Welche Aufgaben und Ziele sollten innerhalb der Politikwissenschaft verfolgt
werden? Zuerst werden die allgemeinen Aufgaben und Ziele, wie sie
Wissenschaftler anstreben, dargestellt (A). Danach wird erstens die
Vorgehensweise der naturwissenschaftlich orientierten Forscher bei der
Erkenntnis der Welt erläutert (B) sowie zweitens der Wissenschaftler, der sich
an den Kultur- und Geisteswissenschaften (Humanities) orientiert und sich selber
als antipositivistische oder post-positivistische Alternative zu den (Neo)Positivisten
sieht (C). Danach werden die Perestroikans und ihre phronetische
Politikwissenschaft (Phronetic Political Science) erörtert, die als neueste
revolutionäre Alternative zu den Szientisten aufgetreten sind (D). Bei dem dann
folgenden Unterabschnitt geht es um die Weltveränderung (Praxis) und damit um
eine angewandte Politikwissenschaft, wie sie den Szientisten vorschwebt, sowie
um die problemorientierte Vorgehensweise der Perestroikans (E).
A. Allgemeine Aufgaben und Ziele wissenschaftlicher Forschung:
Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung
Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung ist seit der Antike
das wichtigste Ziel der Wissenschaften, wobei es einen Vorrang der Praxis gibt.
Der Vorrang der Praxis wird in der platonisch-galileischen Tradition nicht in
Frage gestellt, wie dies nicht nur die Perestroikans behaupten. Das Gegenteil
ist der Fall: „Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wissenschaften ist kein
anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu
bereichern“ (Bacon 1990 [1620]: 173, 81. Aphorismus, Teilband 1).
- „Meta autem scientiarum vera et legitima non alia est, quam ut
dotetur vita humana novis inventis et copiis“ (Bacon
1990 [1620]: 172, 81. Aphorismus, Teilband 1).
- „The true and legitimate goal of science is to endow human life
with new discoveries and resources“ (Bacon
2000 [1620]: 66).
Mehr noch:
Die praktischen Wohltaten der Wissenschaften werden als noch größer angesehen
als die der praktisch tätigen Politiker, da sie der Menschheit ohne Nachteile
und das noch für alle Zeiten zugutekommen sollen, während die Wohltaten der
Politiker nur für eine bestimmte Zeit an bestimmten Orten wirken und diese sogar
mit Gewalt durchgesetzt werden müssen: „Denn die Wohltaten der Erfinder können
dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen, die politischen hingegen nur
den Menschen bestimmter Orte, auch dauern diese nur befristet, nur über wenige
Menschenalter, jene hingegen für alle Zeiten. Auch vollzieht sich eine
Verbesserung des politischen Zustandes meistens nicht ohne Gewalt und Unordnung,
aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein
Leid zu bereiten“ (Bacon 1990 [1620]: 269, 129. Aphorismus, Teilband 1).
- „Etinem inventorum beneficia ad universum genus humanum pertinere
possunt, civilia ad certas tantummodo hominem sedes: haec etiam non
ultra paucas aetates durant, illia quasi perpetuis temporibus. Atque
status emendatio in civilibus non sine vi et perturbatione plerumque
procedit: at inventa beant, et beneficium deferunt absque alicujus
injuria aut tristitia“ (Bacon
1990 [1620]: 268, 129. Aphorismus, Teilband 1).
- „For the benefits of the discoveries may extend to the whole human
race, political benefits only to specific areas; and political benefits
last no more than a few years, the benefits of discoveries for
virtually all time. The improvement of a political condition usually
entails violence and disturbance; but discoveries make men happy, and
bring benefit without hurt or sorrow to anyone“ (Bacon
2000 [1620]: 99, 129. Aphorismus).
Das praktische Eigeninteresse der Wissenschaftler und deren Förderer wurde
von Bacon damit auf den Punkt gebracht: „Trotz seiner Fremdheit zur Mathematik
hat Bacon die Gesinnung der Wissenschaft, die auf ihn folgte, gut getroffen […]
[D]er Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur
gebieten […]. Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden,
um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“ (Horkheimer/Adorno 2010 [1947]:
14).
Seit Francis Bacon tut sich die Wissenschaft mit einem Wissen als Selbstzweck
sehr schwer. Wissen wird damit entgegen der Behauptung der phronetischen
Perestroikans (Green/Shapiro 1994,
Shapiro 2005, Schram
2003 und
2005) immer als
ein Wissen im Dienste der Menschheit und damit problemorientiert
(problem-driven) betrachtet. Jürgen Habermas ordnet mit dem Konzept der
erkenntnisleitenden Interessen (Habermas 1968b) sogar jeder Wissenschaft ein
Interesse zu, den Naturwissenschaften an der Beherrschung der Natur, den
Geistes- und Kultur-wissenschaften an Orientierung und Verstehen sowie den
kritischen Wissenschaften an Aufklärung und Emanzipation.
Im Geiste Bacons formuliert Karl Raimund Popper im 20. Jahrhundert das Ziel wissenschaftlicher Forschung wie folgt: „Die Aufgabe der Wissenschaft ist teils
theoretisch – Erklärung – und teils praktisch – Voraussage und
technische
Anwendung. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese beiden Aufgaben im Grunde
zwei Seiten ein und derselben Sache darstellen“ (Popper 1984 [1972]: 362).
Welterkennung als Mittel zur Weltveränderung wird auch vom szientistischen
Establishment als wichtigstes Ziel der Politikwissenschaft seit deren Entstehung
in den USA am Anfang des 20. Jahrhunderts angesehen: „The founding idea of
American political science was one of the discipline ‘as a source of knowledge
with practical significance’ (Gunnell 2006, 485)“ (Goodin 2011a [2009]: 7).
Beide Ziele werden heute nach wie vor sowohl vom bürgerlich-liberalen
Establishment als auch im Mainstream der Politikwissenschaft verfolgt.
Die Relevanz der Praxis wurde sogar von den beiden als sehr formal und
technisch angesehenen „Revolutionen“, der behavioralistischen Revolution und der
Rational-Choice-Revolution, betont. Ein zentrales Anliegen des
behavioralistischen Ansatzes war: „Die Politikwissenschaft soll statt ‚reiner
Forschung‘ angewandte Forschung zur Lösung bestimmter politischer Probleme und
innovatorischer Programme treiben“ (von Beyme 2000 [1972]: 113). Dies gilt erst
recht für den Rationalwahlansatz (rational choice approach), wo die
Nutzenmaximierung im Zentrum steht oder die Komplexitätsreduktion des Seienden
vor allem im Hinblick auf eine praktische Verwertung der Erkenntnisse vollzogen
wird (Coleman 1990,
Braun 1999, von Beyme [1972]: 122-150).
Daher ist die diesbezügliche Kritik der Perestroikans nicht angebracht, weil
es innerhalb der platonisch-galileischen Tradition nicht nur auf die Ermittlung
von Wahrheit ankommt (Kapitel 3.3). Schram greift auf die Unterscheidung von
Jacqueline Stevens zwischen „science as use“ und „science as truth“ zurück
(zitiert nach Schram 2003: 850). Er verweist auf den amerikanischen
Pragmatismus, erkennt wie im Übrigen viele Perestroikans nicht, dass auch für
die Szientisten genau wie im Pragmatismus Erkenntnis und Handeln zwei Seiten
einer Medaille sind, so wird im amerikanischen Pragmatismus ähnlich
argumentiert: „Die pragmatische Maxime von Charles S. Pierce lautete, dass es
eine untrennbare Verbindung zwischen rationaler Erkenntnis und rationalem Zweck
gebe. Begriffe seien wie Werkzeuge über ihre Funktionalität zu verstehen.
Metaphysische Fragen nach den letzten Dingen sollten lebenspraktischen
Problemstellungen weichen“ (Ruffing 2005: 246, vgl.
James (1977 [1907], ähnlich
argumentiert Popper 1984 [1972]: 362).
Auch wenn die allgemeinen Ziele, Welterkennung und Weltveränderung, für alle
Traditionen gleich sind, gibt es Unterschiede in den konkreten Zielen, die beide
Traditionen verfolgen oder die beide glauben erreichen zu können.
Worin besteht nun der Unterschied zwischen der aristotelischen und der
platonisch-galileischen Tradition oder inwieweit werden unterschiedliche Ziele
verfolgt? Um die Antwort vorwegzunehmen: Es ist einmal der Unterschied zwischen
Kausaldenken und Sinnverstehen. Zweitens der Unterschied zwischen
praktischen
und angewandten Wissenschaften (auch Politikwissenschaft). Bei den
Wissenschaftlern, die sich an den Naturwissenschaften (Kausaldenken,
quantitative und qualitativ-mathematische Methodologie) orientieren, geht eine
Überhöhung von Erklärungen mit einer Geringschätzung von Verstehen
(Beschreibungen von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen mittels einer
qualitativ-interpretativen Methodologie) einher. Geisteswissenschaftliche Methoden (Hermeneutik, Phänomenologie,
qualitativ-interpretative Methoden), die vor allem deskriptiv sind, werden
vernachlässigt.
B. Wissensgenerierung oder Welterkennung als Welterklärung mittels Logik
und Mathematik. Ermittlung von unsichtbaren Kausalitäten innerhalb von
szientistischen Sozialwissenschaften
a. Definition und Bedeutung von Kausalität. Abgrenzung zu Korrelation,
Kookkurrenz und Kollokation
Die Vertreter des kausalen Reduktionismus behaupten, dass Kausalität sowohl
für die Welterkenntnis (Erkennen) als auch für die Weltveränderung (Handeln) die
entscheidende und ausschließliche Rolle zukommt. Mit Johann Wolfgang
von Goethe
(1978 [1808]: 162 [382-383]) könnte man sagen: Die Kausalität ist das, was die
Welt im Innersten zusammenhält. Innerhalb der angelsächsischen Diskussion spielt
dieses poetische Bild keine Rolle, der pragmatischen Tradition folgend findet
man nun ja eine pragmatische Metapher eines angelsächsischen Philosophen (John
Leslie Mackie war Australier) und zwar das Bild von der Kausalität als Zement
des Universums, „The Cement of the Universe, a Study of Causation“ (Mackie
1974), so der programmatische Titel seines vielzitierten Buches.
In diesem Fall ist die poetische Metapher treffender und brauchbarer, da es
sich bei der Kausalität gemäß der naturalistischen Sichtweise um eine
unsichtbare und verborgene Kraft oder Relation handelt, die die Welt im
Innersten zusammenhält. Der Zement ist demgegenüber ein sichtbares Material.
Während Phänomene oder die Erscheinungen sichtbar sind (das griechische Wort
„phainómenon“ bedeutet Sichtbares, Erscheinung), ist Kausalität unsichtbar,
daher kann man Erscheinungen (appearances) beschreiben, Kausalitäten aber nur
erklären: „Taking ‘description’ in the narrower sense which includes only
description of appearances, the realist can say that explanatory knowledge is
knowledge of the underlying mechanisms – causal or otherwise – that produce the
phenomena we want to explain. To explain is to expose the internal workings, to
lay bare the hidden mechanisms, to open the black boxes nature presents to us“ (Salmon
1989: 134).
Dies sehen nicht nur Wissenschaftsphilosophen so, sondern wird auch in den
entsprechenden politologischen Methodenbüchern so gelehrt: „Obviously, we do not
thereby mean that one direct observes causation. Rather, this involves
inference,
not direct observation“ (Seawright/Collier
2010 [2004]: 318). Es geht nur
sekundär um Beobachtungen, sondern primär um Inferenzen.
Mehr noch: Das Ziel der Wissenschaft wird von naturalistischen Wissenschaftlern
allein darin gesehen, Ableitungen, Inferenzen, Rückschlüsse oder
Schlussfolgerungen („inference“ lautet das Zauberwort) zu generieren und damit
die unsichtbaren Kausalitäten, die man hinter den Phänomenen oder Erscheinungen
vermutet, zu identifizieren: „The goal is inference [Hervorhebung im Original].
Scientific research is designed to make descriptive or explanatory inferences on
the bases of empirical information about the world. Careful descriptions of
specific phenomena are often indispensable to scientific research, but the
accumulation of facts alone is not sufficient […]. [B]ut our particular
definition of science requires the additional step of attempting to infer beyond
the immediate data to something broader that is not directly observed. That
something may involve descriptive inference – using observations from the world
to learn about other unobserved facts. Or that something may involve causal
inference – learning about causal effects from the data observed […]. [T]he key
distinguishing mark of scientific research is the goal of making inferences that
go beyond the particular observations collected“ (King/Keohane/Verba 1994: 7-8).
Wie ich noch zeigen werde, sorgt die Unterscheidung zwischen „description“ und „descriptive
inference“ einerseits sowie „explanation“ und „causal inference“ andererseits
für Verwirrung. Das Wort „inference“ wird gebraucht, damit man zeigt, dass es
sich um einen Rückschluss auf etwas Unsichtbares handelt. Es geht dabei in der
Terminologie von King, Keohane und Verba um einen beschreibenden Rückschluss (descriptive
inference) eines kausalen Mechanismus oder kausalen Prozesses und nicht um eine
phänomenologische Beschreibung oder eine Beschreibung von Erscheinungen (description
of appearances), wie Salmon (1989: 134) schreibt. Damit kommt es zu
Verwirrungen.
Es wäre besser nur von Erklärungen (explanations) zu sprechen, die
unsichtbare kausale Regularitäten (causal regularities) auf der Makroebene und
kausale Mechanismen (causal mechanisms) oder kausale Prozesse (causal processes)
auf der Mikroebene erklären. Der Begriff kausale Inferenz (causal inference)
könnte für die Ermittlung von Kausalitäten auf allen Ebenen verwendet werden.
Weiterhin sollten Beschreibungen (descriptions) nur dann benutzt werden, wenn
sichtbare Phänomene beschrieben werden (Kapitel 3.9).
Das Kausaldenken (causal thinking) ist heute vor allem innerhalb des
szientistischen Establishments der Politikwissenschaft weit verbreitet (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]: 4, vgl. auch
Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1006,
1022 und 1025 sowie
Goodin 2011b [2009]: 13). Mehr noch: Es soll das Zentrum von
Erklären, ja sogar angeblich von Verstehen bilden: „Causality is at the center
of explanation and understanding“ (Brady 2011 [2009]: 1054).
Henry E. Brady formuliert die innerhalb der Politikwissenschaften am
weitesten verbreitete Auffassung über Kausalität am Anfang des 21. Jahrhunderts
wie folgt: „Causal statements explain events, allow predictions about the future,
and make it possible to take actions to affect the future“ (Brady 2011 [2009]:
1054). Kausale Aussagen sollen also drei verschiedene Ziele ermöglichen: Erstens
Ereignisse erklären, zweitens Prognosen über zukünftige Entwicklungen erstellen
sowie drittens Regeln ermöglichen, mit deren Hilfe man Handlungen begründet oder
ermöglichen kann, die die Welt verändern.
Ausschließlich Kausalaussagen liefern demzufolge mittels Erklärungen und
Prognosen eine wissenschaftlich fundierte Welterkenntnis. Gleichzeitig, quasi
als andere Seite der Medaille, erlauben Kausalaussagen durch „Umkehrungen von
Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491] oder durch „Umkehrung des
fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]: 367) eine
Weltveränderung
und damit Handeln. Warum ausschließlich Kausalität Welterkenntnis und
-veränderung leisten kann, darüber findet man weder bei
King, Keohane und Verba
(1994) noch bei Brady
(2011 [2009]) oder bei anderen Autoren in der „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) eine Antwort.
Die Orientierung der Politikwissenschaft und deren Methodologie an den
Naturwissenschaften ist nicht nur für diese Autoren so offensichtlich, dass sie
den damit vertretenen methodologischen Naturalismus und kausalen Reduktionismus
als Ausgangspunkt überhaupt nicht mehr anführen. Für Merilee H. Salmon ist die
Suche nach Kausalitäten in der sozialen Welt die wichtigste Fragestellung einer
naturalistischen Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften (Philosophy of
Social Science) oder einer naturalistischen Methodologie: „[T]his chapter looks
at the so-called social sciences with particular attention to whether we can
investigate human behavior in the way scientists study the rest of the natural
world. Because scientific studies are so centrally concerned with causal
relationships, a question closely related to our main theme is how to understand
causation [Hervorhebung nicht im Original] in the social world […] Neither side
[gemeint sind einerseits Individualismus, andererseits Kollektivismus oder
Holismus] in the dispute (actually, there are many different versions of both
sides) denies the obvious causal interplay between individuals and societies.
Nevertheless, individualists and collectivists disagree about the ultimate
causes of human behaviour“ (Salmon
1992: 404,
Merilee H. Salmon ist die Ehefrau von Wesley C. Salmon, nur dieses Zitat stammt
von Frau Salmon, alle anderen Zitate werden aus den Arbeiten von Herrn Salmon
angeführt). Kurz gesagt, in der Wissenschaft
dreht sich, zumindest innerhalb der platonisch-galileischen Tradition, alles um
die Identifizierung von Kausalität, das Prädikat „wissenschaftlich“ wird nur
Kausalstudien zugestanden.
Die Bedeutung von Kausalität wird selten expressis verbis formuliert. Dass es
sich aber um einen kausalen Reduktionismus handelt, kann weiterhin mit einem
Zitat aus einem sehr einflussreichen Methodologiebuch der Politikwissenschaft
belegt werden: „At ist core, real explanation is always based on causal
inference. We regard arguments in the literature about ‘noncausal explanation’
as confusing terminology; in virtually all cases, these arguments are really
about causal explanation [Hervorhebung nicht im Original] or are internally
inconsistent“ (King/Keohane/Verba 1994: 75). Erklärung wird ausschließlich mit
kausalen Schlussfolgerungen verbunden und nichtkausale Erklärung gar als
verwirrende Terminologie abgetan. Dabei ging das meistdiskutierte
Erklärungsmodell des 20. Jahrhunderts, das deduktiv-nomologische Modell, weit
darüber hinaus. Kausale Erklärungen waren nur eine von mehreren möglichen
Erklärungen. Da Kausalität die einzige Relation ist, auf die sich die
Wissenschaft konzentrieren sollte, und alle anderen Relationen unwichtig sind,
ist die Bezeichnung kausaler Reduktionismus meiner Meinung nach genauer und
daher auch angebrachter.
Die Korrelation (lateinisch: correlatio) bezeichnet eine
Wechselbeziehung von zwei Ereignissen, die häufig gleichzeitig auftauchen.
Insbesondere Wissenschaftler, die auf der Makroebene forschen, suchen nach
Korrelationen vor allem in der Hoffnung, dass diese dann als Kausalitäten
identifiziert werden können. Findet man kausale Regularitäten auf der
Makroebene, so könnte man dann mit Hilfe des deduktiv-nomologischen Modells (DN-Modell)
deduktiv auf einzelne Kausalitäten auf der Mikroebene schließen, so die vor
allem vom Kritischen Rationalismus verbreitete trügerische Hoffnung, wie noch
nachzuweisen ist (Kapitel 3.8).
Sprachwissenschaftler sprechen von Kookkurrenz (lateinisch: coocurrentia),
wenn zwei lexikalische Einheiten (z.B. Wörter) gemeinsam auftauchen.
Naturwissenschaftlich orientierte Forscher suchen nach Korrelationen,
Wissenschaftler, die sich an den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften orientieren,
vor allem nach Kookkurrenzen.
Die Suche nach Kookkurrenzen wird im Hinblick darauf unternommen, dass zwei
Terme auch voneinander abhängig sind, wenn sie häufig gemeinsam auftreten. Damit
liegt dann eine Kollokation (lateinisch: collocatio) vor, wenn z.B. eine
grammatikalische oder semantische Abhängigkeit zweier häufig gemeinsam
auftretender Begriffe erwiesen wird.
b. Methodische Ansätze zur Ermittlung von Kausalitäten
Nachdem die Ziele und die Definition des Kausaldenkens geklärt wurden, geht
es im Folgenden darum zu zeigen, mit welchen methodischen Ansätzen Kausalitäten
ermittelt werden können.
Während Methoden vor allem eine wissenschaftliche Ermittlung von Daten und
Sachverhalten gewährleisten, liefern methodische Ansätze innerhalb eines Faches
Strategien zur Generierung von wissenschaftlichen Theorien.
Das Kausaldenken erfordert verschiedene, sehr komplexe methodische Ansätze,
um Kausalitäten zu identifizieren oder Ereignisse (events) kausal zu erklären.
Diese methodischen Ansätze basieren so wie eigentlich alle methodischen Ansätze
auf entsprechenden wissenschaftstheoretischen Theorien, die insbesondere von
Wissenschaftsphilosophen erarbeitet wurden. Die von
Brady (2011 [2009])
vorgestellten methodischen Ansätze bilden also in diesem Fall im Endeffekt den
Kern von vier Kausalitätstheorien (Salmon 1989), die so operationalisiert
wurden, dass damit die Vorgehensweise bei der Suche nach Kausalitäten in der
Politikwissenschaft vorgegeben werden kann. Dabei geht es innerhalb dieser
Theorien vor allem darum, die Eigenschaften von Kausalität sowie Kriterien
aufzustellen, mit deren Hilfe gültige von ungültigen kausalen Erklärungen
unterschieden werden können.
