenhänge (eigentlich hätten diese Zusammenhänge in dem Beitrag „Normative Methodology“ von Russel Hardin (2011 [2009]) auftauchen müssen, siehe nächster Unterabschnitt).

Im Folgenden werden zwei Zitate aus Lehrbüchern für Politikwissenschaftler gebracht, die als Ausnahmen die genannte Regel bestätigen, da sie zumindest darauf hinweisen, dass eine Umwandlung gemacht wird, auch wenn weder die Berechtigung derselben noch das Wie thematisiert werden:

„Der Wertverwirklichung kann auch rein empirisches Zusammenhangswissen dienen. Zusammenhänge erfassende Wenn/Dann-Aussagen lassen sich nämlich ‚normativ aufladen‘ und dadurch in praktisch nützliche Handlungsanweisungen umsetzen: Wird im Rahmen eines normativen Arguments eine der Komponenten einer empirisch wahren Wenn/Dann-Aussage als gesollt behauptet, so läßt sich der Informationsgehalt jener Wenn/Dann-Aussage zur Verwirklichung des Gesollten nutzen, indem man die andere Komponente als Gebot formuliert“ (Patzelt 1986: 204).

„Die Entwicklung von Handlungsanweisungen ist ein Bestandteil der Politikfeldanalyse. Wie die empirische Forschung zielt diese zunächst auf die Entwicklung von kausalen wenn-dann-Aussagen; diese werden jedoch ‚normativ aufgeladen‘ (Patzelt 1986: 204) und stellen dadurch einen Bezug zur politischen Praxis her. Dieses geschieht dadurch, dass der Wenn-Bestandteil der kausalen Aussage als Handlungsanweisung formuliert, während der Dann-Bestandteil als erstrebender Zustand ausgedrückt wird. Somit werden die kausalen Aussagen im Ergebnis also zu zweckorientierten um-zu-Aussagen umgeformt (Schubert 1995: 283 ff.)“ (Kortmann/Schubert 2006: 47-48, siehe 2. Schaubild).

d. Normative Rationalwahltheorie (Normative Rational Choice Theory) als normativ-praktische Methodologie der Szientisten

Nachdem die versteckten wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen einer angewandten Politikwissenschaft (applied political science) erörtert wurden, wird im Folgenden der Beitrag „Normative Methodology“ von Russel Hardin (2011 [2009]) daraufhin untersucht, wie praktisches Wissen innerhalb der platonisch-galileischen Tradition generiert werden kann. Dies ist der einzige Beitrag innerhalb des Bandes „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]), der sich mit praktisch-normativer Methodologie auseinandersetzt. Hier sollen erst einmal nur die Ziele geschildert werden, die Rationalwahl (rational choice) wird dann später ausführlich erörtert (Kapitel 3.10).

Auch in der „normativen Methodologie“ der platonisch-galileischen Tradition beansprucht der kausale Reduktionismus in Form einer normativen Rational-wahltheorie (rational-choice normative theory) die Alleinherrschaft. Diese Theorie wird geradezu als einzig brauchbare normative Methodologie und Theorie (beides wird bei ihm gleichgesetzt, Kapitel 3.10) hingestellt, alle anderen normativen Theorien werden sogar als esoterisch und irrelevant abgekanzelt: „Over the past four decades, rational-choice normative theory, the third major branch of contemporary normative methodology [Konflikttheorien und Kontraktualismus sind die beiden anderen], has become a vast program that increasingly leaves the other two branches behind in its scope and sheer quantity of work. This development is made more readily possible by the clarity and systematic structure of game theory and game-theoretic rational choice. Game theory and rational choice methodology are very well laid out and easily put to use. Perhaps at least partially because of that fact, rational choice methods are taking over normative theorizing and theories […]. Two of the methods, shared-value and contractarian arguments, threaten to be narrowed down to use by academic moral theorists with little resonance beyond that narrow community. Any method that becomes as esoteric as much of contemporary moral theory has become is apt to be ignored and even dismissed by the overwhelming majority of social theorists as irrelevant“ (Hardin 2011 [2009]: 99).

Quantitative Analysen, die die Einschätzung über die Verbreitung der normativen Rationalwahltheorie belegen, werden weder in diesem Artikel geliefert noch wird auf externe Arbeiten verwiesen. Es ist wichtig festzuhalten, dass in dem Methodenband „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) dieser Ansatz als einzig zukunftsträchtiger hingestellt wird und andere Ansätze schlicht ignoriert werden. Weitaus wichtiger ist zweitens, ob diese normative Rationalwahltheorie auch eine adäquate normative (praktische) Methodologie abgeben kann.