Der Regularitätsansatz (regularity oder neo-Humean approach) geht auf David
Hume (1989 [1739/1740] und
1999 [1748]) zurück, der kontrafaktische Ansatz
auf eine kontrafaktische Theorie der Kausalität (Hume
1989 [1739/1740] und
1999 [1748],
Mill (1968 [1843]),
Weber 1973c [1906]) sowie insbesondere
Lewis 2001
[1973]), der manipulative Ansatz auf eine entsprechende Kausalitätstheorie
(siehe „Causation and Manipulability“,
Woodward 2013) und der Mechanismus- und
Kapazitätsansatz auf die wissenschaftstheoretischen Überlegungen über kausale
Prozesse (Dowe 2008).
Henry E. Brady (2011 [2009]) hat vier methodische Ansätze vorgestellt, die
alle notwendig sind, um Kausalitäten zu identifizieren oder Ereignisse (events)
kausal zu erklären:
- I. Regularitätsansatz (regularity or neo-Humean approach)
- II. kontrafaktischer Ansatz (counterfactual approach)
- III. manipulativer Ansatz (manipulative approach)
- IV. Mechanismus- und Kapazitätsansatz (mechanism and capacities approach)
„A really good causal inference should satisfy requirements of all four
approaches. Causal inference will be stronger to the extent that they are based
upon finding all the following: (1) Constant conjunction of causes and effects
required by the neo-Humean approach. (2) No effect when the cause is absent in
the most similar world to where the cause is present as requirement by the
counterfactual approach. (3) An effect after a cause is manipulated. (4)
Activities and processes linking causes and effects required by the mechanism
approach“ (Brady 2011 [2009]: 1055).
I. Regularitätsansatz (Regularity or Neo-Humean Approach) zur Ermittlung
von kausalen Regularitäten (Korrelationen)
Mit Hilfe des Regularitätsansatzes wird eine Verbindung oder eine Konjunktion
zwischen zwei Ereignissen (events), technisch gesprochen zwischen zwei Variablen
und deren temporalem Vorkommen, hergestellt. Damit soll also eine regelmäßige
und konstante Korrelation zwischen zwei Ereignissen nachgewiesen werden: „The
regularity approach relies upon the constant conjunction of events and temporal
precedence to identify causes and effects. Its primary tool is essentially the
‘Method of Concomitant Variation’ proposed by John Stuart Mill in which the
causes of a phenomenon are sought in other phenomena which vary in a similar
manner“ (Brady 2011 [2009]: 1083).
Quantitativ-metrische Werkzeuge (Begriffe und Methoden, insbesondere
Korrelations- und Regressionsanalysen) sowie deduktive Argumentationsweisen
ermöglichen die Identifikation von Korrelationen, probabilistischen Gesetzen
oder Regularitäten (regularities). Diese Werkzeuge erlauben aber nicht, falsche
von richtigen Korrelationen oder Wahrscheinlichkeiten zu unterscheiden. Um
zufällige Korrelationen auszuschließen, zwischen denen es keine Kausalitäten
gibt oder geben kann, bedarf es weiterer methodischer Ansätze und zwar sowohl
des kontrafaktischen als auch des manipulativen Ansatzes.
II. Kontrafaktischer Ansatz (Counterfactual Approach) zur Ermittlung von
kausalen Regularitäten (Korrelationen)
Der kontrafaktische Ansatz geht auch auf David Hume (2007 [1739/1740] oder
1989 [1739/1740]), aber auch auf John Stuart
Mill (1968 [1843]) sowie auf
Maximilian Carl Emil Weber und zwar seine Auseinandersetzung mit Eduard Meyer
(Weber 1973g [1906]), vor allem aber auf die Arbeiten von David Lewis (2001
[1973] und 1986) und seine Konzeption von
möglichen Welten zurück. Die
logischen Werkzeuge findet man insbesondere in der Modallogik (Hughes/Cresswell
1978 [1968]).
Mit Hilfe von Experimenten (Gedanken-, aber auch Labor- und Feldexperimenten)
und/oder Simulationen kann man sich mögliche Welten vorstellen, aber auch
innerhalb von Experimenten oder Simulationen künstlich erzeugen, in denen etwa
die Ursache nicht auftaucht, und dann sehen, was passiert und wie die Welt
aussieht. „The counterfactual approach relies upon elaborations of the ‘Method
of Difference’ to find causes by comparing instances where the phenomenon occurs
and instances where it does not occur to see in what circumstances the
situations differ. The counterfactual approach suggests searching for surrogates
for the closest possible worlds where the putative cause does not occur to see
how they differ from the situation where the cause did occur“ (Brady 2011
[2009]: 1083).
Kausalität hat eine symmetrische Eigenschaft zwischen Ursache und Wirkung,
d.h., dass beide, Ursache wie Wirkung, immer vorhanden sein müssen, sowie eine
asymmetrische Eigenschaft; Letztere besteht darin, dass eine Ursache eine
Wirkung hervorruft, aber nicht umgekehrt (Brady 2011 [2009]: 1083).
Mit den regulativen und kontrafaktischen Ansätzen kann man zwar Korrelationen
und Wahrscheinlichkeiten erkennen und damit das gleichzeitige Vorhandensein von
zwei Variablen bestätigen, aber weder die Ursache (unabhängige, erklärende
Variable) noch die Wirkung (abhängige, erklärte Variable) identifizieren, d.h.,
man kann damit die symmetrische, aber nicht die asymmetrische Eigenschaft von
Kausalität erkennen.
III. Manipulativer Ansatz (Manipulative Approach) zur Ermittlung von kausalen
Regularitäten (Korrelationen)
Der manipulative Ansatz, der auch auf Experimente und/oder Simulationen
zurückgreift, soll vor allem die Richtung der Kausalität oder den Zeitpfeil
herausfinden und damit die eine Variable als Ursache und die andere Variable als
Wirkung identifizieren: „In an experiment there is a readily available piece of
information that we have overlooked so far because it is not mentioned in the
counterfactual approach. The factor that has been manipulated can determine the
direction of causality and help to rule out spurious correlation. The
manipulated factor must be the cause“ (Brady 2011 [2009]: 1076).
c. Erster Exkurs: von der Korrelation zur Kausalität oder von der
Regularität auf der Makroebene zum kausalen Prozess auf der Mikroebene.
Paarungsproblem und Ursache-Wirkungs-Mechanismus
Mit den ersten drei Ansätzen hat man erstens Korrelationen auf der Makroebene
ermittelt, zweitens zufällige Korrelationen ausgeschlossen oder nur richtige
identifiziert. Drittens wurde die temporale Frage gelöst, welches Ereignis
vorangeht, damit konnten Ursache und Wirkung identifiziert werden. Hat man aber
auch Kausalitäten gefunden? Nein, „da Korrelationen Erscheinungen nicht
erklären, sondern selbst der Erklärung bedürfen“ (von Beyme 2000 [1972]: 175).
Man hat, anders ausgedrückt, in diesen drei Ansätzen kausale Regularitäten oder
Muster auf der Makroebene und damit nur die nomologische Eigenschaft von
Kausalität ermittelt (Salmon 1989).
Es müssen noch zwei wichtige Fragestellungen geklärt werden: Wie kann man
eine konkrete Korrelation auf der Mikroebene identifizieren? Wie verläuft der
kausale Prozess oder der Ursache-Wirkungs-Mechanismus konkret? Bei der ersten
Frage geht es um die Lösung des Paarungsproblems. Die zweite Frage zielt auf die
ontische Eigenschaft der Kausalität (Salmon 1989: 129 und 182). Man muss also
erstens genau angeben können, wie der Ursache-Wirkungs-Mechanismus oder der
kausale Prozess funktioniert. Erst danach kann man von Kausalität sprechen oder
hat Kausalitäten festgestellt. Damit komme ich zum vierten Ansatz, dem
Mechanismus- und Kapazitätsansatz, sowie zu den dafür notwendigen
qualitativ-mathematischen Werkzeugen (King/Keohane/Verba 1994 und
Brady/Collier
2010 [2004], Kapitel 3.9.1). Die qualitativ-mathematischen Methoden ermöglichen
auf der Mikroebene, das Paarungsproblem sowie das Problem kausaler Komplexität
zu lösen und Wie-Fragen zu beantworten.
Das deduktiv-nomologische Modell (DN-Modell) der Erklärung wurde während des 19.
und 20. Jahrhunderts als die adäquate Vorgehensweise erachtet, von der Makro-
auf die Mikroebene zu schließen oder den Einzelfall unter eine allgemeine
Regularität (Gesetz) zu subsumieren. Warum dies nicht möglich ist oder genauer
gesagt, nur in einer deterministischen Welt möglich ist, zeige ich in einem
anderen Kapitel (Kapitel 3.8).
Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) unterscheidet zwei
Haupttypen kausaler
Erklärung, die sich logisch gesehen wie folgt voneinander unterscheiden:
- Erstens gibt es Erklärungen mit Hilfe von hinreichenden Bedingungen, das
ist der erste Haupttypus von kausalen Erklärungen, damit werden Warum-Fragen
erklärt. Hierunter würden, wenn die vier Ansätze Bradys mit dieser
Terminologie erfasst werden, alle Erklärungen fallen, die aufgrund der
regulativen, kontrafaktischen und manipulativen Ansätze mittels
Korrela-tionsanalysen, Experimenten und Simulationen auf der Makroebene
Regularitäten und damit die nomologische Eigenschaft von Kausalität ermitteln.
- Der zweite Haupttypus von kausalen Erklärungen (genauer gesagt kausale
Mechanismen bzw. kausale Prozesse) enthält Erklärungen mit Hilfe von
notwendigen Bedingungen, damit kann mit Hilfe von Wie-Fragen die ontische
Eigenschaft der Kausalität erkannt werden. Hierzu zählt von Wright auch
quasiteleologische Erklärungen, die primär in den biologischen Wissenschaften
zu Hause sind, eine teleologische Terminologie besitzen und auf kausale
Erklärungen reduziert werden können.
Diese Unterscheidung hat sich nicht durchgesetzt, die Analysen unter anderem
von Wesley C. Salmon (vgl. „Four Decades of Scientific Explanation“,
Salmon 1989) waren einflussreicher. Diese Analysen nehmen eine ähnliche Differenzierung
vor, sind aber weniger an logischen Aspekten oder Argumentationsweisen wie die
Analysen von Wright, sondern mehr an einer Theorie der Kausalität interessiert.
Salmon nimmt Bezug auf Carnaps „Logical Foundations of Probability“ (Carnap 1963
[1950]) und unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen von Erklärungen: „Let
us identify explanation1 with causal/mechanistic explanation. It could fairly be
said, I believe, that mechanistic explanations tell us how the world works.
These explanations are local sense […] they explain particular phenomena in
terms of collections of particular causal processes and interactions […].
Explanation2 then becomes explanation by unification. Explanation in this sense
is, as Friedman emphasized, global; it relates to the structure of the whole
universe“ (Salmon 1989: 184).
Diese beiden Formen von Erklärungen sind nicht inkompatibel miteinander,
weil sie unterschiedliche Fragen behandeln, einmal die Warum-Frage, ein
andermal die Wie-Frage: „These two ways of regarding explanation are
not
incompatible with another; each one offers a reasonable way of construing
explanations. Indeed, they may be taken as representing two different, but
compatible, aspects of scientific explanation“ (Salmon 1989: 183).
Die Szientisten arbeiten mit einer naturalistischen Methodologie und wollen,
wie oben ausführlich erläutert, mit Hilfe von Kausalanalysen die Welt erklären.
Die Orientierung an der Physik ist im 20. Jahrhundert der Ausrichtung an der
Biologie gewichen, dabei geriet vor allem die Mikroebene verstärkt in den
Mittelpunkt und das DN-Modell der Erklärung wurde obsolet, d.h., dass das
Paarungsproblem auf der Mikroebene nicht per Subsumtion gelöst werden kann
(Kapitel 3.8). Allein schon deswegen sind unabhängige Untersuchungen auf der
Mikroebene erforderlich. Hinzu kommt dann noch ein weiteres Problem.
Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist es offensichtlich, dass man
neben Korrelationsanalysen auf der Makroebene auch auf der Mikroebene kausale
Ursache-Wirkungs-Mechanismen erforschen muss, weil man neben dem nomologischen
auch einen ontischen Erklärungsansatz braucht, denn nur so ist der Weg von der
Korrelation zur Kausalität erfolgreich: „[T]he sharply falling barometric
reading is a satisfactory basis for predicting a storm, but contributes in no
way to the explanation of the storm. The reason is, of course, the lack of a
direct causal connection. For the ontic conception, therefore, mere subsumption
under a law is not sufficient for explanation. There must be, in addition, a
suitable causal relation between the explanans and the explanandum“ (Salmon 1989: 129-130).
Anders ausgedrückt, Kausalität hat neben der nomologischen auch eine
ontologische Eigenschaft. Regulative, kontrafaktische und manipulative
Kausa-litätstheorien, die methodisch mit Hilfe von Korrelationsmethoden,
Experimenten und Simulationen generiert werden, können nur den nomologischen
Aspekt von Kausalität nachweisen und die Warum-Frage beantworten. Die Wie-Frage
ist aber eine ontologische Frage und soll vor allem erklären, wie eine Ursache
eine Wirkung hervorbringt: „Now, to explain a fact is to exhibit its underlying
mechanism(s) […]. In all cases we explain facts by invoking some mechanism or
other, perceptible or hidden, known or suspected“ (Bunge 1996: 137).
Es handelt sich da nicht notwendigerweise um mechanische Vorgänge,
Mechanismen im engeren Sinne: „We now understand that mechanism need not be
mechanical: they may be physical, chemical, biological (in particular,
psychological), social, or mixed. They may be natural or artificial: causal or
stochastic or a combination of the two; pervasive or idiosyncratic, and so on.
The only condition for mechanism hypotheses to be taken seriously in modern
science or technology is that it be concrete (rather than immaterial), lawful (rather
than miraculous), and scrutable (rather than occult)“ (Bunge 1996: 138).
IV. Mechanismus- und Kapazitätsansatz (Mechanism and Capacities
Approach) zur Ermittlung von kausalen Prozessen
Um die Frage, wie eine Ursache eine Wirkung hervorbringt, zu beantworten,
wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kausalitätstheorie
weiterentwickelt, dabei steht der kausale Mechanismus oder der kausale Prozess
im Vordergrund. Mit diesem Ansatz will man erklären, wie die Ursache eine
Wirkung generiert: Salmon spricht von „ontic conception of scientific
explanation […]. As this approach had developed by the close of the fourth
decade, it became the causal/mechanical view that is advocated by – among others
– Humphreys, Railton, and me […] this version of the ontic conception has
developed into a view that makes explanatory knowledge into knowledge of the
hidden mechanisms by which nature works. It goes beyond phenomenal descriptive
knowledge into knowledge of things that are not open to immediate inspection.
Explanatory knowledge opens us the black boxes of nature to reveal their inner
workings. It exhibits the way in which the things we want to explain come about.
This way of understanding the world differs funda-mentally from that achieved by
way of the unification approach. Whereas the unification approach is ‘top-down’,
the causal/mechanical is ‘bottom-up’“ (Salmon 1989: 182-183).
Bevor ich eine qualitativ-mathematische Methode, um kausale Mechanismen zu
ermitteln, erörtere, soll zuerst eine qualitativ-mathematische Methode
vorgestellt werden, mit deren Hilfe das Paarungsproblem sowie das Problem
kausaler Komplexität gelöst werden.
Im Folgenden beleuchte ich, wie die Szientisten im 21. Jahrhundert dieses
sogenannte Paarungsproblem (pairing-problem) auf der Mikroebene lösen.
Einfacher gesagt, man muss auch auf der Mikroebene methodisch eine Korrelation
nachweisen oder anders ausgedrückt ein konkretes Paarungsproblem lösen. Auf der
Makroebene werden nur Regularitäten nachgewiesen und keine konkrete Kausalität
betreffend einen Einzelfall.
Das Paarungsproblem und das Problem kausaler Komplexität kann man mit Hilfe
von QCA (Qualitative Comparative Analysis,
Wagemann 2015) lösen. Diese
qualitativ-mathematische Methode, nicht zu verwechseln mit den
qualitativ-interpretativen Methoden (Kapitel 3.9), wurde seit den 70er Jahren
entwickelt. Mit dieser Methode kann man nachweisen, dass eine auf der Makroebene
festgestellte Regularität in einem partikularen Fall auf der Mikroebene am Werke
ist. Damit dies gelingt, muss die oft vorhandene kausale Komplexität entwirrt
werden, wobei die Komplexität in mehreren Hinsichten besteht (Moses/Knutsen 2012
[2007]: 311, Wagemann 2015: 441):
Multikollinearität (multicollinearity)
existiert dann, wenn mehrere Bedingungen nicht isoliert, sondern parallel
auftauchen. Äquifinalität (equifinality) ist dann gegeben, wenn ein
Ereignis auf verschiedenen, alternativen und gleichwertigen Wegen erreicht
werden kann. Multifinalität (multifinality) besagt, dass eine unabhängige
Variable verschiedene Wirkungen (outcomes) verursachen kann. Von
asymmetrischer Kausalität spricht man, wenn die Erklärung eines Phänomens nicht
automatisch auch die Abwesenheit des Phänomens erklärt, dass etwa
„Negativentscheidungen nicht automatisch durch das Fehlen der Bedingungen von
Positiventscheidungen erklärt werden können“ (Wagemann 2015: 442).
Andrew Bennett erläutert, wie man mit der Prozessanalyse eine Kausalität auf
der Mikroebene identifizieren kann, auch wenn es sich dabei um komplexe kausale
Strukturen handelt (Bennett 2010 [2004],
2010 [2008] sowie Starke 2015): „[P]rocess
tracing is a powerful means of discriminating among rival explanations of
historical cases when these explanations involve numerous variables“ (Bennett 2010 [2004]: 219). Dabei kann die Prozessanalyse auf verschiedene Tests
zurückgreifen: „[P]rocess tracing involves several different kinds of empirical
tests, focusing on evidence with different kinds of probative value. Van Evera
(1997: 31-32) has distinguished four such tests that contribute in distinct ways
to confirming and eliminating potential explanations“ (Bennett 2010 [2004]:
210).
Die Ermittlung einer Kausalität auf der Mikroebene wollen Szientisten durch
neue Observationen erreichen. Ein zentrales Ziel des Bandes „Rethinking Social
Inquiry. Diverse Tools, Shared Standards“ (Brady/Collier 2010 [2004]) besteht
darin, mit Hilfe von causal-process observations (CPOs) auf der Mikroebene eine
konkrete Korrelation zwischen zwei Ereignissen oder einen konkreten kausalen
Prozess zu identifizieren. Diese CPOs sollen data-set observations ergänzen, die
man in Korrelations- und Regressionsanalysen auf der Makroebene braucht. So
erläutert Brady in einem Beitrag dieses Bandes, dass eine mittels Regressanalyse
ermittelte kausale Regularität in einem konkreten Fall nicht vorhanden ist, und
beweist damit die Notwendigkeit von Einzelfallanalysen auf der Mikroebene (Brady
2010 [2004]). Die Unterscheidung zwischen data-set observation (DSO) und
causal-process observation (CPO) wird anderswo ausführlich erörtert (Kapitel
3.9).
Damit sind wir noch immer nicht bei der Kausalität angekommen, sondern es
wurde nur eine konkrete Korrelation nachgewiesen. Wie wichtig die ontische
Dimension der Kausalität ist, kann man auch dadurch ersehen, dass man mit Hilfe
von statistischen und komparativen Methoden neben dem Paarungsproblem auch noch
zwei weitere Probleme aus prinzipiellen Gründen nicht lösen kann. Diese Probleme
werden von Brady nicht besprochen. Es handelt sich um das Galton-Problem (Galton’s
problem), das zweite Problem nenne ich das Mill-Problem, beide betreffen
sowohl statistische als auch komparative Methoden.
Wissenschaft ist gekennzeichnet durch Spezialisierung, daher steht die
Reduktion von Komplexität generell am Anfang jeder wissenschaftlichen Arbeit.
Dabei muss jeder Wissenschaftler auf das ockhamsche Rasiermesser zurückgreifen.
Leider gibt es nun keine sichere Methode, wie man wichtige von unwichtigen
Faktoren trennen kann. Ein zentrales Ziel von King, Keohane und Verba ist gerade
herauszufinden, wie man wichtige Faktoren herausfiltern kann (King/Keohane/Verba
1994). Auch die Weiterentwicklung dieses Ansatzes von
Brady und Collier (2010
[2004]) geht dahin, Hinweise zu erarbeiten, wie man wichtige (DSOs und CSOs) von
unwichtigen Informationen trennt.
Trotz aller Vorsicht kann es nämlich immer vorkommen, dass man einen dritten
Faktor übersieht oder ignoriert, d.h., dass er wegrasiert wird, oder dass er
schlicht noch nicht erkannt wurde. Damit ist das Galton-Problem schon
beschrieben: „[A]ffected by some unidentified (underlying or lurking) third
factor (in other words, Galton’s Problem)“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 105).
Das nächste Hauptproblem ist das Mill-Problem. Statistische und komparative
Methoden können keine Notwendigkeit zwischen den untersuchten Variablen angeben:
„Mill believed that the main problem with this method is its inability to
establish any necessary link [eigene Hervorhebung] between cause and effect“
(Moses/Knutsen 2012 [2007]: 105).
Der Weg von der Korrelation zur Kausalität kann also nicht allein mit Hilfe
von Makroanalysen bestehend aus hypothesenprüfenden Verfahren geführt werden,
sondern erfordert zwingend Mikroanalysen. Mit Makroanalysen kann man höchstens
die Warum-Frage und damit die nomologische Eigenschaft klären (Rauchen führt zu
Lungenkrebs), aber nicht die Wie-Frage oder die ontische Eigenschaft: Wie
funktioniert der biologische Ursache-Wirkungs-Mechanismus konkret oder wie kann
Rauchen Lungenkrebs verursachen? Auf der Makroebene werden
quantitativ-mathematische Methoden eingesetzt auf der Mikroebene
qualitativ-mathematische Methoden (nicht zu verwechseln mit den
qualitativ-interpretativen Methoden, siehe
Kapitel 3.9), z.B. Prozessanalyse
(Bennett 2010 [2004] und
2010 [2008],
Starke 2015) und Qualitative Comparative
Analysis (QCA), die in Fallstudien oder Small-N-Studien zur Ermittlung von
konkreten Ursache-Wirkungs-Mechanismen angewendet werden.
An einem Beispiel sollen nun die vier methodischen Ansätze zur Ermittlung der
Kausalität geschildert werden. Mit dem Regularitätsansatz kann man z.B.
herausfinden, dass zwischen Rauchen und Lungenkrebs eine Korrelation,
Regularität oder ein probabilistisches Gesetz besteht. Mit dem kontrafaktischen
Ansatz kann man zeigen, dass es sich um keine zufällige Korrelation handelt, und
der manipulative Ansatz ermöglicht, das Rauchen als Ursache (Bedingung) für
Lungenkrebs (Wirkung) zu identifizieren, genauer gesagt wird gezeigt, welches
temporale Vorkommen zwischen diesen beiden Variablen besteht. Da per
definitionem die Ursache der Wirkung vorangeht, können auch Ursache und Wirkung
identifiziert werden.
Es ist aber noch überhaupt nicht erklärt, wie oder welcher Mechanismus am
Werke ist. Erst wenn dies gelungen ist, ist eine kausale Erklärung vollständig.
Weiterhin ist damit die Komplexität der diesbezüglichen kausalen Relationen noch
bei weitem nicht aufgeklärt. Weitere Kausalanalysen können nachweisen, dass auch
andere Umweltverschmutzungen als Rauchen zu Lungenkrebs führen (Äquifinalität)
und dass einige Menschen trotz intensiven Rauchens nicht an Lungenkrebs
erkranken und andere, die nicht rauchen, Lungenkrebs bekommen (asymmetrische
Kausalität). Anders ausgedrückt: Verschiedene Wirkungen können eine
gemeinsame
Ursache haben (Äquifinalität) und umgekehrt kann eine Ursache
in
Kombination mit anderen Bedingungen verschiedene Wirkungen hervorbringen (Multikollinearität,
conjunctural causality). Damit sind wir beim Paarungsproblem (pairing-problem)
angekommen. Wenn nun jemand an Lungenkrebs stirbt, der geraucht hat, dann bleibt
die Frage, was die Todesursache war: Rauchen oder andere Umwelteinflüsse (Multikollinearität).
Die Methodologen, die qualitativ-mathematische Methoden einsetzen (King/Keohane/Verba
1994, Brady/Collier 2010 [2004]), vertreten eine naturalistische
Methodologie in Reinkultur. Sie haben den Schwenk der Wissenschaftstheorie von
der Physik zur Biologie vollzogen, bringen sogar, wenn sie den Typus
qualitativ-mathematischer Methoden erläutern, Beispiele aus der Medizin und der
Biologie (so auch Freedman 2010 [2004]). Genau diese Weiterentwicklung bei den
Szientisten haben die Perestroikans und die überwiegende Mehrheit der
Interpretivisten nicht mitbekommen.
Für diese Untersuchung ist Folgendes wichtig: Die Existenz von vielfältigen
qualitativ-mathematischen Methoden zur Ermittlung von Kausalitäten auf
Mikroebene innerhalb von Einzelfallstudien (case studies) und Small-N-Studien
zeigt, dass auch Szientisten nicht nur nomothetischen, sondern auch
idiographischen Untersuchungen nachgehen, genau dies bestreiten die
Perestroikans (Kapitel 3.8).
d. Zweiter Exkurs: Korrelation statt Kausalität?
Im Internetzeitalter spielt die logisch-mathematische Methodologie eine
entscheidende Rolle. Unternehmen, die die digitale Internetwirtschaft in unserer
Wissensgesellschaft prägen, arbeiten insbesondere mit Algorithmen und
Korrelationen. Mit Hilfe von mathematischem Modellen, Algorithmisierung sowie
Diskretisierung – der Gewinnung von endlich vielen, diskreten Daten aus
kontinuierlichen und unendlichen Informationen – will man aus einer großen
Datenflut (data deluge oder big data) Wissen ermitteln. Da bleibt
es nicht aus, dass dem Kausaldenken ein prominenter Platz zukommen sollte.
Im Folgenden soll ein Vorschlag zur revolutionären Weiterentwicklung
wissenschaftlicher Methodologien und Theorien erörtert werden, der eine
Ersetzung der Kausalität durch Korrelation vorschlägt (correlation supersedes
causation), daher stehen diese Fragen im Mittelpunkt: Zurück zur
Korrelation? Reicht allein die Korrelation, um aus der Datenflut Wissen zu
generieren?
Chris Anderson, der ehemalige Chefredakteur des Magazins „Wired“ (die führende
Szenezeitschrift aller Internetpropheten), hält die Methodologie der
Wissenschaften für veraltet und fordert, dass die Wissenschaftler sich an Google
orientieren sollten. Google verfüge nicht nur über eine Menge Daten, die den
Rohstoff des Informationszeitalters bilden, sondern könnte die Datenflut auch
besser in Wissen verwandeln.
Sowohl wissenschaftliche Theorien als auch die wissenschaftliche Methodologie
seien veraltet, Korrelationen innerhalb der gesammelten Datenflut sollten
Kausal-analysen ersetzen: „The End of Theory. The Data Deluge makes the
Scientific Method obsolete“ (Anderson 2008), lautet der programmatische Titel
seines Aufsatzes.
Anderson meint, dass man Kausalitäten durch Korrelationen ersetzen kann.
Aufgrund der schieren Masse an Daten kann man sowohl auf semantische als auf
kausale Analysen verzichten: „Petabytes allow us to say: Correlation is enough
[…]. We can throw the numbers into the biggest computing clusters the world has
ever seen and let statistical algorithms find patterns where science cannot […].
The new availability of huge amounts of data, along with the statistical tools
to crunch these numbers, offers a whole new way of understanding the world.
Correlation supersedes causation, and science can advance even without coherent
models, unified theories, or really any mechanistic explanation at all“
(Anderson 2008).
Theorie wird von Anderson eben nicht gemeuchelt, obwohl der Titel (The End of
Theory) dies nahelegt. Auch auf dem von Anderson vorgeschlagenen
reduktionisti-schen Weg mittels Korrelation aus der Datenflut werden ja Theorien
generiert, nur nicht mit Hilfe von kausalen Analysen, sondern mittels
Korrelationen.
Verworfen wird die wissenschaftliche Methodologie, mittels Hypothesen und
Experimenten Theorien zu generieren: „The Data Deluge makes the Scientific
Method obsolete“, so der Untertitel des Aufsatzes. „Google’s founding philosophy
is that we don’t know why this page is better than that one: If the statistics
of incoming links say it is, that's good enough. No semantic or causal analysis
is required“ (Anderson 2008).
Die besseren Erklärungen liefern die Nutzer und nicht Google. Anderson
übersieht, dass zwar nicht Google, aber die Nutzer sehr wohl semantische oder
kausale Analysen machen. Jeder Leser führt diese Analysen durch und/oder
bestätigt mit einem Link darauf die Analysen. Google bewertet nur die
quantitativen Hinweise, es erfolgt keine inhaltliche Auseinandersetzung. Wie
oben bei den erläuterten Ansätzen zur Identifikation von Kausalität gezeigt
wurde, reicht der Regularitätsansatz bei weitem nicht aus. Wichtig ist ja nicht
nur zu erfahren, welche Variablen miteinander korrelieren, sondern auch welches
die Ursache und welches die Wirkung ist. Weiterhin ob es sich in einem konkreten
Fall um eine Regularität handelt und wenn ja um welche. Am obigen Beispiel: Hat
Rauchen oder Umweltverschmutzung in einem konkreten Fall zu Lungenkrebs geführt?
Wie funktioniert der biologische Mechanismus dazu? Dies sind Fragen, die man mit
einer größeren Datenflut nicht beantworten kann.
„The new availability of huge amounts of data, along with the statistical
tools to crunch these numbers, offers a whole new way of understanding the world.
Correlation supersedes causation, and science can advance even without coherent
models, unified theories, or really any mechanistic explanation at all“
(Anderson 2008).
Wer nur Korrelationen angeben kann und keine Kausalität, der versteht den
Ursache-Wirkungs-Mechanismus nicht, der kann die Wie-Frage, wie der biologische
Mechanismus funktioniert, überhaupt nicht beantworten. Er kann zwar sagen, dass
Rauchen und Lungenkrebs korrelieren, aber nicht, ob es sich dabei um eine nicht
zufällige Korrelation, sondern um eine Kausalität handelt. Weiterhin kann man
nicht einmal die Warum-Frage in einem konkreten Einzelfall eindeutig
entscheiden, weil das Paarungsproblem nicht gelöst werden kann.
Korrelationsanalysen sind insbesondere im regulativen Ansatz notwendig,
können aber nicht ausreichend zur Erklärung der Wirklichkeit beitragen. Google
liefert, wenn es hochkommt bzw. innerhalb des Unternehmens überhaupt welche
entwickelt wurden, die „better analytical tools“, wobei Korrelationsanalysen in
allen Wissen-schaften schon seit Jahrzehnten zum Standard gehören. Wer da bei
wem abschreiben sollte, ist klar, zumal die Google-Forscher ihr wichtigstes
Handwerk nicht bei Google, sondern nach wie vor in Universitäten lernen. Google
liefert nur die technischen und wirtschaftlichen Mittel, die in Universitäten
erlernten Korrelationsmethoden anzuwenden.
Anders ausgedrückt, Google lässt die wichtigsten und entscheidenden Analysen
von den Nutzern machen. Google selber präsentiert nur die Ergebnisse anderer
Menschen Arbeit: „Out with every theory of human behavior, from linguistics to
sociology. Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do
what they do? The point is they do it, and we can track and measure it with
unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves“
(Anderson 2008).
Auch hier vertraut Google nicht nur auf die große Zahl, sondern darauf, dass
die Mehrheit der Nutzer die Resultate aufgrund deren personaler Kompetenz gut
beurteilt. „That’s why Google can translate languages without actually ‘knowing’
them (given equal corpus data, Google can translate Klingon into Farsi as easily
as it can translate French into German). And why it can match ads to content
without any knowledge or assumptions about the ads or the content“ (Anderson 2008). Die Qualität der Google-Übersetzungen spricht nicht gerade für eine
hervorragende Qualität der Korrelationsanalysen. Im Gegenteil, die Übersetzungen
zeigen, dass sehr wohl weitergehende semantische Analysen notwendig sind.
Eine Revolution von der Kausalität zurück zur Korrelation würde eher einen
wissenschaftlichen Rückschritt statt Fortschritt bedeuten. Die Steigerung der
Quantität der Daten kann nicht zu einer neuen Qualität bei Korrelationsanalysen
führen, genauer der Weg von der Korrelation zur Kausalität kann weder mittels
der drei oben erläuterten Korrelationsansätze (regulativer, kontrafaktischer und
manipulativer) ermittelt werden noch deduktiv mit Hilfe des
deduktiv-nomologischen Modells. Korrelationen können daher Kausalitäten nicht
ersetzen. Die ontische Eigenschaft der Kausalität, d.h. die genaue Erläuterung
des kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismus (causal mechanism), kann nicht
mittels Korrelationsanalysen ermittelt werden.
Für eine gehaltvolle Erkenntnis der Welt bedarf es aber neben Kausalanalysen
auch der Erforschung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen. Letzteres wird
jetzt im nächsten Abschnitt behandelt.
C. Wissensgenerierung oder Welterkennung als Weltinterpretation,
Weltdeutung oder Weltbeschreibung mittels Sprache: Ermittlung von (sichtbaren)
Phänomenen innerhalb von interpretativen Geistes- und Kulturwissenschaften
(Humanities)
Der „Methodenstreit“ begann zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf der
wissenschaftstheoretischen (axiologischen, epistemischen, methodologischen und
ontologischen) Ebene (Dilthey 1922 [1883],
Rothacker 1926,
Rickert 1910 [1896],
Windelband 1900 [1894],
Weber 1973b
[1903-1906],
Weber
1973c [1904],
Weber
1973d [1917],
Weber
1973e [1919]), Weber
1973g [1906].
Danach verlagerte er sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor
allem auf die Methodenebene im engeren Sinne und zwar zwischen quantitativen und
qualitativen Methoden. Die Szientisten haben in den Titeln ihrer Methodenbücher
selten darauf hingewiesen, dass es dabei um quantitativ-mathematische Methoden
geht (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]). Ganz anders die
qualitativen Forscher, die sich fast immer von der anderen Seite demonstrativ
absetzen. Diese weisen schon im Titel ihrer Bücher darauf hin, dass es sich um
Handbücher für qualitative Forschung (qualitative Research or Inquiry) handelt
(Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000],
Flick 2008 [2002],
Denzin/Lincoln 1994,
Creswell 2013 [1998],
Blatter/Janning/Wagemann 2007).
Seit der letzten Jahrhundertwende wurde der „Methodenstreit“ von den
Interpretivisten und den Perestroikans wieder von der Methodenebene mehr auf die
wissenschaftstheoretische Ebene verlagert. Daher fehlt das Wort „interpretative“
kaum in methodologischen Handbüchern im Titel (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009,
Rosenthal 2014 [2005],
Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006],
Bevir/Rhodes 2016a). Bei
den phronetischen Perestroikans findet man einen Titel wie „Real Social Science“
(Flyvbjerg/Landman/Schram
2012a).
Zwei Gründe haben zu dieser Entwicklung geführt. Einmal war es die
Erkenntnis, dass man quantitative und qualitativ-interpretative Methoden sowohl
für Kausalanalysen als auch für Sinnstiftung (sense making, meaning
making) einsetzen kann. Zweitens kamen methodologische Innovationen seit den
70er Jahren hinzu, die zu einer Etablierung von, wie ich sage (Kapitel 3.9),
einer qualitativ-mathematischen Forschungsmethodologie beitrugen. Moses und
Knutsen machen dies vor allem an der Qualitative Comparative Analysis (QCA) fest
und verweisen insbesondere auf die Arbeiten von Charles Ragin und die
Internetseite www.compass.org, damit sei die Lücke zwischen Small-N-Studien und
Large-N-Studien geschlossen worden. Daraus schließen sie, dass man kaum mehr von
einer quantitativen und qualitativen Trennung sprechen kann: „This developements
have made it more difficult to refer to a quantitative/qualitative divide in
social science“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 97). Wichtig sind meiner Meinung
noch darüber hinaus vor allem die sehr einflussreichen Handbücher, Mr.
Perestroika würde sagen der Ostküsten-Brahmanen aus Harvard (King/Keohane/Verba
1994) sowie der Westküsten-Brahmanen aus Berkeley (Brady/Collier 2010 [2004]),
die einen dezidiert kausalen Reduktionismus vertreten und die neue
Forschungsmethodologie „qualitativ“ titulieren, obwohl diese
Forschungsmethodologie keinen sprachlich-interpretativen oder hermeneutischen
Hintergrund hat, sondern erstens auf alethische Modallogik und zweitens auf
Mathematik, konkret auf die Mengenlehre, basieren (Kapitel 3.9).
Autoren aller Traditionen, nicht nur Szientisten, wehren sich mittlerweile
völlig zu Recht, den „Methodenstreit“ auf quantitative und qualitative Methoden
zu reduzieren: So wendet sich auch
Flyvbjerg (2006: 56 ff.) dagegen, dass er
quantitative Methoden ablehnen würde, vielmehr trete er für eine Balance
zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden ein.
Es ist meiner Meinung nach zutreffender statt von einem qualitativen und
qualitativen Schisma von einem methodologischen Glaubenskrieg zwischen
Szientisten auf der einen und Interpretivisten, darunter auch phronetische
Perestroikans, auf der anderen Seite zu sprechen. Erstere betreiben
Wissensgenerierung zur Welterkennung und Weltveränderung, indem sie nach
unsichtbaren Kausalitäten mittels einer logisch-mathematischen
Forschungsmethodologie suchen.
Im Folgenden werde ich das Forschungsprogramm der Interpretivisten beschreiben:
Welterkennung als Weltbeschreibung oder Weltinterpretation mittels einer
sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie (a). Danach werde ich zeigen,
dass es sich bei diesen beiden Formen der Welterkennung nicht um gegensätzliche
Methodologien handelt, sondern dass diese auch komplementär betrieben werden
können, ja sogar betrieben werden müssen (b).
a. Welterkennung als Weltinterpretation, Weltdeutung, Weltbeschreibung von
(sichtbaren) Phänomenen mittels Sprache: Deutung und (Sinn)Verstehen (Sense Making,
Meaning Making) innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities):
hermeneutische, phänomenologische und strukturalistische Erforschung von
Bedeutungen und Sinnzusammenhängen
Während die einen (Kausalisten, Szientisten
oder (Neo-)Positivisten) nur nach kausalen Erklärungen suchen, kritisieren
andere dies. Innerhalb der aristotelischen Tradition werden auch teleologische
Relationen (von Wright (1974 [1971]) untersucht. In der galileischen Tradition
meint man, dass man teleologische auf kausale Relationen reduzieren kann.
Weitaus wichtiger wurde die Gegenüberstellung von kausalen Analysen mittels
logisch-mathematischer und quantitativer Forschungsmethodologie auf der einen
Seite und die Erforschung von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen mit Hilfe einer
sprachlich-interpretativen, hermeneutischen oder phänomenologischen,
qualitativen Forschungsmethodologie auf der anderen Seite. Während Forscher, die
die erste Vorgehensweise bevorzugen, sich an den Naturwissenschaften
orientieren, wurde die zweite Vorgehensweise innerhalb der Geistes- bzw.
Kulturwissenschaften (Humanities) erarbeitet (eine Gegenüberstellung findet man
im 2. Schaubild sowie im
6. Schaubild und
7. Schaubild).
In den USA macht sich dies auch sprachlich an den Namen der Institute
(Departments) deutlich, einmal Sozialwissenschaften (social sciences) und
andererseits Humanities. Politikwissenschaftler, die sich den
Sozialwissenschaften zugehörig fühlen, orientieren sich an den
Naturwissenschaften, indem sie mittels einer logisch-mathematischen
Forschungsmethodologie nach Kausalitäten suchen. Einen Überblick über ihre
Methodologie findet man, wie oben gesagt, im Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]).
Hans Albert weist auf hypothesenorientierte versus begriffsorientierte
Vorgehensweisen hin und nennt damit eine weiteren Unterschied zwischen denen,
die sich an den Naturwissenschaften, und denen, die sich an den
Geisteswissenschaften orientieren: „Die wissenschaftliche Forschung in diesem
Bereich ist, soweit sie theoretische Relevanz haben soll, im allgemeinen nicht,
wie in den Naturwissenschaften, hypothesenorientiert, sondern begriffsorientiert“
(Albert 1967c [1965]: 419).
Beide Methodologien haben Grenzen: Sofern eine Immunisierung gegenüber der
Erfahrung (Tatsachen) stattfindet, spricht Albert bei der Ersteren von den
Gefahren eines „Modell-Platonismus“, bei Letzteren von den Gefahren eines
„Begriffsrealismus“ (Albert 1967c [1965]: 420, Details zum Modell-Platonismus in
Kapitel 3.10).