Welche Ziele verfolgt man mit dieser Theorie, die gleichzeitig auch eine Methodologie sein soll? Der Rationalwahlansatz dient dazu, die Welt empirisch mittels Wenn-dann-Aussagen zu erklären, aber auch die Welt mittels sozialtechnologischer Regeln zu verändern. Empirische Politikwissenschaftler ermitteln die unsichtbaren Kausalitäten, die sozialtechnologischen Konsequenzen können dann innerhalb einer angewandten Politikwissenschaft durch Umwandeln von Kausalsätzen, wie im oberen Unterabschnitt erläutert, erstellt werden.

Wichtig für diese Arbeit ist nun nicht, wie man mit Hilfe der Spieltheorie sozialtechnologische Regulierungen formuliert. Hardin zufolge ist dies relativ einfach: „Game theory and rational choice methodology are very well laid out and easily put to use“ (Hardin 2011 [2009]: 99, Kapitel 3.10). Von Bedeutung ist der Charakter eines praktischen Diskurses, der mit Hilfe dieses methodischen Ansatzes arbeitet: Beim normativen Rationalwahlansatz handelt es sich um einen technischen Mitteldiskurs (9. Schaubild und 10. Schaubild), der jedwedes legitimatorische Ziel von vornherein ablehnt und auch gar nicht leisten kann. Alle Werte, Normen und Ziele, es handelt sich in der Regel um liberale und utilitaristische Wertvorstellungen, können nicht begründet werden, sondern werden genauso wie andere ontologische und epistemologische (gnosiologische) Vorstellungen schlicht als Annahmen voraus-gesetzt und behandelt. Anders ausgedrückt, es geht nur um technische Mitteldiskurse, jede legitimatorische Absicht wird schlicht in die zugrundeliegenden ontologischen (Individualismus, Selbstinteresse) und ethischen Annahmen (Utilitarismus) verbannt. Diese Voraussetzungen kann man nun nicht mit dem Rationalwahlansatz begründen.

e. Praktische Methodologie der phronetischen Perestroikans: angewandte Klugheit (applied phronesis), praktische Weisheit (practical wisdom), praktische Vernunft (practical reason)

Flyvbjerg und die phronetischen Perestroikans wollen unter Rückgriff auf die aristotelische Phronesis und dem Einbezug von Machtfragen eine bessere und vor allem eine relevante Alternative zur gegenwärtigen Sozial- und Politikwissenschaft etablieren, eine phronetische oder echte Wissenschaft (real science); damit wird die Sozialwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften orientiert, als unecht abgekanzelt: „MSSM [gemeint ist das Buch von Flyvbjerg (2001)] reinterpreted the Aristotelian concept of phronesis to include issues of power and explained that building on this new version of phronesis is the best bet for the relevance of the social sciences in society […]. The book provided a thorough analysis of how its alternative social science is dedicated to enhancing a socially relevant form of knowledge, that is, ‘phronesis’ (practical wisdom on how to address and act on social problems in a particular context)“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 1).

Sozial relevant sind sicherlich auch die Kausalitäten, die Sozialwissenschaftler ermitteln können. Die berechtigte Kritik der Frankfurter Schule oder der konservativen, normativ-ontologischen Theorie ist ja, dass man nicht nur ein technisches, angewandtes Wissen generieren muss, sondern dass es auch Aufgabe der Wissenschaften sein sollte, dieses Wissen zu legitimieren. Können die echten oder phronetischen Sozialwissenschaftler dieses Ziel erreichen?

Auch mit der angewandten Klugheit reicht es nur für die Generierung von technischem Wissen. Ein pragmatischer Zieldiskurs kann ebenso wenig geführt werden. Zwar lautet das allgemeine Ziel: „[T]o make the world a better place“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11). Dieses Ziel haben ähnlich schon Bacon sowie die Pioniere der amerikanischen Politikwissenschaft formuliert (Kapitel 3.1.1, A).

Wer weiß nun, was besser ist, und vor allem wer begründet dies und wie wird dies begründet. Der echte Sozialwissenschaftler weiß, was besser ist; woher und wie er dieses Wissen ermittelt, wird leider nicht thematisiert: Eine praktische Wissenschaft muss aber genau diese Frage nicht nur beantworten, sondern dies auch begründen. Hier bieten die Perestroikans eigentlich einmal die moralischen Einstellungen der forschenden Wissenschaftler oder der betroffenen Gruppen: „[W]here ‘better’ is defined by the values of phronetic researchers and their reference groups“ (Flyvbjerg/Landman/ Schram 2012c: 290).

Drei Seiten später wird dies schon wieder hinfällig und durch eine kontextabhängige gemeinsame Meinung ersetzt. Gleichzeitig wird ein Universalismus abgelehnt, Sozialisation und eigene Geschichte sollen ein wirksames Mittel gegen Relativismus und Nihilismus bieten: „[T]he normative basis for applied phronesis, and for problematizing tension points, is the attitude among those who problematize and act, and this attitude is not based on idiosyncratic moral or personal preferences, but on a context-dependent common world view and interests among a reference group, well aware that different groups typically have different world views and different interests, and that there exists no general principle by which all differences can be resolved, no view from nowhere. For phronetic social scientists, the socially and historically conditioned context, and not fictive universals, constitutes the most effective bulwark against relativism and nihilism and is the best basis for action. Our sociality and history is the only foundation we have, the only solid ground under our feet“ (Flyvbjerg/Landman/ Schram 2012c: 293).

Wie man mit einer angewandten Klugheit diese Ziele erreichen kann und welche weiteren wissenschaftlichen Werkzeuge dazu nötig sind, wird leider nicht ausgeführt. Die Perestroikans sind aber überzeugt, dass eine Sozialwissenschaft, die sich an der Naturwissenschaft orientiert, diese Ziele nicht erreichen kann: „Intelligent social action requires phronesis, to which the social sciences can best contribute and the natural sciences cannot with their emphasis on ‘epistemé’ (universal truth) and ‘techné’ (technical know-how)“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 1).

Nur Priester suchen und verkünden universelle Wahrheiten, weder Naturwissenschaftler noch die Sozialwissenschaftler, die Flyvbjerg kritisiert, haben überhaupt solche Ansprüche. Wissenschaftler suchen nach rational begründbarem Wissen. Das Wissen, das sie finden, hat aus prinzipiellen Gründen hypothetischen Charakter, die Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse gehört zu den in der Regel impliziten Voraussetzungen jedweder wissenschaftlichen Untersuchung (Kapitel 3.1.3, G und Kapitel 3.2).

Das Ziel der Phronetiker ist, mit Hilfe einer angewandten Klugheit eine problemorientierte Methodologie zu schaffen (Flyvbjerg/Landman/ Schram 2012c: 285). Wobei angewandt bedeutet, dass man aus dem Kontext entstandenes Wissen anwendet: „In phronetic social science, ‘applied’ means thinking about practice and action with a point of departure not in top-down, decontextualized theory and rules, but in ‘bottom-up’ contextual and action-oriented knowledge, teased out from the context and actions under study by asking and answering the value-rational questions that stand at the core of phronetic social science (Schram 1995)“ (Flyvbjerg/Landman/ Schram 2012c: 286).

Die phronetischen Wissenschaftler streben eine Revolutionsphilosophie (philosophy of engagement) an, mit deren Hilfe man ungerechte Zustände ändern kann. Dabei besteht die angewandte Klugheit nicht nur im praktischen Wissen, wie man ungerechte Zustände umwandelt, und zwar indem man erstens die Spannungspunkte entdeckt, sondern auch im revolutionären Können oder darin, die Könnerschaft (skills) dazu diese Spannungspunkte umzuwandeln: „What ist applied is not theory, but a philosophy of engagement that recognizes that phronesis is a skill and that having phronesis is iteratively dependent on practising phronesis“ (Flyvbjerg/Landman/ Schram 2012c: 286).

Dabei handeln sie gemeinsam mit den betroffenen Gruppen, denen sie das Wissen und das praktische Können vermitteln, wie sie ihre Anliegen durchsetzen sollen: „In each case, the students and instructor rely on phronetics in the sense of working with affected communities to achieve empowerment“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 10).

Praktisches Wissen und praktisches Können werden nicht unterschieden: „This practical wisdom seems to have three aspects: it is content, a quality of persons and a form of action. As content, phronesis is a resource – a stock of experiential knowledge. As a quality of persons, it is what enables acquisition and appropriate use of that knowledge – a capacity. And as action, phronesis necessarily involve doing something – a practice in which experiential knowledge is both used and gained. ‘Having phronesis’ is iteratively dependent on ‘practising phronesis’“ Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 4). Eine genauere Kritik findet sich im nächsten Abschnitt (Kapitel 3.2).