Auch Theoretiker (undisciplined political theorists), die sich vor allen an
Hermeneutikern und Phänomenologen und damit nicht an den Naturwissenschaften,
sondern an den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (Humanities) orientieren,
können auf eine sehr differenzierte und ausgearbeitete Methodologie
zurückgreifen (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000],
Flick 2008 [2002],
Denzin/Lincoln
1994, Creswell 2013 [1998],
Blatter/Janning/Wagemann 2007,
Kleemann/Krähnke/Matuschek
2009).
Manche qualitativ-interpretative Forscher unterscheiden drei
Forschungs-perspektiven und weisen damit auf Phänomenologie, Ethnomethodologie,
Hermeneutik, Strukturalismus, symbolischen Interaktionismus, Konstruktivismus,
Cultural Studies, Geschlechterforschung und Evolutionsforschung hin: „Zugänge zu
subjektiven Sichtweisen“, zweitens „Beschreibung von Prozessen der Herstellung
sozialer Situationen“ und drittens „[h]ermeneutische Analyse tiefer liegender
Strukturen“ (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000]: 19).
John W. Creswell zählt folgende wissenschaftstheoretischen Grundlagen
(interpretative Frameworks) qualitativer Forschung auf: Postpositivism,
Social
Constructivism, Transformative Frameworks, Postmodern Perspectives,
Pragmatism,
Feminist Theory, Critical Theory and Critical race Theory (CRT),
Queer Theory,
Disability Theory (Creswell 2013 [1998]: 22 ff.). Damit könnten fünf qualitative
Ansätze begründet werden: Narrative Research, Phenomenology,
Grounded Theory,
Ethnography, Case Study.
Das Ziel qualitativ-interpretativer Forschung besteht vornehmlich darin,
Deutungen und Sinnzusammenhänge mittels einer sprachlich-interpretativen
Forschungsmethodologie herauszuarbeiten. Ein weiteres vor allem
politisch-praktisches Ziel ist es, problemorientierte, wertorientierte
Forderungen zu formulieren, wobei im Unterschied zu den Szientisten zwischen
Sein und Sollen nicht unterschieden wird und daher auch sehr selten praktische
Ansätze und Methoden formuliert werden. Die phronetischen Perestroikans tun dies
mit der angewandten Klugheit, daher habe ich auch diese als paradigmatisches
Beispiel für die aristotelische Tradition ausgesucht.
Während Hermeneutiker annehmen, dass der Sinn von Texten ermittelbar ist, gehen
Dekonstruktivisten davon aus, dass es ein „nie völlig ausleuchtbare[s] Gewebe
von Quer- und Sinnbezügen gibt“ (Ruffing 2005: 237). Jacques Derrida grenzt sich
wie folgt von Gadamers Hermeneutik ab: „Die Hermeneutik ist eine allgemeine
Praxis der Lektüre oder Entzifferung eines religiösen, literarischen oder
philosophischen Textes, die voraussetzt, dass sich der Text in einem bestimmten
Sinn lesen lässt und dass man, wenn man die Tiefgründigkeit des Textes
berücksichtigt, zwangsläufig zum Sinn, zum Inhalt und zur Bedeutung des Textes
gelangt. Ich habe sehr viel Achtung vor der Hermeneutik und halte eine
hermeneutische Wissenschaft auf allen Gebieten immer für notwendig. Aber die
Dekonstruktion ist keine Hermeneutik, weil der Sinn als letzte Schicht des
Textes immer geteilt und vielfältig ist und sich nicht zusammenfügen lässt“
(zitiert nach Ruffing 2005: 237).
Derrida ist auch in einem anderen Zusammenhang für die Perestroikans sowie
die Interpretivisten wichtig und zwar, weil er die Bedeutung des Kontextes
problematisiert: „Der Satz, der für manche gleichsam zum Slogan der
Dekonstruktion geworden ist […] es gibt kein außerhalb des Textes ‚il n’y a pas
de hors texte‘, heißt nichts anders als: Es gibt kein außerhalb des Kontextes
‚il n’y a pas de hors contexte‘“ (zitiert nach
Ruffing 2005: 236). Die
Perestroikans kritisieren, wie geschildert, die Kausalisten, weil diese
angeblich den Kontext überhaupt nicht beachten.
Die Ergebnisse, die Politikwissenschaftler mittels einer
sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie erlangt haben, werden in den
unterschiedlichen Bänden des Oxforder Handbooks of Political Science
aufgenommen. Die Methodologie, mit deren Hilfe die sprachlich-interpretativen
Theorien generiert wurden, wird hingegen nicht im Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]) erläutert.
Zwar behauptet Robert Edward Goodin, der Herausgeber (General Editor) der
elfbändigen Reihe „The Oxford Handbook of Political Science“, in seinem „State
of the Discipline“, dass er gegen ein „Either-Or“ (Goodin 2011b [2009]: 9) ist
und auch die anderen Autoren des Handbuchs eine pluralistische Methodologie
vertreten. Der 10. Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]) spricht aber eine andere Sprache; dieser enthält einen
herausragenden Überblick über den kausalen und empirischen Reduktionismus und
dessen Methodologie, bestehend aus deduktiven und induktiven
Argumentationsweisen, quantitativ-mathematischen und qualitativ-mathematischen
Methoden sowie empirischen und praktischen (normativen) methodischen Ansätzen,
innerhalb der Politikwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Erörterungen
über Bedeutungen und Sinnzusammenhänge fehlen ebenso wie ein Überblick über
sprachlich-interpretative Werkzeuge (Begriffe, Argumentationsweisen, Methoden
oder methodische Ansätze).
Die Kritik der Perestroikans an der methodologischen Engführung
(Konzentration auf die logisch-mathematische Forschungsmethodologie) der
Szientisten ist berechtigt. Es ist hier indes nicht der Ort, die vielfältige
sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie zu erörtern. Von Bedeutung für
den hier behandelten „Methodenstreit“ ist Folgendes: Die Perestroikans weisen
immer auf die Bedeutung der Mikroebene, des Kontextes sowie von detaillierten
Fallanalysen oder Fallstudien (case studies) hin, die angeblich von den
Positivisten ignoriert werden, da sie nur auf die Makroebene und die dort
angesiedelten Gesetze schauen (Flyvbjerg 2001: 26,
Schram 2003: 836).
Diese Kritik ist mittlerweile obsolet. Wie oben geschildert, spielen die
Mikroebene sowie Fallstudien, Experimente und Simulationen im Mechanismus- und
Kapazitätsansatz für die Ermittlung von Kausalitäten eine entscheidende Rolle.
Inwieweit die jahrzehntelange Kritik zur Wandlung des Kausalitätskonzeptes sowie
zur Etablierung einer qualitativ-mathematischen Methodologie beigetragen hat,
kann hier nicht erörtert werden. Die Grenzen der quantitativen
Forschungsmethodologie wurden aber auch von quantitativen Forschern thematisiert
und daher auch qualitative Wege zu deren Überwindung erarbeitet, die sich
ausdrücklich der logisch-mathematischen Forschungsmethodologie verpflichtet
fühlen (King/Keohane/Verba 1994 und
Brady/Collier 2010 [2004]).
Sehr bedauerlich allerdings ist, dass diese Methoden zur Ermittlung von
Kausalität auf der Mikroebene auch das Adjektiv „qualitativ“ bekommen haben und
es deshalb zu vielen vermeidbaren Missverständnissen kommt (Kapitel 3.9).
b. Komplementarität zwischen Beschreibung (Description) und
Erklärung (Explanation)
Seit dem 19. Jahrhundert wird zwischen Beschreibungen und Erklärungen
unterschieden. Geistes- und Kulturwissenschaften liefern vor allem
Beschreibungen und wollen damit die Welt deuten oder verstehen;
Naturwissenschaften generieren Erklärungen sowie Prognosen und wollen die Welt
erklären oder Prognosen erstellen. Erstere verwenden in der Regel
qualitativ-interpretative Methoden zur Generierung von Beschreibungen von
Erscheinungen (Phänomenen), Letztere quantitativ-mathematische Methoden für die
Erstellung von unsichtbaren Erklärungen. Inwieweit man für Erklärungen auch
qualitativ-interpretative Methoden und für Beschreibungen
quantitativ-mathematische Methoden einsetzen kann oder mittlerweile aufgrund der
Datenflut sogar muss, wird in diesem Zusammenhang nicht erörtert.
In seinem Spätwerk unterscheidet
Wittgenstein (1984c [1953]) zwischen Sprach-
und Sachproblemen (Lauer 1987). Sachprobleme gehören Wittgenstein zufolge nicht
zur Philosophie, solche Probleme lösen Naturwissenschaftler mit Hilfe von
naturwissenschaftlichen Erklärungen. Allein Sprachprobleme will er lösen oder
besser gesagt therapieren.
Bei Bacon (1990 [1620]) wird das Wort „Interpretatione“ in einem sehr
umfassenden Sinne gebraucht. Auch das Wort „Erklärung“ kann erstens in einem
sehr umfassenden Sinn gebraucht werden und kann dann synonym zur Interpretation,
wie Bacon das Wort verwendete, benutzt werden. Zweitens wird es in einem sehr
engen Sinne verwendet, so wie mittlerweile die Szientisten dies tun (Kapitel
3.1.2, B).
Wenn es um die Therapie sprachlicher, insbesondere philosophischer Probleme
geht, benutzt Wittgenstein Erklärungen im Sinne von Klärung. Es handelt sich
dabei nicht um empirische Probleme, sondern um sprachliche Probleme
(Wittgenstein 1984c [1953]: §§ 109, 133, 383,
Wittgenstein 1984b [1922]: 4.0031,
4.003(2), 6.5 (2)). Besser ist es hier von Beschreibungen zu sprechen, da es
nicht um kausale Erklärungen geht, sondern darum ein Sinnverstehen zu
ermöglichen: „Philosophie klärt die Grenzen des Sinnes. Sie klärt, welche Fragen
und welche Unterscheidungen prinzipiell sinnvoll sind. Philosophische Erklärung
oder Klärung liefert Verstehen, indem sie eine Übersicht liefert. Daher sei die
Philosophie eine Aktivität der Klärung von Gedanken“ (Lauer 1987: 32). Deshalb
kann eine klare Unterscheidung zwischen Beschreibungen (Klärungen, descriptions)
und kausalen Erklärungen (explanations) bei Wittgenstein identifiziert werden: „Philosophy,
one might claim, explains by description whereas science explains by hypothesis.
Philosophical explanation produces understanding by means of an Übersicht,
scientific explanation produces new knowledge by constructing theories“
(Baker/Hacker 1980: 490).
Auf die Kontroverse zwischen Interpretivisten und Szientisten übertragen,
könnte man sagen, dass es zwischen Beschreibungen und Erklärungen prinzipielle
Unterschiede schon aufgrund der Ziele und deren methodologischer Umsetzung gibt:
Erstens ermöglicht eine empirisch-deskriptive Methodologie eine
Wissensgenerierung oder Welterkennung als Weltinterpretation, Weltdeutung oder
Weltbeschreibung von (sichtbaren) Phänomenen mittels Sprache. Zweitens generiert
eine empirisch-explanative sowie eine empirisch-prognostische Methodologie
Wissen von unsichtbaren Kausalitäten oder Welterkennung als Welterklärung
mittels Logik und Mathematik. Beschreibungen können weder Erklärungen noch
Wertungen rechtfertigen, widerlegen oder durch andere ersetzen. Da es auch
zwischen Erklärungen und Wertungen prinzipielle Unterschiede gibt, ist, wie man
im zweiten Schaubild sehen kann, auch eine dritte Unterscheidung auf der
horizontalen Ebene notwendig: eine praktische Methodologie, um Geltungsfragen
oder Wertfragen zu begründen oder legitimieren.
Eine strukturelle Trennung zwischen Beschreibungen (Klärungen) und Inferenzen
(Erklärungen) hat also einen Wittgenstein-Bias. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass Georg Henrik
von Wright (1974 [1971]) dies ebenfalls
fordert. Von Wright war Wittgenstein-Schüler, Wittgenstein-Nachfolger in
Cambridge und einer von drei Herausgebern von Wittgensteins Nachlass.
Nach Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) geht ein Verstehen einer Erklärung
voraus, d.h., zuerst wird die sichtbare Erscheinung eines Ereignisses
beschrieben (Phänomenologie), danach werden die unsichtbaren Aspekte in Form von
notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Kausalität erklärt. Die
Beschreibung sichtbarer Erscheinungen wird in der Regel mittels
qualitativ-interpretativer Methoden vorgenommen. Die Erklärung der notwendigen
Bedingungen, nach von Wright die Klärung der Wie-Fragen, wird seit den 70er
Jahren innerhalb der Politikwissenschaft mittels qualitativ-mathematischer
Methoden vorgenommen. Die Warum-Fragen oder die hinreichenden Bedingungen werden
mittels quantitativ-mathematischer Methoden ermittelt.
Mario Bunge, ein szientistischer Wissenschaftsphilosoph par excellence, steht
Hermeneutikern, Phänomenologen, Sprachphilosophen und Strukturalisten ableh-nend
bis feindselig gegenüber: „[I]t is not wise for social scientists to leave
philosophy in the hands of philosophers like Husserl and Wittgenstein, who have
never bothered with science in particular with social studies. And it is
downright foolish to seek inspiration in the likes Heidegger and Derrida, who
have written only gibberish, platitudes, or falsities“ (Bunge 1996: 12).
Auch Bunge unterscheidet zwischen Beschreibungen und Erklärungen: „In
particular, objective description should precede everything else, for only a (sufficiently)
true description of a social situation qualifies us in advancing explanatory
hypotheses, identifying social issues, and designing efficient policies or plans
for tackling the latter“ (Bunge 1996: 135). Erklärungen beantworten vor allem
Warum-Fragen, während Beschreibungen klären sollen, wo, wann, woher, wohin oder
woraus etwas geschah: „Description is necessary but insufficient: we want to
know why, not just what, where, when, whence, or whither“ (Bunge 1996: 137).
Eine rein deskriptive Vorgehensweise reicht innerhalb der Wissenschaften
nicht aus, weil man hier ein rationales Verständnis anstrebt, und dies erfordert
neben einer adäquaten und dichten Beschreibung auch eine Erklärung: „We want
explanation, either because we want rational understanding – not some vague
intuition or a metaphor, let alone a story – or because we wish to tamper with
the thing in question“ (Bunge 1996: 138).
Anders ausgedrückt eine adäquate Wissensgenerierung zur Welterkennung
erfordert beides: erst einmal Weltbeschreibung und danach Welterklärung.
Aufgrund unterschiedlicher Erkenntnisziele und größtenteils auch
unterschiedlicher Forschungsmethodologie muss beides komplementär zueinander
betrieben werden. Inkommensurabel ist nur die Forschungsmethodologie. Es gibt
keine allgemeine Inkommensurabilität zwischen diesen Forschungsrichtungen.
Forscher sind auf die
Ergebnisse der jeweils anderen Tradition sogar angewiesen, eine Diskontinuität
oder gar Sprachlosigkeit ist aufgrund dieser unterschiedlichen Methodologien
nicht von vornherein gegeben.
Das Sinnverstehen verschwindet innerhalb der Politikwissenschaft aus der
platonisch-galileischen Tradition vor allem aufgrund der Orientierung an den
Naturwissenschaften und den oben erwähnten methodologischen Forschungsprogrammen
oder „Revolutionen“. Bei Weber allerdings sind sowohl Kausaldenken als auch
Sinnverstehen zwei gleichberechtigte Aufgaben der Wissenschaften (Weber
1980
[1922] und 1984 [1921]).
Auch andere naturalistische Wissenschaftsphilosophen unterscheiden sehr genau
zwischen Beschreibungen und Erklärungen. Nur Phänomene kann man beschreiben (description
of appearances) und erhält deskriptives Wissen (descriptive knowledge). Kausale
Regularitäten sowie kausale Prozesse oder Ursache-Wirkungs-Mechanismen kann man
hingegen erklären, dies nennt Wesley C. Salmon explanatives Wissen (explanatory
knowledge). „For the proponents of the ontic conception of scientific
explanation, realism provides a straightforward answer to the question of the
distinction between descriptive and explanatory knowledge“ (Salmon 1989: 134).
Verwirrend kommt noch hinzu, dass in der Politikwissenschaft eine weitere
Unterscheidung, die synonym gebraucht wird, getroffen wird und zwar zwischen
Beschreibungen von Phänomenen (descriptive inference) und kausalen
Schlussfolgerungen über Phänomene (causal inference): „[T]he next section of the
handbook discuss regression-like statistical methods and their extensions. These
methods can be used for two quite different purposes that are sometimes
seriously conflated and unfortunately confused. They can be used for descriptive
inferences about phenomena, or they can be used to make causal inferences about
them (King/Keohane/Verba 1994). Establishing the Humean conditions of
constant conjunction and temporal precedence with regression-like methods often
takes pride of place when people use these methods, but they can also be thought
of as ways to describe complex data-sets by estimating parameters that tell us
important things about the data“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010b [2008]:
17).
Die Etablierung von Methoden zur Erforschung von kausalen Mechanismen oder
Prozessen, im Gegensatz zu den quantitativen Methoden, die zur Ermittlung von
kausalen Regularitäten eingesetzt werden, führt zu Begriffsverwirrungen
zumindest in der Politikwissenschaft. Die disziplinierten Politologen tragen in
ihren Methodologiebüchern zu zwei Begriffskonfusionen bei:
Erstens wird der
Begriff „description“ dort verwendet, wo eigentlich „explanation“ angebracht
wäre. Statt zu sagen „to explain causal mechanism“ wird die Erklärung von
kausalen Prozessen oder werden die „qualitativen“ Methoden zur Ermittlung von
Ursache-Wirkungs-Mechanismen unter der Überschrift „description and causal
inference“ abgehandelt (King/Keohane/Verba 1994,
Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008] und
Brady/Collier 2010 [2004]).
Insbesondere diese Autoren, Mr. Perestroika würde sagen die
Ostküsten-Brahmanen aus Harvard (King/Keohane/Verba 1994) und die
Westküsten-Brahmanen aus Berkeley (Brady/Collier 2010 [2004]), setzen sich sehr
intensiv für die Benutzung eines sehr engen Begriffs von Beschreibung und damit
verbunden von qualitativen Methoden ein. Dabei wird unterschieden zwischen
Beschreibungen, mit deren Hilfe Fakten gesammelt werden, und beschreibenden
Inferenzen: „[W]e distinguish description – the collection of facts – from
descriptive inference“ (King/Keohane/Verba 1994: 34).
Mit Hilfe von beschreibenden Inferenzen (descriptive inference) soll eine
systematische Einteilung in wichtige und unwichtige Komponenten der Welt
erfolgen: „[M]aking descriptive inference by partition the world into systematic
and nonsystematic components“ (King/Keohane/Verba 1994: 75).
Es geht also um die Einteilung der sichtbaren Welt in systematische und
nicht-systematische Komponenten, wobei nur Erstere die für kausale Referenzen
notwendige Daten (DSOs und CPOs, wobei Letztere erst später von anderen Autoren
(Brady/Collier 2010 [2004]) eingeführt wurden) liefern und alles andere sind
vernachlässigbare Daten. Sogar kulturelle Faktoren als erklärende Variablen
werden vernachlässigt: „The use of ‘culture’ as an explanatory variable in
social science research is a subject of much contention but is not the subject
of this book. Our only comment is that cultural explanations must meet the same
tests of logic and measurement we apply to all research“ (King/Keohane/Verba
1994: 226). Dies ist nun eine Analogie, die bewiesen werden muss.
Wir haben es hier mit einem methodologischen Reduktionismus in Reinkultur zu
tun, das sieht man auch an dem reduktionistischen Verständnis von
Beschreibungen. Naturwissenschaftler haben kaum sprachliche Verständnisprobleme
untereinander, wenn es darum geht miteinander zu kommunizieren und sichtbare
Phänomene zu beschreiben. Dies liegt aber daran, dass Naturwissenschaftler
mittlerweile alle auf Englisch miteinander kommunizieren, weltweit dieselben
Curricula erfolgreich bewältigen müssen, ja aus einem gleichen Milieu stammen
oder sich aufgrund der Sozialisation schon seit Jahren bewegen. Sie können sich
also ohne viel sprachlich-interpretativen Aufwand oder Vorleistungen und damit
auf Beschreibungen fast en passant einigen. Danach konzentrieren sie sich dann
ausschließlich auf Erklärungen und Prognosen und greifen dabei auf eine
logisch-mathematische Methodologie zurück.
Der Versuch innerhalb des logischen Empirismus (Philosophie der idealen
Sprache), allein mit Hilfe einer logisch-mathematischen Methodologie die Welt
wissenschaftlich zu erfassen (Frege 2008 [1963/1879],
Wittgenstein 1984b [1922],
Carnap 1998 [1928]), ist längst zumindest innerhalb der Philosophie als
Sackgasse enttarnt worden.