Wissenschaftler sind also Gelehrte und Revolutionäre in einer Person. Dies wird weder der modernen Spezialisierung, die Wissen und Können differenziert, noch der Komplexität des Gegenstandes gerecht. Politikwissenschaftler sind heute schon sehr gefordert, sich auch nur eine Könnerschaft in Form von Wissen für einzelne Bereiche ihres Faches zu erarbeiten, d.h., sie sind damit ausgelastet Wissen in einem Spezialbereich zu begründen. Eine Beteiligung und ein Engagement als Bürger sind sicherlich in einer Demokratie auch angebracht, können aber nicht als Aufgabe von Wissenschaftlern gefordert werden. Es gibt einen Unterschied zwischen Wissenschaftlern und Politikern (Kapitel 3.1.3, D, 10. Schaubild).


3.1.3 Grenzen (politik)wissenschaftlicher Forschung oder Grenzen der Wissensgenerierung Seitenanfang

Die Grenzen zwischen Wissen und anderen Formen der Erkenntnis werden von der Methodologie festgelegt, für Szientisten ist alles andere Pseudowissen (ausführlicher in Kapitel 3.2). Seit der Antike haben wir es diesbezüglich mit einer enormen Ausweitung zu tun, da eine Vielzahl von Methodologien weiterentwickelt wurde und neue Innovationen hinzukamen. Die größten Fortschritte kamen im 20. Jahrhundert dazu. Neben der Ausweitung findet aber auch oft eine Begrenzung der wissenschaftlichen Möglichkeiten statt. Hier sollen vor allem die prinzipiellen Grenzen von Wissenschaft behandelt werden.

Wissenschaftliche Ergebnisse können nicht nur mittels der Empirie (Erfahrung), sondern auch anhand der Rationalität (Vernunft) widerlegt werden. Weiterhin bestimmt die Vernunft die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse dadurch, dass Widersprüche ausgeschlossen werden (A. Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch) und Grenzen von axiomatischen Systemen (B. Unvollständigkeitstheorem) sowie Grenzen empirischer Bestätigung oder empirischer Widerlegung (C) aufgezeigt werden. Darüber hinaus muss die Mehrdeutigkeit methodologischer Kriterien, Gewichtungen und Präzisierungen beachtet werden. Hinzu kommt die Prima-facie-Eigenschaft von Normen (D), die Aporien der praktischen Vernunft (E) sowie die Sein-Sollen-Grenze (F). Sowohl empirisches Wissen als auch praktisches Wissen haben einen hypothetischen Charakter, d.h., dass das rationale Wissen eine Wenn-dann-Tiefenstruktur hat (G). Weiterhin wird die Unmöglichkeit einer Privatsprache und deren Konsequenzen thematisiert (H).

Die Perestroikans werfen den Szientisten vor, dass sie nach universellen Wahrheiten sowie nach kontextfreien Erkenntnissen suchen: „Scientific knowledge. Universal, invariable, context independent“ (Flyvbjerg 2006: 71). Aufgrund der hier kurz aufgelisteten prinzipiellen Grenzen der (reinen und praktischen) Vernunft ist sowohl die Suche nach universellen Wahrheiten als auch die nach absoluten, kontextfreien Erkenntnissen a priori zum Scheitern verurteilt, weil z.B. rationales Wissen einen hypothetischen Charakter und eine Wenn-dann-Struktur hat.

Die Grenzen wissenschaftlicher und damit auch politikwissenschaftlicher Methodologie zählen zu den selten erörterten wissenschaftstheoretischen Fragestellungen innerhalb der Politikwissenschaft. Dies gilt auch für die hier näher analysierten Methodenhandbücher der Szientisten. Aneinandervorbeireden und Fehlinterpretationen werden dadurch provoziert. Es besteht trotzdem kein Zweifel, dass die meisten dieser Grenzen von der überwiegenden Mehrheit der Szientisten geteilt werden. Diese Grenzen müssen also als implizite Annahmen mitgedacht werden, wenn man die szientistische Methodologie beurteilen will.

A. Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW)

Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW) wird schon seit der Antike an der Spitze aller Erkenntnis verortet, z.B. bei Platon (1983c [4. Jahrhundert vor Christus] Politeia: [434c-437a]), Aristoteles (1970 [4. Jahrhundert vor Christus] [Metaphysik: 1005b 11-34]) oder bei Kant (1956 [1781 und 1787]: 207-209 [A 150/B 189-A 153/B 193], siehe Brandt 2001: 27-50, dort sind die entscheidenden Passagen wiederabgedruckt und kommentiert): „Wer urteilt, muß entweder bejahen oder verneinen (was Tiere nicht können), und er unterwirft sich damit dem SvW, denn durch diesen Satz werden Bejahung und Verneinung voneinander unterscheidbar. Der SvW ist kein Anfang in der Weise, daß alles folgende aus ihm abgeleitet werden könnte, er muß nur allem Urteilen und Beurteilen vorangehen“ (Brandt 2001: 24-25). Für die Bivalenz kommen unterschiedliche Prädikate in Frage: wahr/falsch, gerecht/ ungerecht, klug/unklug und effizient uneffizient (Kapitel 3.3).

B. Unvollständigkeitstheorem

Innerhalb eines axiomatischen Systems gibt es unweigerlich Sätze, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Gödels Schlussfolgerung lautete, dass jede axiomatische Methode ihre Grenzen hat und somit im Wesentlichen unvollständig ist, auch eine vollständige Axiomatisierung komplexer Theorien ist unmöglich (Gödel 1931 und Gödel 2003).

C. Methodologische Inkommensurabilität (Kuhn-Unterbestimmtheit)

Die methodologische muss von der allgemeinen Inkommensurabilität unterschieden werden (Kuhn 1976 [1962], Feyerabend 1986 [1975]). Die allgemeine Inkommensurabilität bewirkt im Falle von wissenschaftlichen Revolutionen einen Paradigmenwandel und führt aufgrund von unüberbrückbaren Diskontinuitäten zu einem Zusammenbruch der wissenschaftlichen Kommunikation: „Grob vereinfacht gesprochen wird mit Inkommensurabilität [gemeint ist hier die allgemeine Inkommensurabilität] spätestens seit Kuhn und Feyerabend das Verhältnis zwischen zwei relativierenden Bezugssystemen charakterisiert, wenn sie konflikthaft konkurrieren und wenn trotzdem keines von beiden privilegiert werden kann. Inkommensurabilität ist der Begriff, der einen absoluten Geltungsanspruch negiert, indem er konfligierende Ansprüche schlicht als unvergleichbar behandelt“ (Hönig 2006: 15).

Diese generelle These wird von vielen Wissenschaftlern bestritten, die methodologische Inkommensurabilität wird in der Regel anerkannt und besagt, dass es keine eindeutigen Urteile über Hypothesen und Theorien geben kann: „Gemeint ist damit [mit der methodologischen Inkommensurabilität], dass die Beurteilung der Leistungsfähigkeit alternativer Hypothesen und Theorien wegen der Mehrzahl und Mehrdeutigkeit methodologischer Kriterien Gewichtungen und Präzisierungen verlangt, über die ein begründeter Konsens kaum zu erzielen ist. Deshalb wird auch dann kein eindeutiges Urteil über Hypothesen und Theorien erreicht, wenn nicht-empirische, epistemische Leistungsmerkmale hinzutreten“ (Carrier 2006: 105, siehe Kuhn 1977, insbesondere das 13. Kapitel: Objektivität, Werturteil und Theoriewahl, 421-445).

D. Prima-facie-Eigenschaft von Normen

Die Prima-facie-Eigenschaft von Normen (Ross 1967 [1930]) und politischen Handlungsmaximen besagt, dass von Normen oder Handlungsmaximen nicht direkt auf Handlungsanweisungen geschlossen werden kann, es gibt also keine einfache Ableitungs- oder Subsumtionsmöglichkeit (Kapitel 3.4). Anhand der Aporien der praktischen Vernunft kann gezeigt werden, warum Ableitungen und Subsumtionen nicht möglich sind.

E. Aporien praktischer Vernunft

Die moderne Welt erweitert den Handlungsspielraum des Einzelnen, dies wird aber mit einer Komplexität erkauft, die ihrerseits neue Probleme generiert: „[W]eil zugleich mit der Erweiterung des Handlungsspielraums das individuelle Handeln in rasch zunehmendem Maße in Verbundsysteme eingefügt wird, in denen sich der Einzelne nur noch als Funktionsglied innerhalb vielfältiger, für ihn selbst kaum mehr überschaubarer Kooperationsstrukturen vorfindet. Deshalb ist es heute für den Einzelnen ungleich schwerer als in früheren Zeiten, sich in seinem Handeln darüber klar zu werden, was er eigentlich tut“ (Wieland 1999a: 101).

Anonymisierung, Juridifizierung (Verrechtlichung) und Probabilisierung (probabilistische Charakter wissenschaftlicher Erkenntnisse) sind die drei großen Herausforderungen in einer komplexen Welt, die diese neuen Strukturen des Handelns innerhalb von vielfältigen Institutionen erst erzeugen und die Wolfgang Wieland hervorragend am Beispiel der Medizin herausgearbeitet hat (Wieland 1986: 56-132).