Ethnologen, Soziologen und Politologen, die Fallstudien (area studies)
außerhalb der westlichen Welt verfassen (Rudolph
2005a und
2005b), sehen dies
ganz anders, sie haben sich mit den damit verbundenen Entwicklungen
auseinandergesetzt. So müssen Ethnologen, bevor sie Erklärungen liefern, zuerst
einmal z.B. die Sprache eines Stammes lernen und, genauso wichtig, dessen
Lebensform verstehen. Dies gilt in sicherlich abgeschwächter Form auch für
Soziologen, die in anderen als akademischen Milieus forschen. Daher ist es auch
nicht verwunderlich, dass aus diesen Wissenschaften die wichtigsten
methodologischen Überlegungen für eine sprachlich-qualitative Forschung kommen
(Flick/von Kardorff/Steinke
2015 [2000], Schmitz/Schubert 2006,
Denzin/Lincoln
1994).
Die Verwendung des Begriffs „Beschreibung“ führt zweitens dazu, dass auch den
Methoden, die zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen notwendig sind,
das Etikett „qualitativ“ angeheftet wird. Dabei handelt es sich aber nicht um
qualitativ-interpretative Methoden innerhalb der sprachlich-interpretativen
Forschungsmethodologie (Kapitel 3.1.2, C), sondern um qualitativ-mathematische
Methoden, wie ich noch zeigen werde (Kapitel 3.9).
Die Perestroikans verweisen nicht nur auf die Sprachphilosophie, sondern auch
auf den Strukturalismus: „Unterhalb des Sichtbaren verborgene
Beziehungsgeflechte zu entziffern, ist die Methode des Strukturalismus“ (Ruffing
2005: 202). Verborgene Strukturen sichtbar zu machen, ist nicht nur ein Ziel des
Strukturalismus, sondern kann als ein allgemeines Ziel der Wissenschaften
angesehen werden, ob man nun nach unsichtbaren kausalen Regularitäten, konkreten
kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen, teleologischen Relationen oder wie Michel
Foucault nach Machtbeziehungen sucht. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die
Suche nach Kausalitäten mittels einer logisch-mathematischen
Forschungsmethodologie und nach Sinnzusammenhängen mittels einer
qualitativ-interpretativen Forschungsmethodologie die differenziertesten und
ausgearbeitetsten Methodologien zur Welterkenntnis hervorgebracht haben.
Bisher habe ich die Ziele und Vorgehensweisen der Interpretivisten insgesamt
geschildert. Im Folgenden werde ich mich paradigmatisch auf die phronetischen
Perestroikans beschränken.
D. Wissensgenerierung oder Welterkennung innerhalb der phronetischen
Politikwissenschaft (Phronetic Political Science). Real Social Science - eine
prinzipielle Alternative zum Naturalismus oder Szientismus?
Die Identität der Person, die unter dem Pseudonym „Mr. Perestroika“ (Mr.
Perestroika 2005 [2000]) eine Kritik am Mainstream formuliert hat, ist, wie
gesagt, bisher noch nicht geklärt. Eine heterogene Gruppe von Wissenschaftlern
unterstützt diese Kritik wie oben ermittelt nicht am Mainstream, sondern vor
allem am szientistischen Establishment. Einen Überblick findet man in dem Band
von Kristen Renwick Monroe (2005) „Perestroika! The Raucous Rebellion in
Political Science“, eine Evaluation der Perestroika-Bewegung wurde 2015 in der
Zeitschrift „Perspectives on Politics“ publiziert (Gunnel
2015a und
2015b,
Monroe 2015,
Laitin 2015,
Farr 2015,
Schram 2015).
Sanford F. Schram (2003,
2005 und
2006,
Schram/Caterino 2006) hat sich nicht
nur zu dieser Bewegung bekannt, sondern auch die Ziele dieser Bewegung
formuliert, und ist neben Bent Flyvbjerg, Todd Landman und anderen ein Vertreter
einer phronetischen Sozialwissenschaft oder phronetischen Politikwissenschaft (Phronetic
Political Science). Damit verstehen sie sich als Alternative zum
Establishment (Mainstream) (Flyvbjerg 2001 und
Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).
Das Buch von Flyvbjerg (2001) „Making Social Science Matter: Why Social Inquiry
Fails and How it Can Succeed Again“ wurde unter anderem von
Laitin (2006 [2003])
und Schram (2003 und
2005) als Manifest der Perestroika-Bewegung aufgeführt.
Flyvbjerg selber steht hinter dieser Einschätzung (Flyvbjerg 2006: 56).
Im Folgenden sollen diese Konzeption und ihre Kritik am szientistischen
Establishment vorgestellt werden.
a. Philosophische Grundlagen der phronetischen Perestroikans
Die Perestroikans orientieren sich am (amerikanischen) Pragmatismus, der
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, dem (französischen) (Post)Strukturalismus
und der (britischen) Sprachphilosophie, weiterhin an den Hermeneutikern und
Phänomenologen innerhalb der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (Humanities).
Sie wollen sich von einer Sozialwissenschaft inklusive einer
Politikwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, absetzen,
einige möchten demgegenüber eine eigenständige phronetische Politikwissenschaft
(phronetic political science) begründen.
Zuerst wurden fast alle oben genannten philosophischen Fundamente innerhalb
der amerikanischen Politikwissenschaft im Rahmen der argumentativen Wende der
Politikfeldanalyse (Fischer/Forester 1993a,
Fischer 2003) vorgetragen. Frank
Fischer fasste diese kurz wie folgt zusammen: „The growing interest in
argumentation in policy analysis draws from both theoretical and practical
perspective. On the one side, as we have already seen, its diverse theoretical
influences run through British ordinary-language analysis, French
poststructuralism, the Frankfurt school of critical social theory, and a renewed
appropriation to American pragmatism. On the other hand, it is based in
practical terms on a range of experiments on the part of policy analyst and
planners, from stakeholder analysis and participatory research to citizen juries
and consensus conferences“ (Fischer 2003: 182).
Diese philosophischen Positionen liegen auch den phronetischen
Wissenschaft-lern innerhalb der Perestroika-Bewegung zugrunde, so weist auch
Sanford F. Schram auf eine Erweiterung der philosophischen und
wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft hin. Dabei werden
eine pluralistische Methodologie, Kontextbezogenheit und eine
bessere
Praxisbezogenheit gefordert: „In its place, Perestroika would put a more
pluralistic emphasis on allowing for the blossoming of more contextual,
contingent, and multiple political truths that involve a greater tie between
theory and practice and a greater connection between thought and action in
specific settings. Perestroika lays open the possibility that political science
could actually be a very different sort of discipline, one less obsessed with
proving it is a ‘science’ and more connected to providing delimited,
contextualized, even local knowledges that might serve people within specific
settings“ (Schram 2003: 837, vgl.
Monroe 2005).
Die Praxisferne des kausalen Reduktionismus wird am Anfang des 21.
Jahrhunderts von vielen Seiten kritisiert, dies war auch im Positivismusstreit
der 1960er Jahre (Adorno et al. 1976 [1969],
Falter 1982) ein auftauchender
Topos. Wichtig ist den Kritikern vor allem, dass man nicht nur die politische
Realität beschreibt, sondern diese auch verändert, so lautet der Titel von Bent
Flyvbjergs Buch „Making Social Science Matter“ (Flyvbjerg 2001). Klingt wie die
im Jahre 1845 formulierte 11. Feuerbach-These – „Die Philosophen haben die Welt
nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“
(Marx/Engels, MEW 3, S. 535, 1845). Diese Feuerbach-These war auch das Motto der
Caucus for a New Political Science, die sich vor allem in den USA in den 60er
Jahren des 20. Jahrhunderts formierte (Goodin 2011b [2009]: 5). Auch im neusten
Werk wird dies als Motto angeführt: „Real social science is when studying the
world has the effect of changing it, by means of what Machiavelli calls verita
effectuale (effective truth). Real social science that contributes to phronesis
grows out of experience and, in turn, contributes to that experience. It cannot
be theorized in toto in advance“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 4).
b. Kritik der Perestroikans an der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise
Bent Flyvbjerg liefert eine radikale Kritik an einer Sozialwissenschaft, die
sich an den Naturwissenschaften orientiert. Er konstruiert ein Modell einer
epistemischen Wissenschaft, das seiner Meinung nach in den Naturwissenschaften
dominiert und von den Sozialwissenschaften kritiklos übernommen wurde: „By
‘epistemic’ is meant ‘well-founded’ or ‘what must be regarded as correct’.
Epistemic science is science which has achieved a paradigmatic and
normal-scientific level in the Kuhnian sense, and which is thereby capable of
explaining and predicting in terms of context-free knowledge“ (Flyvbjerg 2001:
172-173). Dieses Buch und die damit verbundene Kritik wurden von Sanford F.
Schram (2003) hervorgehoben und als eine Grundlage für eine Alternative zum
Mainstream vorgestellt und damit auch als Fundament insbesondere der
phronetischen Perestroikans angeführt und später noch weiterentwickelt
(Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).
Die Bewunderung der Naturwissenschaften aufgrund nicht zuletzt der
technischen Erfolge erreichte im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt und führte
dazu, dass die Naturwissenschaften einen großen Einfluss auf die im Entstehen
begriffenen Sozialwissenschaften ausübten. Viele Sozialwissenschaftler
plädierten für eine Orientierung an naturwissenschaftlichen Methoden. Gegen die
Übernahme einer naturwissenschaftlichen Methodologie gab es beträchtlichen
Widerstand, weniger unter der damals noch überschaubaren Zahl von
Sozialwissenschaftlern, dafür umso mehr innerhalb der Geistes-, Geschichts- oder
Kulturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften bedürften aufgrund ihres
Gegenstandes einer eigenen Methodologie, so Wilhelm
Dilthey (1922 [1883]) in
seinen sehr einflussreichen Studien. Heinrich John
Rickert (1921 [1896]) hob die
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hervor und sah diese
ungeeignet für die historischen Wissenschaften. Erich
Rothacker (1926)
ermittelte eine eigenständige Logik und Systematik der Geisteswissenschaften.
Auch Flyvbjerg sieht eine fundamentale Differenz zwischen Naturwissenschaften
und Sozialwissenschaften: „We may thus be speaking of so fundamental a
difference that the same research procedure cannot be applied in the two domains.
It is this argument which is put forth by hermeneutics and phenomenology“
(Flyvbjerg 2001: 32). Dabei bezieht er sich nicht auf die Diskussion an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, sondern insbesondere auf die Arbeiten von
Hubert L. Dreyfus (1991), der die Differenz zwischen Geistes- und
Naturwissenschaften verteidigt: „If Dreyfus is right he has identified a
fundamental paradox for social and political science: a social science theory of
the kind which imitates the natural sciences, that is, a theory which makes
possible explanation and prediction, requires that the concrete context of
everyday human activity be excluded, but this very exclusion of context makes
explanation and prediction impossible“ (Flyvbjerg 2001: 40).
Flyvbjerg/Landman/Schram (2012a) gehen von einem
sozialwissen-schaftlichen Modell aus, das einer Überprüfung mit der Realität
nicht standhält. In den Beiträgen des Bandes „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]) wird gezeigt, wie am Anfang des 21. Jahrhunderts eine
Politikwissenschaft (political science) arbeitet oder arbeiten sollte, die sich
an den Naturwissenschaften orientiert und als Wissenschaft auftreten kann. Die
echten oder phronetischen Sozialwissenschaftler haben sich mit dieser komplexen
Methodologie kaum auseinandergesetzt.
Die wichtigsten Einwände werden im Folgenden behandelt, weitere Einwände
werden jeweils an geeigneter Stelle auf der entsprechenden methodologischen
Ebene beleuchtet.
Ein zentraler Einwand betrifft die Kontextbezogenheit und die angebliche
Unmöglichkeit, diese mit naturwissenschaftlichen Methoden aufzuzeigen: „We see,
therefore, that context-dependence does not mean just a more complex form of
determinism. It means an open-ended, contingent relation between contexts and
actions and interpretations“ (Flyvbjerg 2001: 43). Eine weitere Eigenschaft sei
der lokale Bezug des phronetischen Wissens: „These are local knowledges, even
tacit knowledges and skills, that cannot be thought a priori but that grow from
the bottom up, emerging out of practice. Add a sense of praxis, seeking the
ability to push for change, leaven it with an appreciation of the ineliminable
presence of power, and this phronetic social science can help people involved in
ongoing political struggle question the relationships of knowledge and power and
thereby work to produce change“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 2).
Die Wenn-dann-Tiefenstruktur der Wissenschaft (Kapitel 3.1.3, G) ermöglicht
nicht nur eine Spezialisierung, sondern macht diese gleichzeitig auch notwendig
und führt dann unweigerlich zu einer teilweisen Dekontextualisierung. Diesem
Prozess können sich auch Perestroikans nicht entziehen. Wer lokales Wissen
generiert, wird innerhalb der Politikwissenschaft auch notwendigerweise
zumindest teilweise den regionalen, nationalen, europäischen und globalen
Kontext ausblenden müssen oder sich bewusst sein, dass viele lokale Probleme
andere als lokale Ursachen und Determinanten haben können.
Flyvbjerg kritisiert die Anhänger der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise
in den Sozialwissenschaften, dass sie sich an einem Modell von
Naturwissenschaften orientieren, das es so nie gab: „[T]he idealisation of the
natural sciences has become more pronounced since Marx and Freud. This applies
not only to positivism and critical rationalism, but also to areas of research
not normally associated with the natural science model“ (Flyvbjerg 2001: 27).
Analog kann man Flyvbjerg kritisieren, dass er ein Modell innerhalb der
Politikwissenschaft kritisiert, das es, wenn überhaupt, zwar im 19. Jahrhundert
bei Marxisten und Positivisten gab, aber kaum noch seit den 50er Jahren des 20.
Jahrhunderts und schon gar nicht am Anfang des 21. Jahrhunderts in der
Politikwissenschaft dominiert.
c. Spannungspunkte (Tension Points)
Der Suche nach Kausalitäten innerhalb der empirisch orientierten
Sozialwissen-schaften entspricht bei den echten (real) Sozialwissenschaften die
Suche nach Spannungspunkten (tension points). Beides wird mit einem eindeutig
reduktionis-tischen Anspruch in praktischer Absicht vorgetragen, da die
Identifizierung von Kausalitäten genauso wie die Identifizierung von
Spannungspunkten sowohl eine Erkennung als auch eine Veränderung der politischen
Realität ermöglichen soll: „These tension points are weak spots in any struggle
where disagreement creates an opening for research to sway opinion and move a
decision in a particular direction“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11).
Die Suche nach Spannungspunkten verfolgt das Ziel, Veränderungen in
politischen und sozialen Prozessen anzustoßen. Damit soll die praktische
Relevanz der Sozialwissenschaften nachgewiesen werden: „By exploiting these
tension points, phronetic research can prove its relevance in specific settings
and influence outcomes so as to improve social action and policy-making. In this
way, phronetic social science can deliver on the promise of mainstream social
science to speak truth to power, to inform society, improve decision-making and
enhance social life“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11).
Im Vordergrund stehen vor allem Machtfragen, insbesondere Machtmissbrauch
soll verhindert werden: „We explain the focus on tension points by the phronetic
researchers to issues of power and especially researchers’ commitment to
challenge the abuse of power“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 289).
Es sollen nicht nur Spannungs-, sondern gleichzeitig auch Schwachpunkte
entdeckt werden, die einen gezielten Eingriff in bestehende Machtbeziehungen
erlauben und eine Verbesserung der Situation ermöglichen: „[P]roblematizing
tension points may be compared with hitting a rock with a hammer. If you hit the
rock at random it seems unbreakable, even if you hit it hard. If you hit the
rock strategically at the small, near invisible fault lines that most rocks have,
the rock will fracture, even if you hit it gently. Tensions points are the fault
lines that phronetic researchers seek out; that is where researchers hit exiting
practices to make them come apart and create space for new and better ones“
(Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 289-290).
Der Hinweis auf die Suche nach Spannungspunkten taucht erstmals im letzten
Band (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) auf, vorher baute die Kritik vor allem auf
die Problemorientierung (problem-driven, problem-based) auf. Wegen der
Zentralität dieser Spannungspunkte wäre eine detailliertere Ausarbeitung nötig,
diese ist aber nicht vorhanden. Alle wichtigen Stellen dazu aus der Einleitung
(Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b) und der Zusammenfassung (Flyvbjerg/Landman/Schram
2012c) des Bandes habe ich zitiert, dabei bieten diese Zitate vor allem blumige
Metaphern und sind mit den methodologisch detaillierten Kausalanalysen der
Szientisten nicht zu vergleichen, damit bieten Phronetiker lediglich
metaphorische Analysen und keine methodisch-systematische Forschung. Weiterhin
liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei den Spannungspunkten auch um
Kausalitäten handeln könnte, damit würden die naturwissenschaftliche
Orientierung und die Vorgehensweise der Szientisten wieder durch die Hintertür
eingeführt.
d. Problemorientierte (Problem-driven, Problem-based) versus
methodenorientierte Forschung (Method-driven Research)
In den USA plädieren neben den Perestroikans (Flyvbjerg
2001,
2006, Schram
2003,
2006) auch andere Wissenschaftler (Shapiro 2005) dafür, eine
problemorientierte (problem-driven, problem-based) anstelle einer
methodenorientierten (theory-driven) Politikwissenschaft zu betreiben.
Auf der einen Seite wird der Methodologie in der platonisch-galileischen
Tradition eine zentrale, ja sogar eine konstitutive Bedeutung zugemessen. Kurz:
Wissenschaft unterscheidet sich von anderen gnosiologischen Unternehmungen
dadurch, dass die Wissenserzeugung und Wissensüberprüfung ein methodologisch
nachvollziehbares Unternehmen ist (Kapitel 3.1.1, D).
Auf der anderen Seite trachten auch diese Wissenschaftler danach, dass die
erarbeiteten Ergebnisse oder das von ihnen generierte Wissen auch in der
öffentlichen Debatte nicht nur wahrgenommen, sondern auch beachtet werden. Die
Problemorientierung ist geradezu ein zentrales Ziel: Das Motto der Szientisten
lautet daher, das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu
bereichern sowie Problemstellungen mit lebenspraktischer Relevanz (practical
significance) zu erörtern (Kapitel 3.1.2, A).
Seit der Entwicklung der Politikwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts
werden die Forscher, die sich an den Naturwissenschaften orientieren und mit
mathematischen Methoden arbeiten, mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie das
Fach ins Abseits führen. Dieser Vorwurf kam sowohl von normativ-ontologisch
orientierten Politologen als auch von den Anhängern der Kritischen Theorie. Die
Perestroikans erneuern diesen Vorwurf und fordern sogar in Beitragstiteln wie
„Return to politics“ (Schram 2005) „Making Political Science Matter“ (Schram/Caterino
2006) eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg einer Methodenorientierung:
„Perestroika lays open the possibility that political science could actually be
a very different sort of discipline, one less obsessed with proving it is a
‘science’ and more connected to providing delimited, contextualized, even local
knowledges that might serve people within specific settings“ (Schram 2003: 837,
Monroe 2005).
Die Perestroikans beziehen sich bei dieser Kritik insbesondere auf die Arbeit
von Green und Shapiro (1999 [1994],
Shapiro 2005: 83, 1. Fußnote). Eine
methodenorientierte Forschung geht laut Green und Shapiro wie folgt vor: „Die
empirische Forschung wird sozusagen an der Theorie anstatt an Problemstellungen
ausgerichtet; sie dient damit vornehmlich dem Zweck, irgendeine Variante der
Rational-Choice-Theorie zu retten oder zu verteidigen, anstatt politische
Phänomene zu erklären“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 17).
Demgegenüber hat eine problemorientierte Forschung folgende Attribute:
„Problemgeleitet ist empirische Forschung dann, wenn die Theoriebildung darauf
ausgelegt ist, tatsächlich auftretende Probleme zu lösen. Sie ist dagegen
methodengeleitet, wenn zunächst eine Theorie ohne Ansehen der damit zu
erklärenden Phänomene entwickelt wird und der Theoretiker erst dann nach
Phänomenen sucht, auf die die betreffende Theorie angewendet werden kann […].
Wie Abraham Kaplan (1964, 28) einmal bemerkt hat: Wenn das einzige Werkzeug, das
man besitzt, ein Hammer ist, dann sieht plötzlich alles andere wie ein Nagel
aus“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 228).
Die Lösung lautet: „Problem-driven research would replace method-driven
research“ (Schram 2003: 837). Diese Unterscheidung soll die Praxisnähe der neuen
Ansätze sowie die Methodenverliebtheit der anderen Seite dokumentieren. Weg von
Formalismen und Techniken, hin zu wichtigen, relevanten Fragestellungen.
Dagegen können zwei Einwände eingebracht werden, einmal würde dies ja
indirekt bestätigen, dass die „happily still undisciplined political theorists“
tatsächlich so undiszipliniert und methodenfern arbeiten, quasi von den
Problemen verblendet, wie dies die Gegner behaupten. Dies ist aber bei den
meisten Kritikern des kausalen Reduktionismus nicht der Fall, sie arbeiten nur
mit einer anderen Methodologie (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000],
Blatter/Janning/Wagemann 2007,
Denzin/ Lincoln 1994). Dies gilt auch für die
phronetischen Perestroikans, auch wenn ihre Methodologie bei weitem noch nicht
so ausgearbeitet ist wie die der Szientisten.