„Die praktische Vernunft ist darauf aus, die Welt des Handelns nicht nur zutreffend zu beurteilen, sondern auch nach ihrer Idee zu gestalten. Deshalb geht es ihr darum, allgemeingültige Normen zu begründen, aber auch darum, diese Normen auf individuelle Handlungen und Situationen anzuwenden. Sie will überdies den Handelnden zu einem Verhalten motivieren, das den so angewendeten Normen entspricht. Schließlich strebt sie danach, die Ordnungen zu gestalten, deren der Mensch bedarf, um mit seinesgleichen auf vernünftige Weise zusammenleben zu können. Sie kann sich diesen Zielen annähern, doch sie erfährt dabei, daß sie sich in Aporien verfängt, wenn sie, statt sich mit Annäherungen zu begnügen, prinzipielle Lösungen erzwingen will. Ihre Kraft reicht nicht aus, die Aufgaben, die sich im Umkreis von Applikationen und Motivationen stellen, mit dem Anspruch auf Endgültigkeit zu bewältigen; sie ist zu schwach, für die Institutionen, in denen sie sich vorfindet und deren Existenz sie fordern muß, Bedingungen durchzusetzen, denen jede Herrschaft von Menschen über Menschen genügen muß, wenn sie gerechte Herrschaft sein soll. Nur unter utopischen Bedingungen könnten sie ihren Aporien entgehen“ (Wieland 1989: 46). „Doch solche Bedingungen sind kontrafak-tisch“ (Wieland 1989: 47).

Folgende Aporien der praktischen Vernunft rekonstruiert Wolfgang Wieland:

a. Applikationsaporie als Inbegriff der Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung genereller Normen auf konkrete Situationen ergeben: „Der Name der Applikationsaporie soll hier den Inbegriff der Schwierigkeiten bezeichnen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, generelle Normen auf individuelle, konkrete Situationen anzuwenden“ (Wieland 1989: 13).

b. Motivationsaporie, die die grundsätzliche Frage aufwirft, warum man sich überhaupt nach einer Norm richten soll: „In die Motivationsaporie gerät, wer wissen will, warum er sie [Normen] überhaupt anwenden soll“ Wieland 1989: 25). „Damit ist der Weg in die Motivationsaporie vorgezeichnet: Sie ergibt sich, weil sich Fragen nach der Motivation zur Vernünftigkeit und nach der Vernünftigkeit der Motivation gegenseitig fordern, ohne jemals zur Ruhe zu kommen“ (Wieland 1989: 31).

c. In der Institutionsaporie kommt die Abhängigkeit von Institutionen zum Ausdruck: „Sie [die Institutionsaporie] ergibt sich deswegen, weil die praktische Vernunft nicht umhin kann, ihren normativen Anspruch auch auf die Welt der Institutionen zu erstrecken, und gerade dabei zugleich erfahren muß, wie sehr sie von dieser Welt abhängig und wie sehr sie zur Sicherung ihrer eigenen Existenz auf sie angewiesen bleibt“ (Wieland 1989: 36). Das Widerstandsrecht ist ein Beispiel eines Antagonismus zwischen individueller Vernunft und einer Institution der Rechtsordnung: „Traditionellerweise bezeichnet der Begriff des Widerstandsrechts den Punkt, an dem der stets mögliche Antagonismus zwischen der individuellen Vernunft und den Institutionen der Rechtsordnung und damit die Institutionsaporie in verschärfter Gestalt sichtbar wird. Aus der Idee einer praktischen Vernunft läßt sich die Notwendigkeit einer Rechtsordnung ebenso begründen wie die Pflicht des Individuums, sein Handeln an den Forderungen dieser praktischen Vernunft auszurichten. Eine Aporie ergibt sich jedoch, wenn das Individuum die unmittelbaren Forderungen dieser Vernunft mit den im Namen der institutionellen Ordnung erhobenen Ansprüchen nicht mehr in Übereinstimmung bringen kann. Niemand kann eine Position beziehen, von der aus er einen Konflikt zwischen beiden Instanzen zu entschärfen hoffen könnte“ (Wieland 1989: 41-42).

F. Sein-Sollen-Grenze

Die Sein-Sollen-Grenze ist zwar keine ontologische Grenze. Es wurden auf der Logikebene sowie auf der Argumentationsebene meiner Meinung nach triftige Argumente für eine Trennung dieser Bereiche vorgebracht. Diese Grenze wird im Anschluss an Weber von empirischen (bürgerlichen) Politikwissenschaftlern in der Regel anerkannt, von den Perestroikans und Interpretivisten allerdings abgelehnt. Diese Auseinandersetzung wurde oben ausführlich behandelt (Kapitel 3.1.2, E, b).

G. Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse

Die Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse erinnert daran, dass innerhalb der Wissenschaft keine absoluten Erkenntnisse formuliert und begründet werden, sondern dass nur hypothetische und relative Wenn-dann-Relationen begründet werden können.

Trotzdem führt dies zu keiner antiveritativen Position, wie unter anderem auch die Perestroikans im Anschluss an postmoderne Positionen (Rorty 1981 [1980]) behaupten. Es wird also keine Relativität des Wahrheitsanspruches postuliert, die Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge enthält einen absoluten Wahrheitsanspruch, es handelt sich bei wissenschaftlichen Analysen um die Erkenntnis von Sachverhalten unter Voraussetzungen.

„Analysiert man nämlich eine solche Aussage auf ihre Tiefenstruktur hin, so zeigt sich dabei fast immer ein Gebilde vom Typus der hypothetischen Aussage, also einer Wenn-Dann-Aussage. Mit ihrer Hilfe läßt sich nicht behaupten, irgend etwas sei schlechthin der Fall, sondern immer nur, es sei der Fall, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. […] Die hypothetische Tiefenstruktur der theoretisch-wissenschaftlichen Aussage zeigt, entgegen einem verbreiteten Mißverständnis, durchaus keine Relativität ihres Wahrheitsanspruches an. Zwar wird der Geltungsanspruch jeder Elementaraussage gleichsam relativiert, wenn sie mit einer Hypothese verknüpft wird und nur noch als Glied derartiger Verknüpfungen von Interesse ist. Wenn man jedoch die Existenz einer entsprechenden Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge behauptet, so ist wenigstens mit dieser Behauptung der Anspruch verbunden, schlechthin und ohne Einschränkungen zu gelten. Die neuzeitliche Wissenschaft hat es daher nicht einfach mit der Erkenntnis von Sachverhalten, sondern mit der Erkenntnis von Sachverhalten unter Voraussetzungen zu tun“ (Wieland 1986: 31).

Nicht nur die Relativität des Wahrheitsanspruches wird, wie gezeigt, von den Perestroikans zu Unrecht aufgeführt, sondern auch die Kritik an der angeblichen Kontextfreiheit des von den Szientisten mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie generierten Wissens. Aufgrund von prinzipiellen Grenzen aller wissenschaftlichen Werkzeuge, die in der Regel von den Szientisten anerkannt werden, vor allem der Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis, ist der Vorwurf einer kontextfreien Erkenntnis unangebracht. Diese Tiefenstruktur bringt es mit sich, dass so etwas wie ein kontextfreies Wissen, schon aus methodologischen Gründen, eigentlich bei genauem Hinsehen auch von den Szientisten überhaupt nicht vertreten wird.

Nun wird die Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht selten sogar von den Wissenschaftlern, die es eigentlich besser wissen, unterschlagen. Die Ergebnisse werden oft so kommuniziert, als ob es sich räumlich und zeitlich um allgemeingültige Erkenntnisse handelt. Diese falschen Darstellungen beginnen dann mit folgenden Wörtern: „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass y wahr ist“. So können zwar universelle, kontextfreie Erkenntnisse formuliert werden. Wenn man den Kontext sowie den hypothetischen Charakter des rational begründeten Wissens berücksichtigt, muss die Formulierung folgendermaßen lauten: „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass wenn x1, x2 … xn wahr sind, dann ist y wahr“. Jeder Szientist kann diese Formulierung unterschreiben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass damit keine Relativierung des Wahrheitsanspruches einhergeht. Diese Wenn-dann-Relation gilt absolut und zwar in einer möglichen Welt oder in einem mathematisch-logischen Modell. Ob sie in der realen Welt gilt, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall kann man behaupten, dass man damit zwar keine universelle Wahrheit, aber eine Annäherung an die Wahrheit der realen Welt formuliert hat. Die Wenn-dann-Struktur des Wissens ermöglicht daher, hypothetische Erkenntnisse zu formulieren, ohne auf das Ideal der Wahrheit zu verzichten. Ein Relativismus des Wahrheitsanspruches oder gar eine antiveritative Position ist nicht notwendig, ja diese würde der Wissenschaft einen Bärendienst leisten (Kapitel 3.2 und Kapitel 3.3).