Zweitens verstehen die Kritiker die Bedeutung und Konsequenzen von
Kausalanalysen nicht, zumindest nicht die Ansprüche, die damit verbunden werden:
Mit Hilfe von Kausalanalysen soll erstens die (politische) Welt erkannt, d.h.
vor allem erklärt werden (Beschreibungen spielen eine kleinere Rolle) und
zweitens soll man durch die Kenntnis von Kausalitäten die Welt verändern können,
dadurch dass man Kausalitäten in sozialtechnologische Regeln umwandelt.
Die Kritik an der Methodenorientierung (method-driven, methodologism) ist
weiterhin missverständlich. Wissenschaft zeichnet sich essentiell durch
methodologisches Vorgehen aus. Wissen wird mit Hilfe einer wissenschaftlichen
Methodologie generiert, die jeder, der dieselbe Methodologie anwendet, auch
nachprüfen kann; so werden Intersubjektivität, Objektivität und Reliabilität
gewähr-leistet (Kapitel 3.1.3 und
Kapitel 3.2).
Die Gefahr, dass sich Wissenschaftler in methodologischen Spielereien
verlieren oder ihnen aufgrund der Komplexität der Methoden handwerkliche Fehler
unterlaufen, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies rechtfertigt aber
keineswegs, die Methodenorientierung aufzugeben und sich einer wie auch immer
gearteten Problemorientierung (problem-driven) zu widmen – weil sich dann wieder
die Frage stellt, mit welcher Methodologie die Probleme angegangen werden
sollen. Daher ist John Gunnel zuzustimmen, der in seinem historischen Überblick
über die Perestroika-Bewegung völlig zu Recht festhält: „The invocation of
mantras such as problem-based research where far from adequate“ (Gunnell 2015a:
409).
Auch die Kritik an der Spezialisierung (Mead 2010: 453) ist unangebracht,
weil schlicht und ergreifend aufgrund der Komplexität der Welt sowie des
derzeitigen Forschungsstandes ohne Spezialisierung keine ernsthafte Forschung
mehr betrieben werden kann. Selbstverständlich kann auch dies zu Verwerfungen
führen, die Spezialisierung kann aber deshalb nicht zurückgedreht werden.
Die wichtigen Probleme der Differenzierung und Spezialisierung werden dabei
aber nicht einmal angesprochen. Dabei geht es um die Frage: Wie kann man
einzelne wissenschaftliche Ergebnisse zusammenfügen oder, salopp ausgedrückt,
wie kann man die Einzelteile des Puzzles zusammenstellen?
e. Stringenz und Scholastizismus (Rigor, Scholasticism)
versus Relevanz
Die Methodenorientierung und die damit verbundene Steigerung der Stringenz
führt nach Lawrence M. Mead (2010) zu einem Scholastizismus, der vor allem die
Ideale wie strenge Beweisführung und Transparenz hervorhebt: „[U]nder the norm
of rigor, one ideal is proof – demonstrating conclusions, not simply asserting
them. Hence the appeal of mathematical methods, where inferences are precise.
Another ideal is transparency. One’s conclusion should follow strictly from the
data rather than from contestable judgements, so that in principle others could
replicate them“ (Mead 2010: 460).
Stringenz und Überbetonung der Methodologie sind genau wie die fehlende
Problemorientierung wiederkehrende Topoi. Beides wurde schon an der „behaviorial
revolution“ kritisiert, da dadurch der Gegenstand willkürlich eingeengt werde
und die Relevanz auf der Strecke bleibe: „Durch eine rigide Methodologie ist der
Gegenstand des wissenschaftlich Erkennbaren recht willkürlich eingeengt und die
Relevanz dessen, was nach diesen rigorosen methodologischen Anforderungen noch
erforscht werden konnte, stark eingeschränkt worden“ (von Beyme 2000 [1972]:
117).
Die Kritik der Perestroikans an der Überbetonung der Methodologie ist nicht
neu: „Die Überbetonung der Methodologie [gemeint sind die Behavioralisten] wurde
von einem Normativisten wie Herbert Spiro (1971: 323 ff.) bissig das
‚Masturbationsstadium der Politikwissenschaft‘ genannt“ (von Beyme 2000 [1972]:
117).
Der von Mead (2010) kritisierte Scholastizismus hat ihm zufolge insgesamt
vier Komponenten, einige wurden von Albert, Green und Shapiro schon
hervorgehoben, und zwar Methodenorientierung (methodologism) sowie Immunisierung
gegenüber der Erfahrung (nonempiricism), hinzu kommen noch überhöhte
Spezialisierung (specialisation) und ein Fokus auf die wissenschaftliche
Literatur (literature focus) (Mead 2010, siehe auch Héretier 2016).
Die ersten drei Kritikpunkte wurden schon behandelt, bleibt noch der vierte
Punkt. Ein Schriftsteller muss nicht an einen früheren Roman oder an die
Arbeiten eines Kollegen anknüpfen, er kann immer alles neu entwerfen. Die
Qualität und Relevanz der Wissenschaft ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil
Wissenschaftler nicht nur sehr gerne ganz neue Theorien entwerfen, sondern vor
allem sich erst einmal mit dem Stand der Forschung auseinandersetzen und diesen
weiterentwickeln. Daher schießt der Vorwurf des „Literature Focus“ (Mead 2010)
genauso wie der Methodologism-vorwurf weit über das Ziel hinaus und ist sogar
kontraproduktiv.
Ganz im Gegenteil: Eine der größten Schwächen des „Methodenstreits“ besteht
darin, dass sich beide Kontrahenten, Szientisten wie Perestroikans, nicht mit
dem jeweiligen Stand der Forschung der anderen Partei auseinandersetzen.
So
nehmen die Perestroikans etwa die verschiedenen methodischen Ansätze zur
Ermittlung von Kausalitäten genauso wie die neu entwickelten Methoden und
Experimente einfach nicht zur Kenntnis und kritisieren wissenschaftstheoretische
Positionen und Methoden, die längst aufgegeben oder entscheidend verändert
wurden.
Schlimmer sieht es bei den Kontrahenten aus: Die disziplinierten
Wissenschaftler ignorieren die Methodologie der anderen Seite vollständig oder
lehnen diese en passant in Fußnoten ab (Goodin 2011b [2009],
Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]).
Daher kritisiert Flyvbjerg (2006) völlig zu Recht, dass die Positionen der
phronetischen Sozialwissenschaft nicht adäquat wiedergegeben werden und damit
die entsprechende Kritik nicht zielführend ist. Seine Kritik richtet sich dabei
vor allem an die Kritik, die von
Laitin (2006 [2003]) in einer Rezension von
Flyvbjergs Buch geübt wurde.
Mead stellt nicht nur wichtige wissenschaftliche Kriterien in Frage, sondern
plädiert auch dafür den Scholastizismus dadurch zu überwinden, dass man etwas
weniger Stringenz (rigour), dafür aber mehr Relevanz (relevance)
anstrebt: „To limit scholasticism one must step back and question the values it
serves – those of rigor“ (Mead 2010: 460).
Er schlägt vor, dass man zurück zu Wertfragen kommen sollte, d.h. einen
politischen Realismus betreiben und die betroffene Zielgruppe im Auge behalten
sollte: „In contrast, nonscholastic research serves the values of relevance.
Under that norm, one ideal is realism – addressing problems as they appear in
the real world of politics, as against the narrower issues that academics may
define. Another ideal is audience – to speak to all those interested in a
problem rather than just the researcher“ (Mead 2010: 460).
Höchstens die gleichzeitige Beachtung von Stringenz und Relevanz sei
annehmbar: „At its best, political science accepts a tension between rigour and
relevance, serving both values to some extent“ (Mead 2010: 460).
Mead bringt hier zwei völlig verschiedene Problematiken durcheinander. Auf
der einen Seite geht es um die Ziele von Wissenschaft und auf der anderen Seite
die methodologische Stringenz wissenschaftlicher Untersuchungen. Den Wert der
Wissenschaft für die Gesellschaft bezweifeln auch die Szientisten nicht, im
Gegenteil, die Wissenschaft sollte auch zur Förderung gesellschaftlicher Ziele
eingesetzt werden (Kapitel 3.1.1). Bei der Stringenz kann es überhaupt keinen
Rabatt geben, selbstverständlich müssen wissenschaftliche Fragen mit der besten
zur Verfügung stehenden Methodologie beantwortet werden, alles andere ist für
Wissenschaftler unredlich; wie Weber dies für unsere Ohren recht
gewöhnungsbedürftig formuliert, gehören Propheten und Demagogen „nicht auf das
Katheder eines Hörsaals“ (Weber 1973e [1919]: 602 [551]).
Kritikwürdig ist meiner Meinung nach auf keinen Fall die komplexe
Methodologie zur Ermittlung von Kausalitäten, die die Szientisten innerhalb der
Politikwissenschaft von den Naturwissenschaften übernommen, weiterentwickelt
oder teilweise selber entwickelt haben. Im Gegenteil, dieser methodologische
Fortschritt ist zu begrüßen.
Kritisieren sollte man die Zielreduzierung, d.h. den kausalen und empirischen
Reduktionismus oder die ausschließliche Konzentration auf das Kausaldenken (causal
thinking), das dadurch zum Ausdruck kommt, dass nur die Methodologie, die
die Ermittlung von Kausalitäten zwischen Ereignissen anstrebt, in Lehrbüchern
überhaupt behandelt wird, wie dies im Methodenband der Oxforder Reihe geschehen
ist (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).
Kurz: Nicht die Stringenz ist das Problem, sondern die ausschließliche
Konzen-tration auf Kausalitäten: „Methodische Rigoristen, die aus
wissenschaftstheoretischen Skrupeln weite Gebiete des Relevanten den Spekulanten
überlassen, geraten paradoxerweise selbst in uferlose Spekulation, sowie sie das
schmale Terrain, das sie empirisch beackerten, verlassen müssen. Abnehmende
Relevanz von mit großem Aufwand erreichten empirischen Ergebnissen wird durch
Aufbauschung der theoretischen Einleitung und der Zusammenfassung zu
kompensieren versucht“ (von Beyme 2000 [1972]: 120-121).
E. Wissensgenerierung oder Weltveränderung sowie axiologische Grundlagen
wissenschaftlicher Methodologie
Der Weg von der aristotelischen zur platonisch-galileischen Tradition und
zwar speziell von einer praktischen Philosophie zu einer angewandten (nicht
praktischen!) Sozialwissenschaft, wie dies auch heute noch innerhalb der
empirisch orientierten Politikwissenschaft vertreten wird (Hardin 2011 [2009]),
kann am besten anhand der methodologischen Arbeiten von Weber, einem Klassiker
der Sozialwissenschaften, nachgezeichnet werden; dies wird im Folgenden
unternommen.
Webers Primärinteresse galt empirischen Untersuchungen, daher beschäftigte er
sich in seinen methodologischen Arbeiten auch intensiv mit den Möglichkeiten und
Grenzen von Erfahrungswissenschaften. Dabei werden wichtige
wissenschafts-theoretische Grundlagen formuliert, die bis heute innerhalb der
empirischen, insbesondere szientistischen Politikwissenschaft als
methodologische Grundprinzipien gelten. Folgende Problemkomplexe werden getrennt
erörtert:
- a. Wertproblematik: einführende Bemerkungen.
- b. Sein-Sollen-Verhältnis oder Werturteilsfreiheit: Werturteilsfreiheit
innerhalb
empirischer Wissenschaften.
- c. Angewandte statt praktischer Sozialwissenschaften: Umkehrung von
Kausalsätzen oder Umwandlung von Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis).
- d. Normative oder rein technische Methodologie innerhalb der
szientistischen
Politikwissenschaft.
- e. Praktische Methodologie der phronetischen Perestroikans: angewandte
Klugheit (applied phronesis), praktische Weisheit (practical wisdom),
praktische Vernunft (practical reason).
a. Wertproblematik: einführende Bemerkungen
Sowohl die aristotelische als auch die platonisch-galileische Tradition gehen
von einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen Sein und Sollen aus, auf deren
Grundlage eine Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie
vorgenommen wird; innerhalb der Sozialwissenschaften müsste dann zwischen einer
theoretischen und praktischen Sozialwissenschaft unterschieden werden.
Eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste sozialwissenschaftliche
Zeitschrift der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war das Archiv für
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Den Unterschied zwischen
Sozialwissenschaft auf der einen und Sozialpolitik auf der anderen Seite hat
Weber in einem seiner berühmtesten und bis heute wirkungsvollen Artikel
festgehalten: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaft-licher und
sozialpolitischer Erkenntnis“ (Weber 1973c [1904]). Dieser Artikel wurde von
Weber geschrieben, als er neben Werner Sombart und Edgar Jaffé Herausgeber der
oben genannten Zeitschrift wurde. Genauso wichtig sind für die hier relevanten
Fragestellungen der Artikel „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und
ökonomischen Wissenschaften“ (Weber 1973d [1917]) und die Rede „Wissenschaft als
Beruf“ (Weber 1973e [1919]).
Die Orientierung Webers am Geist des Neukantianismus und zwar der
Südwestschule
wird in einer Fußnote festgehalten: „Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt
– ich nenne nur Windelband, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich
Rickert – wird sofort bemerken, daß im Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft
ist“ (Weber 1973c [1904]: 146). Damit wird auch der prinzipielle Unterschied,
für den der Neukantianismus bekannt war, zwischen theoretischen und praktischen
Erörterungen anerkannt, d.h., dass es einen prinzipiellen Unterschied zwischen
Sein und Sollen gibt.
Weber geht es in seinem programmatischen Artikel vor allem um
„Gemeinverständlichkeit“ und nicht um eine „systematische Untersuchung“ (Weber 1973c [1904]: 146). Wahrscheinlich verwendet er wegen der Gemeinverständlichkeit
nicht die aristotelische oder kantische Begrifflichkeit, obwohl er an deren
Tradition expressis verbis anschließt. Stattdessen gebraucht er die Begriffe
„empirische Fachdisziplin“, „empirische Wissenschaft“ und
„Erfahrungswissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 149, 151 und 152) auf der einen
und „praktische Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie
„Sozialpolitik“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165) auf der anderen Seite.
Weiterhin spricht er einerseits vom „empirische[n] Sein“ und andererseits vom
„(normativ) richtigen Sinn“ (Weber 1973e [1917]: 532 [494]).
Die erste Begrifflichkeit hat sich in den Sozialwissenschaften durchgesetzt,
niemand spricht z.B. von theoretischer Politikwissenschaft, sondern nur von
empirischer oder, mittlerweile immer seltener, von empirisch-analytischer
Politikwissenschaft.
Eine praktische Politikwissenschaft etwa wird nicht zuletzt unter Hinweis auf
die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft unter Rückgriff auf Weber insbesondere
vom liberal-szientistischen Establishment abgelehnt. Wilhelm
Hennis (1963)
wollte unter Rückgriff auf die aristotelische Topik eine praktische
Politikwissenschaft begründen, hat damit aber keine Wirkung erzielen können.
Einige der Perestroikans versuchen nun wieder unter Rückgriff auf die
aristotelische Methodik (angewandte Klugheit, applied phronesis) eine
problemorientierte (problem-driven) Politikwissenschaft zu etablieren (Flyvbjerg
2001, Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).
Mit wissenschaftlichen Mitteln kann man nur Tatsachen begründen, Ideale
gehören nicht dazu; Ersteres wird Weber zufolge innerhalb der
Sozialwissenschaft, Letzteres innerhalb der Sozialpolitik oder der
philosophischen Disziplinen behandelt. Wertdiskursen wird teilweise schlicht die
Wissenschaftlichkeit abgesprochen: „Es wird also in den Spalten der Zeitschrift
– speziell bei der Besprechung von Gesetzen – neben der Sozialwissenschaft – der
denkenden Ordnung der Tatsachen – unvermeidlich auch die Sozialpolitik – die
Darlegung von Idealen – zu Worte kommen. Aber: wir denken nicht daran, derartige
Auseinandersetzungen für ‚Wissenschaft‘ auszugeben, und werden uns nach besten
Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen“ (Weber 1973c
[1904]: 157, vgl. 165).
Das letzte Zitat könnte in die Richtung interpretiert werden, dass normative
Erörterungen nicht zur Wissenschaft gehören. Weber ist im Unterschied zu Popper
kein kausaler, empirischer und methodologischer Reduktionist. Weber zufolge sind
sowohl kausale als auch sinnverstehende sowie normative Diskurse
wissenschaftlich nicht nur möglich, sondern auch erforderlich.
Weber wird auch deshalb ausführlich zitiert, weil er oft als Reduktionist
wahrgenommen wird. Die Ungenauigkeiten sind dem pädagogischen Anlass
(„Gemeinverständlichkeit“,
Weber 1973c [1904]: 146) seiner Beiträge geschuldet.
Empirie (Sein) und Werte (Sollen) sind heterogene Ebenen und müssen auch
getrennt behandelt werden: „Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der
Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es ankommt, ist: daß
einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andrerseits die
Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen
Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden
Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen
sucht“ (Weber 1973d [1917]: 501 [463]).
Weber fordert von Wissenschaftlern eine klare Trennung zwischen erstens
logisch-analytischen Erörterungen, zweitens empirischen Analysen und drittens
praktischen Wertungen, zwischen dem, „was von seinen jeweiligen Ausführungen
entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und
was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot
der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die Fremdheit der Sphären
zugibt; in diesem Falle ist es das absolute Minimum des zu Fordernden“ (Weber 1973d [1917]: 490-491 [452-453]).
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Weber auch
auf der methodischen Ebene zwischen Ideen im Sinne von Idealtypen und Ideen im
Sinne von Idealen unterscheidet. Idealtypen sind „begriffliche Mittel zur
Vergleichung und Messung der Wirklichkeit“ (Weber 1973c [1904]: 199), während
Ideale eine „wertende Beurteilung der Wirklichkeit“ erlauben (Weber 1973c
[1904]: 200). Idealtypen eignen sich als Analysewerkzeuge für empirische
Untersuchungen, Ideale sind praktische (normative oder pragmatische) Normen oder
Regeln und eignen sich für praktische Untersuchungen.
Während die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen von den Szientisten
anerkannt wird, lehnen nicht nur die Perestroikans unter Hinweis auf den
amerikanischen Pragmatismus und die Frankfurter Schule diese Trennung vehement
ab.
Die Trennung zwischen Sein und Sollen oder zwischen Werten und Fakten wird
von allen Antipositivisten oder Interpretivisten nicht nur von den Perestroikans
abgelehnt: „But even more than this, the debate may well constitute a „myth“ of
academic practice, serving to deflect collective attention away from an area of
incommensurable values about which there is no consensus – that ‘knowledge’ is
always and deeply ‘political’, tied to the humanity of its producers (the
interpretative position), rather than able, somehow, to escape the bounds of the
physical, social, and historical embeddedness of those producers (the
methodological positivist position). Where researchers stand on this
metaphysical issue is often indicate of the gestalt with which they approach
their research and their lives“ (Yanow/Schwartz-Shea
2014a [2006]: 425).
Bei der Ablehnung dieser Trennung handelt es sich um pauschale
Argumentationen, die die vielfältigen Beziehungen zwischen Werten und Aussagen
nicht berücksichtigen. Die Wertgeladenheit (value laden) wird als ein
unhintergehbares Faktum vorausgesetzt. Im Folgenden soll genau diese Vielfalt
aufgezeigt werden.
b. Sein-Sollen-Verhältnis oder Werturteilsfreiheit: Werturteilsfreiheit
innerhalb empirischer Wissenschaften
Welche Beziehungen gibt es zwischen Normierungen, Regulierungen (Weber
spricht nicht von Regulierungen sondern von „Praxis Rezepte[n]“ (Weber 1973c
[1904]: 149, siehe S. 152) und Werturteilen auf der einen und Tatsachenaussagen
und Tatsachenurteilen auf der anderen Seite?
Es lassen sich mehrere mögliche Positionen von Werten im Rahmen
wissenschaftlicher Erörterungen untersuchen. Hans Albert unterscheidet drei
Fragenkomplexe: Wertbasis („inwieweit sozialwissenschaftlichen Aussagen
Wertungen irgendwelcher Art zugrunde liegen müssen“), Wertungen im Objektbereich
(„inwieweit diese Wissenschaften Wertungen irgendwelcher Art zum Gegenstand
ihrer Aussagen machen müssen“) und das eigentliche Werturteilsproblem
(„inwieweit sozialwissenschaftliche Aussagen selbst den Charakter von
Werturteilen haben müssen“) (Albert 1967b [1965]: 189).