H. Subjektive Privatsprache versus intersubjektive, objektive oder öffentliche Sprache

Einige Interpretivisten und Perestroikans bestreiten, dass man alle Sachverhalte objektiv oder intersubjektiv formulieren kann. Sie nehmen aber in Anspruch, subjektive Erlebnisse oder subjektive Erfahrungen auf subjektive Art und Weise mittels Sprache wiederzugeben. Ist dies überhaupt möglich mit unserer Sprache, so wie diese sich bisher entwickelt hat?

Ludwig Josef Johann Wittgenstein bezweifelt genau dies mit seinen berühmten Argumenten gegen eine subjektive Privatsprache: „Wittgenstein behauptet, daß eine private Sprache keine Sprache ist. Es macht keinen Sinn, von einer privaten Sprache zu sprechen, da in der Lebensform, die er beschreibt, solch eine Auffassung offensichtlich auf Sprachkonfusionen beruht; in diesem Fall beruhen die Sprachkonfusionen auf dem schlechten Gebrauch des Wortes ‚Schmerz‘“ (Lauer 1987: 37). Auch wenn man über subjektive Empfindungen, Wittgenstein exemplifiziert dies vor allem am Beispiel des eigenen Schmerzes, spricht, verwendet man ein intersubjektives Werkzeug, nämlich eine intersubjektive, objektive sowie öffentliche Sprache. Anders ausgedrückt, da es keine private Sprache gibt, sind wir auch bei der Formulierung von subjektiven Erlebnissen und subjektiven Sichtweisen darauf angewiesen, diese mit Hilfe einer nur intersubjektiv-öffentlich funktionierenden Sprache wiederzugeben.

Im Folgenden soll der wichtigste Einwand Wittgensteins gegen eine Privatsprache kurz vorgestellt werden. Nach Saul Aaron Kripke (1982, Stegmüller 1986a) werden diese Fragen in den Paragraphen 138-242 der Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein 1984c [1953]) abgehandelt: „In my view, the real ‘private language argument’ is to be found in the section preceding § 243“ (Kripke 1982: 3, siehe S. 113). In diesen Paragraphen wird vor allem das wichtigste Argument behandelt. Nach Wittgenstein gibt es nicht nur eine Methode, sondern viele Methoden „gleichsam verschiedene Therapien“ (Wittgenstein 1984c [1953]: § 133), daher findet man auch noch andere Argumente gegen eine Privatsprache, die hier nicht erörtert werden und von diesem Argument unabhängig sind (Lauer 1987: 49).

In den von Kripke untersuchten Paragraphen geht es um Regelfolgen: „Es kann kein privates Regelfolgen geben, sondern nur ein öffentliches Regelfolgen innerhalb einer Gemeinschaft. Sprache und Wissen funktionieren immer nur innerhalb eines öffentlichen Kommunikationsvorganges. In den zugehörigen Sprachspielen oder Funktionseinheiten erhalten Wörter oder Sätze ihre spezifische, durch die Lebensform bestimmte Bedeutung“ (Lauer 1987: 49).

Die drei Schlüsselbegriffe in Kripkes Interpretation lauten: Übereinstimmung, Lebensform und Kriterien (Kripke 1982: 96 ff.): „Ohne eine Gemeinschaft, in der es eine Übereinstimmung in dem Gebrauch der Regeln gibt, kann es keine Sprache und Verständigung geben. […] Die Menge der Antworten, in denen die Glieder der Gemeinschaft übereinstimmen, und die Art und Weise, wie diese Antworten mit den außersprachlichen Handlungen zusammenwirken, ist die Lebensform dieser Gemeinschaft“ (Lauer 1987: 48). Die Kriterien sind wichtig, um die Übereinstimmung nachzuprüfen. Das Funktionieren der Sprache ist also auf öffentliche Praxis angewiesen.

Unabhängig davon, ob diese Interpretation stimmt (kritisch dazu Baker/Hacker 1984), müssen alle, die meinen auf eine intersubjektive, öffentliche Sprache und Kriterien verzichten zu können, nachweisen, wie eine subjektive Privatsprache funktionieren kann. Mittlerweile lehnen auch qualitative Forscher oder Interpretivisten intersubjektive Kriterien nicht mehr ab, auch wenn man dann von „intersubjektiver Nachvollziehbarkeit“ statt von „intersubjektiver Überprüfbarkeit“ spricht (Steinke 2015 [2000]: 323 und 324, siehe auch Schwartz-Shea 2014 [2006] und Kapitel 3.2).

Hier geht es weiter zum Kapitel:
Wissensebene: allgemeine Bedingungen oder
allgemeine Kriterien des Wissens
(3.2)


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