Der Werturteilsstreit ist seit mittlerweile Jahrzehnten durch ein
Aneinandervorbeireden gekennzeichnet, wie dies nur selten innerhalb der
Wissenschaft in so einer gravierenden Form anzutreffen ist. Dies liegt vor allem
daran, dass verschiedene Fragestellungen vermischt werden. Daher werde ich im
Folgenden sechs Fragenkomplexe unterscheiden und getrennt erörtern:
- I. Wertbeziehung: Wertüberzeugungen des Wissenschaftlers, Beziehung des
Wissenschaftlers zu seinem Forschungsobjekt
- II. Der Wert oder die politische und öffentliche Relevanz der Wissenschaft
- III. Werte für die Wissenschaft oder Kriterien besser Methodologien, die
die Autorität der Wissenschaft gewährleisten
- IV. Werte als Objekt der Wissenschaft (Werte im Objektbereich)
- V. Wertbasis: Normen und Werte, die die wissenschaftlichen Ergebnisse
beeinflussen
- VI. Das Werturteilsproblem im engeren Sinne: Wertfreie empirische
Wissenschaft ist möglich, empirische Begründung von Normen hingegen unmöglich,
während praktische Begründungen möglich sind
I. Wertbeziehung: Wertüberzeugungen des Wissenschaftlers, Beziehung des
Wissenschaftlers zu seinem Forschungsobjekt
Bei diesem Fragenkomplex geht es um Normen und Werte sowie wertende
Stellungnahmen des Forschers zum Objekt seiner Untersuchung, welche die
Problemauswahl bestimmen: „Daß die Wissenschaft 1. ‚wertvolle‘, d.h. logisch und
sachlich gewertet richtige und 2. ‚wertvolle‘, d.h. im Sinne des
wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner
schon die Auswahl des Stoffes eine ‚Wertung‘ enthält, – solche Dinge sind trotz
alles darüber Gesagten allen Ernstes als ‚Einwände‘ aufgetaucht“ (Weber 1973d
[1917]: 499 [461]).
Hier spricht Weber nicht nur die persönlichen Werte der Forscher an und deren
Motivation für die Stoffauswahl, sondern den Wert der Wissenschaft für die
Gesellschaft, z.B. indem Forscher wertvolle und wichtige Resultate erzielen
(siehe nächster Abschnitt).
Begeisterung, Berufung oder Leidenschaft (vocation,
Wolin 1969) und
damit auch die persönlichen Normen und Werte des Forschers für bestimmte
Fragestellungen und Forschungsobjekte bilden in der Regel kein prinzipielles
Problem für eine objektive und werturteilsfreie Wissenschaft oder können
neutralisiert werden.
Weber sowie alle Forscher in der platonisch-galileischen Tradition sind der
Auffassung, dass methodologisch oder handwerklich gute wissenschaftliche Arbeit
erbracht werden kann, ohne dass eigene Wertungen die Ergebnisse der Arbeit von
vornherein bestimmen. Dies wird nach wie vor von vielen Perestroikans nicht
geteilt. Damit komme ich schon zum nächsten Punkt.
II. Der Wert oder die politische und öffentliche Relevanz der
Wissenschaften
Die Relevanz oder der Wert der Wissenschaft bezieht sich auf die Funktion der
Wissenschaft für gewisse Interessenziele außerwissenschaftlicher Art, sei es
nun, dass diese Ziele vom Staat oder von gesellschaftlichen Akteuren an die
Wissenschaft herangetragen werden (Kapitel 3.2.4). Weber hat gegen solche
außerwissenschaftlichen Wünsche nichts einzuwenden, er achtet aber streng
darauf, dass Wissenschaft keine endgültigen Antworten geben, sondern nur
vielfältige Möglichkeiten erarbeiten kann: „Die Wissenschaften, normative und
empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur
einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und
die verschiedenen ‚letzten‘ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem
denkbar; – 2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl
zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt. – Damit sind wir bei unserer
‚Sache‘“ (Weber 1973d [1917]: 499 [461]).
In diesem Unterabschnitt geht es vor allem darum, die Komplexität der
Wertproblematik und des Sein-Sollen-Verhältnisses aufzuzeigen. Dieser Punkt,
Relevanz wissenschaftlicher Ergebnisse, spielt eine zentrale Rolle im
derzeitigen „Methodenstreit“. Die Forderung nach einer Abkehr von einer
methodologischen Orientierung hin zu einer Problemorientierung (method-driven
versus problem-driven, Shapiro 2005) oder weg vom Scholastizismus hin zu
mehr relevanter Forschung (Mead 2010, Héretier 2016) wurde schon in einem
anderen Abschnitt problematisiert (Kapitel 3.1.2, D, e). Hier soll nur
festgehalten werden, dass Weber keinen Gegensatz zwischen methodologisch
stringenter Vorgehensweise und Relevanz der Wissenschaft erkennen konnte,
sondern im Gegenteil die Stringenz wissenschaftlicher Vorgehensweise die
eigentliche Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft ausmacht. Die
Aufgabe von Gurus, die Sinnfragen beantworten, lehnte er kategorisch ab: „Was
ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da
alle diese früheren Illusionen: ‚Weg zum wahren Sein‘, ‚Weg zur wahren Kunst‘,
‚Weg zur wahren Natur‘, ‚Weg zum wahren Gott‘, ‚Weg zum wahren Glück‘ versunken
sind? Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‚Sie ist
sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun?
Wie sollen wir leben?‘ keine Antwort gibt.‘ Die Tatsache, daß sie diese Antwort
nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar“ (Weber 1973e [1919]: 598 [540]).
Ein Wissenschaftler darf weder Prophet noch Demagoge sein: „Aber Politik
gehört allerdings auch nicht dahin von Seiten des Dozenten. Gerade dann nicht,
wenn er sich wissenschaftlich mit Politik befaßt, und dann am allerwenigsten.
Denn praktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse
politischer Gebilde und Parteistellung ist zweierlei. […] Verlangen kann man von
ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß
Tatsachenfeststellung, Feststellung mathema-tischer oder logischer Sachverhalte
oder inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die
Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und
danach wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände
handeln solle, – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er
dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaal behandeln solle, so ist darauf zu
antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines
Hörsaals gehören. Dem Propheten wie dem Demagogen ist gesagt: ‚Gehe hinaus auf
die Gassen und rede öffentlich‘. Da, heißt das, wo Kritik möglich ist“ (Weber 1973e [1919]: 601-602 [543-544]).
Weber geht es hier in erster Linie um die Rechtschaffenheit, die
Differenzierungsfähigkeit sowie die Kenntnis der Grenzen des Wissenschaftlers,
die mit den Grenzen der Methodologie zusammenhängen. Ich denke es geht zu weit,
aus dieser Stelle und einigen anderen überpointierten Stellen
praktisch-normative Fragestellungen innerhalb der Wissenschaft abzulehnen, daher
habe ich schon auf die Bedeutung von normativen Fragestellungen innerhalb einer
„praktische[n] Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie
„Sozialpolitik“ (Weber 1973c [1904]: 157, vgl. 165) hingewiesen. Hinzu kommt
noch, wie ich zeigen werde, die Bedeutung der „Philosophischen Disziplinen“
(Weber 1973d [1917]: 508 [470]), deren Aufgabe es ist, sich mit Werten rational
auseinanderzusetzen.
III. Werte für die Wissenschaft oder Kriterien, die die Autorität der
Wissenschaft gewährleisten
Erstens geht es um endogene Werte, die die Wissenschaftskriterien und die von
der Forschungsgemeinschaft approbierten Methodologien liefern. Diese
Methodologien werden ständig weiterentwickelt, aufgrund ihrer Komplexität werden
sie hier auf zehn methodologischen Ebenen eingeteilt und diskutiert.
Zweitens gibt es exogene Werte, das sind jene Umstände, unter denen eine
optimale Entfaltung der Wissenschaft gegeben ist. Es handelt sich also um Fragen
danach, wie mit Hilfe einer optimalen Forschungspolitik Wissenschaften am besten
gedeihen können.
Auch hiermit haben Forscher aus der platonisch-galileischen Tradition,
entgegen vielen anderslautenden Kritiken, mit Werten oder Zielen, erst recht
nicht mit konkreten Regulierungen keine Probleme, genauso wenig wie mit dem
nächsten Fragenkomplex.
IV. Werte als Objekt der Wissenschaft (Werte im Objektbereich)
Werte sind materielle und ideelle Güter sowie Normen, die ethisch oder
ästhetisch bedeutsam sind und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein
können. Dass politische Normierungen und Werte Objekt empirischer Untersuchungen
werden können, ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Politikwissenschaft, die
dies nicht praktiziert, ist irrelevant. Diesen Vorwurf, der sowohl von
normativ-ontologischen als auch von kritischen Wissenschaftlern den Szientisten
gemacht wurde, kann man nicht erheben. Wenn Normierungen und Regulierungen
Objekt empirischer Untersuchung werden, dann verlieren sie den Normcharakter,
wir haben es dann mit einem Sein und nicht mit einem Sollen zu tun: „Wenn das
normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als
Objekt, den Norm-Charakter: es wird als ‚seiend‘, nicht als ‚gültig‘ behandelt“
(Weber 1973e [1917]: 531 [493]).
Hier trifft Weber eine Unterscheidung, die auch später in der Logik
unumstritten ist. Die Unterscheidung zwischen Normen auf der einen und Aussagen
über Normen auf der anderen Seite geht nach Georg Henrik
von Wright (1963: 105)
auf Ingemar Hedenius zurück. Mit Hilfe der deontischen Logik kann man die
formalen Beziehungen eines empirischen Diskurses untersuchen oder normieren, mit
der Normenlogik dagegen den praktisch-normativen Diskurs. Von Wright hat in
mehreren Artikeln dargelegt (die wichtigsten wurden von Hans Poser
herausgegeben, siehe von Wright 1977a), dass es z.B. zwischen der Aussage oder
dem empirisch-deskriptiven Satz „es ist verboten, zu töten“ und der Norm bzw.
dem normativen Satz „du sollst nicht töten“ prinzipielle Unterschiede gibt. Ihm
zufolge muss man zwischen einem „Sein-Sollen“ oder einer wahrheitsdefiniten
deontischen Modallogik auf der einen Seite und einem „Tun-Sollen“ oder einer
nicht wahrheitsdefiniten Normenlogik auf der anderen Seite unterscheiden. Ein
„Sein-Sollen“ bezieht die deontischen Operatoren auf „Handlungssätze“ (genauer
Handlungsaussagen), auf Sachverhalte oder Zustände, ein „Tun-Sollen“ auf
„Handlungsverben“ oder auf Handlungen (von Wright 1977g [1974]: 120,
Kapitel
3.7).
V. Wertbasis: Normen und Werte, die die wissenschaftlichen Ergebnisse
beeinflussen
Der größte Dissens in Wertfragen zwischen Vertretern der
platonisch-galileischen und wohlgemerkt nur einigen Vertretern der
aristotelischen Tradition, aber auch Forschern, die sich dem amerikanischen
Pragmatismus oder der Frankfurter Schule verpflichtet fühlen, besteht in Fragen
der Wertbasis.
Vertreter der platonisch-galileischen Tradition sind der Meinung, dass eine
objektive und wertfreie Wissenschaft möglich ist und dass Werte und Normen weder
die Feststellung der Tatsachen noch die Interpretation der Daten
notwendigerweise beeinflussen.
Die Perestroikans bestreiten dies mit Hinweis nicht nur auf die Frankfurter
Schule und den amerikanischen Pragmatismus, sondern auch mit Hinweis auf Stephen
Edelston Toulmin, dessen Buch Schram (2003) als eines der wichtigsten
philosophischen Grundlagen der Perestroikans ansieht. Daher zitiere ich im
Folgenden aus diesem Buch: „Even now it takes a sophisticated analysis to
convince many behavioral scientists that their theories rest on value
assumptions which, if not always explicit, are nonetheless unavoidable. (This is
especially hard when the scientists are skilled in such formal, abstract methods
of analysis as neoclassical equilibrium theory in economics, and rational choice
theory in political science“ (Toulmin 2001: 205).
Problematisch ist eigentlich nur die allgemeine Behauptung, dass Normen und
Werte oder die Wertbeziehung des Forschers zu seinem Gegenstand die
wissenschaftlichen Ergebnisse notwendigerweise beeinflussen müssen oder dass
erkenntnisleitende Interessen (Habermas 1968b) methodologisch nicht
neutralisiert werden können und damit wissenschaftliche Ergebnisse
notwendigerweise beeinflussen. Während dies die Szientisten meiner Meinung nach
zu Recht verneinen oder methodologische Möglichkeiten erkennen, normative
Einflüsse zu neutralisieren, wird dies nicht nur von den Perestroikans bejaht
oder als nicht vermeidbar hingestellt.
VI. Das Werturteilsproblem im engeren Sinne: Wertfreie empirische
Wissenschaft ist möglich, empirische Begründung von Normen hingegen unmöglich
Brauchen wir eine praktische Sozialwissenschaft, die selbst Werturteile über
ihren Gegenstandsbereich, die soziale Wirklichkeit, formuliert? Oder wie Hans
Albert formuliert: „inwieweit sozialwissenschaftliche Aussagen selbst den
Charakter von Werturteilen haben müssen“ (Albert 1967b [1965]: 189).
Es handelt sich bei diesem Streit um die Frage nach dem Selbstverständnis der
Human-, Geistes- oder Sozialwissenschaften. Das Problem der wertenden
Wissenschaft selbst läuft auf die Beantwortung einer normativen Frage hinaus,
nämlich der Frage nach der Aufgabe der Wissenschaft. Wissenschaftler innerhalb
der aristotelischen Tradition halten eine rationale Begründung von Normen und
Regeln für möglich. Die Szientisten der platonisch-galileischen Tradition
behaupten nicht zuletzt durch Bezugnahme auf Weber, dass mit
sozialwissenschaftlichen Methoden eine Begründung von Normen und Werten nicht
möglich ist, allein die Begründung von sozialtechnologischen Regeln wird bejaht.
Von vielen, insbesondere empirisch orientierten Sozialwissenschaftlern wird die
erste These unter Rückgriff auf Weber dahingehend verallgemeinert, dass man mit
keinen wissenschaftlichen Werkzeugen Normen und Werte begründen kann. „Eine
empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur,
was er kann und – unter Umständen – was er will“ (Weber 1973c [1904]: 151).
„Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fachdisziplin muß, wie wir
gleich vorweg feststellen wollen, diese Ansicht grundsätzlich ablehnen, denn wir
sind der Meinung, dass es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein
kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte
ableiten zu können“ (Weber 1973c [1904]: 149, vgl. S. 152).
Weber wird mit Hinweis auf diese Stellen völlig zu Unrecht als jemand ins
Feld geführt, der normative Diskurse innerhalb der Wissenschaften ablehnt. Es
geht hier, wenn man den Kontext des Artikels sowie der konkreten Zitate
beachtet, expressis verbis nur um die Grenzen einer „empirischen Wissenschaft“
und nicht um Grenzen der Wissenschaften schlechthin. Weber verwendet, wie oben
gezeigt, für eine normative Wissenschaft die Begriffe „praktische
Sozialwissenschaft“ (Weber 1973c [1904]: 153) sowie „Sozialpolitik“ (Weber 1973c
[1904]: 157, vgl. 165).
Hier ist es wichtig hervorzuheben, dass eine Erfahrungswissenschaft oder
empirische Wissenschaft die Begründung von Werten nicht vornehmen kann.
Allerdings sieht auch Weber, dass normative Fragestellungen auch innerhalb der
Wissenschaften erörtert werden können, und spricht von „Philosophischen
Disziplinen“ (Weber 1973d [1917]: 508 [470]). Möglich ist etwa die Prüfung
innerer Kohärenz von Normierungen und Regulierungen: „Diese Kritik
[wissenschaftliche Behandlung von Werturteilen] freilich kann nur dialektischen
Charakter haben, d.h. sie kann nur eine formal-logische Beurteilung des in den
geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials eine
Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des
Gewollten sein“ (Weber 1973c [1904]: 151).
Weber formuliert selber mehrere mögliche diesbezügliche Fragestellungen einer
praktischen Sozialwissenschaft: „Der Sinn von Diskussionen über praktische
Wertungen (der an der Diskussion Beteiligten selbst) kann also nur sein:
a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich ‚konsequenten‘ Wertaxiome, von
denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. […]
b) Die Deduktion der ‚Konsequenzen‘ für die wertende Stellungnahme, welche aus
bestimmten Wertaxiomen folgen würden, wenn man sie, und nur sie, der praktischen
Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte. […]
c) Die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung
einer bestimmten praktisch werdenden Stellungnahme zu einem Problem haben müßte:
1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche Mittel, – 2. infolge der
Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge. Diese rein
empirische Feststellung […]
d) neue Wertaxiome und daraus folgende Postulate vertreten, welche der Vertreter
eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht
Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eigenen Postulats mit
jenen anderen entweder 1. prinzipiell oder 2. infolge der praktischen
Konsequenzen, also: sinnhaft oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es
sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus
c“ (Weber 1973d [1917]: 510-511 [472-473]).
Philosophische Disziplinen können den Sinn von Wertungen erörtern sowie deren
sinnhafte Geltungssphären abgrenzen. Erfahrungswissenschaften hingegen können
nur die Mittel zur Durchsetzung von Zwecken ermitteln sowie auf mögliche Folgen
und Nebenfolgen hinweisen: „Philosophische Disziplinen können darüber hinaus mit
ihren Denkmitteln den ‚Sinn‘ der Wertungen, also ihre letzte sinnhafte Struktur
und ihre sinnhaften Konsequenzen ermitteln, ihnen also den ‚Ort‘ innerhalb der
Gesamtheit der überhaupt möglichen ‚letzten‘ Werte anweisen und ihre sinnhaften
Geltungssphären abgrenzen. Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein
Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit
die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends
die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden,
gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache
der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches)
wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung
geben könnte. Am allerwenigsten kann diese Wahl unsere streng empirische
Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch
nicht den Anschein erwecken, es zu können“ (Weber1973d [1917]: 508 [470]).
Die Unmöglichkeit bezieht sich wohlgemerkt nur darauf, mit Mitteln der
empirischen Sozialwissenschaft Normen und Werte zu begründen
(Weber 1973c
[1904], Weber 1973d [1917],
Acham 1983: 230 ff.,
Albert 1967b [1965],
Albert
1971, Stegmüller 1979: 177 ff., Krobath 2009: 193 ff.), nicht aber eine
generelle Unmöglichkeit eines rationalen oder wissenschaftlichen, praktischen
(normativen, pragmatischen oder technischen) Diskurses. Im Gegenteil, solche
Diskurse sind erstens wünschenswert und notwendig als auch methodologisch
machbar, da es keine normative Kraft des Faktischen gibt, vielmehr sämtliche
Forderungen der Legitimierung und damit eines praktischen Diskurses bedürfen:
„Eine normative Kraft des Faktischen gibt es jedoch nicht. Tendenzen und
Entwicklungen in der Gesellschaft können als solche niemals Pflichten
verbindlich machen oder Handlungen rechtfertigen. Die Faktizität von
Forderungen, auch wenn sie vom modernen Götzen Gesellschaft erhoben werden, kann
für sich allein niemals Legitimität von Normen begründen. Denn Forderungen sind
ohne Ausnahme, von welcher Instanz sie auch erhoben werden mögen, selbst der
Normierung und der Legitimierung bedürftig“ (Wieland 1986: 136).
Wie man sieht, setzt sich Weber sehr differenziert mit der Wertproblematik
auseinander. Einflussreich werden aber insbesondere seine Überlegungen über die
Grenzen empirischer Wissenschaft. Dies ist deshalb der Fall, weil sich
hauptsächlich diejenigen Politikwissenschaftler, die in der
platonisch-galileischen Tradition stehen, auch heute noch als empirische (Sozial)Wissenschaftler
verstehen.
Die Möglichkeiten einer praktischen Sozialwissenschaft oder Sozialpolitik,
die Weber durchaus sieht und für berechtigt hält, werden später vor allem von
Politikwissenschaftlern, die sich ausdrücklich auf Weber berufen, nicht
weiterverfolgt, genauso wie es mit seinen Überlegungen über Sinnverstehen
geschieht. Sinnstiftung, Sinndeutung oder Sinnverstehen werden heute vor allem
von Interpretivisten weiterverfolgt. Allein Kausalanalysen stehen bei
szientistischen Wissenschaftlern im Vordergrund. Damit werden normative
(ethisch-moralische) Fragestellungen innerhalb eines Wertdiskurses, z.B. ob
Solidarität innerhalb einer Gesellschaft richtig oder falsch ist oder was
gerecht oder ungerecht ist, überhaupt nicht behandelt. Dies gilt auch für
pragmatische Fragestellungen innerhalb eines Zieldiskurses, z.B. welche
Strategien zur Umsetzung von Solidarität klug oder unklug, wünschenswert oder
unerwünscht sind. Allein technische Fragestellungen innerhalb eines
Mitteldiskurses werden behandelt, z.B. wie man effizient Armut in einer ganz
bestimmten Lebenslage vermeiden bzw. beheben kann (Kapitel 3.1.2, E, e).
Die Wertproblematik wird von Weber und den Naturalisten sehr differenziert
behandelt, während die Kritik der Perestroikans sehr pauschal ist und
verschiedene Fragestellungen miteinander vermischt.
In dieser Arbeit werde ich auf zehn methodologischen Ebenen nachweisen, warum
eine Trennung zwischen Sein und Sollen, genauer zwischen empirischer und
praktischer Politikwissenschaft notwendig ist.
Im folgenden Unterabschnitt wird nun erörtert, wie man mit Kausalanalysen
zwar keine praktischen, aber immerhin technische Mitteldiskurse nach Ansicht der
empirisch orientierten Politikwissenschaftler führen könnte.
c. Angewandte nicht praktische Sozialwissenschaften: Umwandlung von
Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis)
Die Reduzierung von praktischen (normativen, pragmatischen und technischen)
auf technische Diskurse innerhalb der platonisch-galileischen Tradition ist nur
unter zwei wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen möglich, die leider
innerhalb der methodologischen Literatur zwar angenommen, aber selten bis nie
thematisiert werden. Einmal geht es um die Äquivalenz zwischen Kausalität und
Handlung und zum Zweiten um Umkehrungen von Kausalsätzen oder die Umkehrung des
fundamentalen Erklärungsschemas. Mit Anwendung meint man die Umkehr von
Kausalsätzen, empirisch ermittelte Kausalitäten in Form von Wenn-dann-Aussagen
werden in technische Regeln umgewandelt. Diese Zusammenhänge sollen nun zuerst
detaillierter geschildert werden.
I. Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung
Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des kausalen Reduktionismus wurden
zuerst im 17. Jahrhundert formuliert, daher ist ein Rückblick auf die Entstehung
des galileischen Denkens im 17. Jahrhundert notwendig und zwar speziell auf die
wissenschaftstheoretischen Einsichten Francis Bacons.
Bacon behauptete, dass das aristotelische Organum oder die dort vorgestellten
Werkzeuge überholt seien. Daher hat er neue Werkzeuge vorgeschlagen und ein
„Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]) geschrieben. In Form von Aphorismen hat er
seine Position geschildert und vor allem ein methodologisches Programm
skizziert, das zukünftige Wissenschaftler eigentlich noch beweisen und damit mit
Leben füllen sollten.
Francis Bacon hat damit den Fortschrittsgedanken nicht nur propagiert,
sondern diesen auch erstmals in großem Maßstab umgesetzt. Er erfreut sich nach
wie vor großer Beliebtheit: Ein Forscher stellt Thesen auf und ist sich sicher,
dass zukünftige Forscher oder Forschergenerationen irgendwann mal mühelos die
Beweise nachliefern können. Bacon liefert für seine Thesen auch keine Beweise,
aber immerhin formuliert er wichtige Voraussetzungen des Kausaldenkens.
Der Untertitel seines „Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]) lautet: „Aphorismi de
Interpretatione Naturae et Regno Homini“. Das Wort „Interpretatione“ kann man
nicht im heutigen sehr engen Verständnis von hermeneutisch-sprachlicher
Interpretation übersetzen, sondern beinhaltet neben Auslegung (Interpretation)
auch Erklärung, Deutung, Beurteilung (siehe Lateinisches Wörterbuch
de.pons.com),
kurz es geht um Natur- und Welterkenntnis oder -verständnis (Interpretatione)
auf der einen und menschlicher Natur- oder Weltbeherrschung (Regno Homini)
auf der anderen Seite.
Kausalität kann nur dann die Grundlage sowohl von Welterkenntnis als auch
Weltveränderung bilden, wenn beide eng miteinander verknüpft sind, genauer
gesagt, wenn es eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung gibt. Diese
Äquivalenz wird vorausgesetzt und leider heute in der Politikwissenschaft oder
in anderen Sozialwissenschaften überhaupt nicht thematisiert. Auch im oben
erwähnten Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a
[2008]) wird es nicht getan. Bacon war dieser Zusammenhang bewusst: „Wissen und
menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die
Wirkung verfehlen lässt. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam
bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der
Ausführung als Regel“ (Bacon 1990 [1620]: 81, 3. Aphorismus, Teilband 1).
- „Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio
causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur; et
quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar
regulae est“ (Bacon 1990 [1620]: 80, 3. Aphorismus, Teilband 1).
- „Human knowledge and human power come to the same thing, because
ignorance of cause frustrates effect. For Nature is conquered only by
obedience; and that which in thought is a cause, is like a rule in
practice“ (Bacon 2000 [1620]: 33, vgl. Aphorismus 129).
Die Formulierung „ergänzen sich“ für „in idem coincidunt“ ist
missverständlich, die von Wolfgang Krohn im Anschluss an Farrington
vorgeschlagene deutsche Übersetzung „sie treffen in demselben zusammen“
trifft die Sache erst genau: „The twin goals, human science and human
power, come in the end together“ (Übersetzung von B. Farrington, zitiert
nach Krohn 1990: XVII).
Bacon stellt hier einen neuen Zusammenhang zwischen Naturkausalität und
Handelsregel her: „Der zentrale Aspekt ist die Neuordnung der Beziehung zwischen
den Begriffen der Naturkausalität und der Handlungsregel. Bacon stellt die
Äquivalenz auf, dass die Erkenntnis eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs in der
Natur als Regel der Hervorbringung einer Wirkung dienen kann (a3) und umgekehrt,
dass die Hervorbringung eines Effektes durch eine Regel die Angabe einer
Kausalität ermöglicht (b4)“ (Krohn 1990: XVI). Bei dieser Äquivalenz handelt es
sich um eine „Transmissionsregel vom Wissen über die Natur zur Handlungsregel in
der Natur“ (Kornwachs 2013: 42). Mario Bunge nennt dies einen pragmatischen
Syllogismus (Bunge 1967b: 132-139). Wichtig ist, dass beides, der pragmatische
Syllogismus wie die Analogie, formal nicht gültig ist. Logisch gesehen handelt
es sich bei der Äquivalenz um eine bikonditionale Beziehung oder anders gesagt
um eine Genau-dann-wenn-Beziehung (gdw. bedeutet: A genau dann, wenn B), die
einmal eine notwendige Bedingung (wenn A, dann B) und gleichzeitig eine
hinreichende Bedingung (wenn B, dann A) formuliert (im
13. Schaubild,
werden die logischen Beziehungen übersichtlich festgehalten).
In der kausalistischen Terminologie von heute würde man wie folgt
formulieren: Theorie und Praxis sind dasselbe oder treffen in demselben
zusammen, Aussagen, die in der Theorie wahr sind, sind in der Praxis effizient.
Matthias Kortmann und Klaus Schubert sprechen auf der einen Seite von
„kausalen Aussagen“, die mit Hilfe von empirischer Forschung generiert werden
und dann durch Umkehrung in „zweckorientierte um-zu-Aussagen“ umgewandelt werden
(Kortmann/Schubert 2006: 48). Damit wird die Vorgehensweise angedeutet, wie man
empirisch generiertes Wissen in sozialtechnologische Regulierungen umwandeln
kann. Dies wird nun im nächsten Abschnitt behandelt.
II. Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen
Erklärungsschemas
Weber ist strikt gegen eine „unzulässige Umdeutung von Tatsachen der
Seinssphäre in Normen der Wertungssphäre“ (Weber 1973d [1917]: 539 [501]).
Legitimitätsfragen innerhalb von Wertdiskursen und Zieldiskursen können mit
Hilfe einer empirischen Methodologie nicht erörtert werden. Allerdings kann man
ihm zufolge durch „einfache Umkehrungen von Kausalsätzen“ technische Mittel,
Weber spricht von „Mittel“ oder von „Maßregel“, die moderne Bezeichnung lautet
sozialtechnologische oder technische Regeln oder Regulierungen innerhalb eines
Mitteldiskurses begründen, die für ein erfolgsorientiertes (zweckrationales)
Handeln nötig sind: „Es bleibt eben dabei: daß die ökonomische Theorie absolut
gar nichts andres aussagen kann als: daß für den gegebenen technischen Zweck x
die Maßregel y das allein oder das neben y1, y2 geeignete Mittel sei, daß im
letzteren Fall zwischen y, y1, y2 die und die Unterschiede und Wirkungsweise und
– gegebenenfalls – der Rationalität bestehen, daß ihre Anwendung und also die
Erreichung des Zweckes x die ‚Nebenfolgen‘ z, z1, z2 mit in den Kauf zu nehmen
gebietet. Dass alles sind einfache Umkehrungen von Kausalsätzen und sowie sich
daran ‚Wertungen‘ knüpfen lassen, sind sie ausschließlich solche des
Rationalitätsgrades einer vorgestellten Handlung. Die Wertungen sind dann und
nur dann eindeutig, wenn der ökonomische Zweck und die sozialen
Struktur-Bedingungen fest gegeben sind und nur zwischen mehreren ökonomischen
Mitteln zu wählen ist, und wenn diese überdies ausschließlich in Bezug auf die
Sicherheit, Schnelligkeit und quantitative Ergiebigkeit des Erfolges
verschieden, in jeder anderen für menschliche Interessen möglicherweise
wichtigen Hinsicht aber völlig identisch funktionieren“ (Weber 1973d [1917]: 529
[491], vgl. auch S. 517 [479], S. 538 [500] sowie S. 526 [488]).
Nur Mitteldiskurse bei vorliegendem Zweck sind innerhalb einer
Erfahrungswissenschaft oder empirischen Wissenschaft möglich: „Nur wo bei einem
absolut eindeutig gegebenen Zweck nach dem dafür geeigneten Mittel gefragt wird,
handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidende Frage. Der Satz: x ist
das einzige Mittel für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x
folgt y“ (Weber 1973d [1917]: 517 [479], vgl. auch S. 529 [491], 538 [500] sowie
526 [488]).
Wenn es um Kausalanalysen geht (notabene nur dort!), folgt Weber den von Bacon
formulierten Grundsätzen und ist der Meinung, dass technische Regulierungen
mittels Umkehrung von Kausalsätzen erbracht werden können. Genauso wie später
auch Karl Raimund Popper: „Wir sehen also, daß, vom logischen Standpunkt
betrachtet, die Prognosededuktion und die technische Anwendung lediglich eine
Art Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas darstellen“ (Popper 1984
[1972]: 367).
Für die Politikwissenschaft im Hinblick vor allem auf die Bedeutung der
Praxis hat dies Adrienne Héretier wie folgt formuliert: „In other words, if
theory guided hypotheses are not logically consistent, the causal relations
derived from them would be flawed. If in turn, policy recommendations would
derived from latter, the policy recommendations would be detrimental rather than
beneficial“ (Héretier 2016: 23).
Heute kann man aufgrund der Entwicklung von Logik und Sprachphilosophie
wesentlich gründlicher und differenzierter formulieren, was Weber und Popper
damit meinten. Der erste Satz ist eine Aussage der Form, wenn x, dann y. Bei der
Umkehrung handelt es sich um eine (technische) Regel der Form, wenn du y
erreichen willst, dann tue x. Es gibt nur eine pragmatische, aber keine
logische
Beziehung zwischen gesetzesartigen oder regulativen Aussagen oder Propositionen,
z.B. wenn A, dann B, und dazugehörigen (technischen) Regeln oder Anweisungen,
z.B. B per A, wenn du B erreichen willst, dann versuche A (Kornwachs 2008: 139
und Kornwachs 2012: 64 ff.). Es gibt einen Unterschied „zwischen den Aussagen
A
und B und der zugehörigen Handlung A oder eines realen Zustands
B, der durch die
Handlung A ins Werk gesetzt wird“ (Kornwachs 2012: 65). Diese Notation übernimmt
Kornwachs von Mario Bunge (1967b). „Der pragmatische Syllogismus ist ein
Ergebnis der pragmatischen Interpretation einer deduktiv-nomologischen Erklärung
und deren Verknüpfung mit einem normativen Satz, z.B. dass B gewünscht werde.
Bunge nennt diesen Ausdruck zuweilen technologische Regel“ (Kornwachs 2012: 67).
Das Unterkapitel von Mario Bunge lautet „Technological Rule“ (Bunge 1967b:
132-139). Bunge verwendet die Ausdrücke „nomological statement“ (nomologische
Aussage) und „nomopragmatic statement“. Die Übersetzung Letzterer ist nicht so
einfach, eine wörtliche Übersetzung „nomopragmatische Aussage“ ist aus
verschiedenen Gründen nicht sinnvoll, eher schon „technologische Regel“, wie die
Kapitelüberschrift nahelegt (Bunge 1967b: 132-139). Die prinzipielle Kritik
daran, die erstaunlicherweise insbesondere von der Technikphilosophie kommt,
wird im nächsten Abschnitt wesentlich detaillierter formuliert (13.
Schaubild).
Warum erkennen Kausalisten nicht, dass die oben geschilderte Äquivalenz
notwendig ist oder vorausgesetzt werden muss, wenn man Umkehrungen von
Kausalsätzen vornimmt?
Die Antwort lautet, dass alle, die Weber und Popper folgen, wie z.B. Hans
Albert, fälschlicherweise annehmen, dass es sich bei der Umkehrung von
Kausalsätzen um eine tautologische Transformation handelt, die keine
zusätzlichen Prämissen braucht: „Um ein theoretisches in ein technologisches
System zu transformieren, bedarf es bestimmter logischer Operationen. Da es sich
um eine tautologische Transformation des betreffenden Systems handelt, benötigt
man keine zusätzlichen Prämissen. Der Informationsgehalt eines technologischen
Systems geht in keiner Weise über den seiner theoretischen Grundlage hinaus“
(Albert 1967b [1965]: 192). Diese Annahme ist auch aus noch anderen Gründen, wie
oben dargelegt, nicht haltbar.
Bacon hat Recht, ohne die Annahme einer Äquivalenz zwischen Kausalität und
Handlung ist eine Transformation nicht möglich. Nur unter dieser Voraussetzung
kann man durch „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491]
oder durch „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]:
367) Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis), d.h. in Sozialtechnologie,
umwandeln.
Ohne die versteckten Annahmen (hidden assumptions) der
platonisch-galileischen Tradition zu thematisieren, kann man weder die
Missverständnisse im „Methoden-streit“ klären noch den Unterschied zwischen
angewandter und praktischer Wissenschaft verstehen. Daher werden die drei
wichtigsten versteckten Annahmen hier nochmals angeführt:
- 1. Kausalität als unsichtbare und verborgene Kraft, die die Welt im
Innersten
zusammenhält
- 2. Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung
- 3. Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen
Erklärungsschemas sind tautologische Transformationen.
Hinzu kommt als sichtbare Komponente die Bevorzugung einer kausalen und
empirischen Vorgehensweise sowie einer logisch-mathematischen
Forschungsmethodologie.
III. Angewandte (applied) statt praktischer (practical)
Sozialwissenschaften
Die Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung und damit eine Äquivalenz
zwischen Aussagen und Regeln führt aber auch zur Einteilung in empirische
(theoretische) und angewandte Wissenschaften. Innerhalb Ersterer werden
Kausalitäten ermittelt, die angewandten Wissenschaften müssen diese nur noch
umkehren. Damit können Anweisungen oder Ratschläge als Teil einer wohlgemerkt
angewandten (nicht praktischen) Politikwissenschaft quasi nebenbei formuliert
werden. Dies ist deshalb möglich, weil mit der Ermittlung von Kausalitäten die
Welt erstens erkannt wird und zweitens verändert werden kann.
Dabei werden die ethisch-normativen sowie pragmatischen Dimensionen überhaupt
nicht thematisiert, wie dies seit der Antike in der praktischen Philosophie
gemacht wurde. Allein eine „halbierte“, „instrumentelle Vernunft“ (Horkheimer
1967 [1947]) ist hier am Werk. Nur ein technisches Sollen kann der
platonisch-galileischen Tradition folgend wissenschaftlich begründet werden.
Weder ein pragmatisches noch ein normatives Sollen wird auch nur angestrebt.
Normative oder ethisch-moralische Fragen werden ausdrücklich ausgenommen.
Normative Diskurse sind nur insoweit ein Anliegen der Wissenschaften, sofern es
um die Erörterung von Mitteln geht. Dies wird auch deutlich von den Adepten
anerkannt: „Man darf die Relevanz eines technologischen Systems nicht mit einer
Legitimation für seine praktische Anwen-dung verwechseln“ (Albert 1967b [1965]:
193).
Die Kritik der Frankfurter Schule wird nach wie vor geteilt, so spricht Bo
Rothstein davon, dass diese kausale und empiristische Orientierung nur „technically
competent barbarians“ (Rothstein 2005) hervorbringe. Dies schießt nun über das
Ziel hinaus, weil es auch sichtbare Annahmen, z.B. liberale und utilitaristische
Prinzipien, gibt, die die normativen Werte enthalten, für die dann etwa mittels
des normativen Rational-Choice-Ansatzes Mittel formuliert werden (Kapitel 3.1.1,
D, e). Die normativen (liberalen und utilitaristischen) Werte, die eigentlich
der Rationalwahlansatz voraussetzt, können allerdings nicht mit demselben
Rationalwahlansatz legitimiert werden.
Mit Hilfe von „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529),
„Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1973]: 367) oder
des pragmatischen Syllogismus (Bunge 1967b: 134) wird von empirischen Aussagen
mittels Analogie (notabene: mit einer formal nicht gültigen Argumentationsweise)
auf angewandte Regeln geschlossen und damit werden Ergebnisse der empirischen
Wissenschaften in Ergebnisse für angewandte Wissenschaften umgewandelt (13.
Schaubild).
Entscheidend ist, dass damit keine genuin praktische Methodologie mehr
notwendig ist. Dieser methodologische Reduktionismus wird, wie ich im nächsten
Abschnitt genauer nachweisen werde, auch heute noch innerhalb der
platonisch-galileischen Tradition angenommen. Wenn man von angewandten
Wissenschaften spricht, dann wird damit keine eigenständige Methodologie
propagiert, im Gegenteil, das Adjektiv „empirisch“ weist oft noch nachdrücklich
darauf hin, dass man dieselbe Methodologie wie empirische Wissenschaften
benutzt. Der Unterschied liegt darin, dass man möglichst in der Praxis schnell
umsetzbare Fragestellungen behandelt.
Der Einfluss Webers und Poppers auf die Anwendung von Erkennen (Theorie) in
Handeln (Praxis), d.h. Umwandlung von empirischem Wissen in angewandte Praxis,
ist nicht nur enorm, sondern mittlerweile auch so selbstverständlich, dass
Umkehrungen von Kausalsätzen oder Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas
heute zu den implizierten und unausgesprochenen Voraussetzungen (hidden and
tacit assumptions) gehören, die sehr selten als solche angegeben oder gar
thematisiert werden. Popper hat im Unterschied zu Weber auch die praktischen
Aspekte genauer untersucht und über die Erfordernisse einer angewandten
Sozialtechnologie publiziert (Popper
1980a [1944],
1980b [1944] und
2003
[1957]).
Die Umwandlung der Kausalitäten ist dabei nicht so trivial, wie es den
Anschein hat, da es sich ja angeblich um tautologische Umwandlungen handelt. Die
Formulierung von sozialtechnologischen Regulierungen erfordert dann doch einige
„Phantasieleistung“, wie auch Hans Albert zugibt: „Was sich logisch als eine
tautologische Transformation theoretischer in relevante technologische Aussagen
darstellt, ist also praktisch vielfach eine beachtliche Phantasieleistung. Die
Begründung für diesen an sich seltsam anmutenden Tatbestand liegt darin, daß
auch die Auffassung bestimmter logischer Zusammenhänge, Ableitungsmöglichkeiten
und Konsequenzen in wichtigen Fällen nicht mechanisierbar ist“ (Albert 1967b
[1965]: 197).
Weder die Perestroikans noch ihre Kontrahenten erörtern in den oben genannten
Büchern diese Zusammenhänge (eigentlich hätten diese Zusammenhänge in dem
Beitrag „Normative Methodology“ von Russel
Hardin (2011 [2009]) auftauchen
müssen, siehe nächster Unterabschnitt).
Im Folgenden werden zwei Zitate aus Lehrbüchern für Politikwissenschaftler
gebracht, die als Ausnahmen die genannte Regel bestätigen, da sie zumindest
darauf hinweisen, dass eine Umwandlung gemacht wird, auch wenn weder die
Berechtigung derselben noch das Wie thematisiert werden:
„Der Wertverwirklichung kann auch rein empirisches Zusammenhangswissen
dienen. Zusammenhänge erfassende Wenn/Dann-Aussagen lassen sich nämlich
‚normativ aufladen‘ und dadurch in praktisch nützliche Handlungsanweisungen
umsetzen: Wird im Rahmen eines normativen Arguments eine der Komponenten einer
empirisch wahren Wenn/Dann-Aussage als gesollt behauptet, so läßt sich der
Informationsgehalt jener Wenn/Dann-Aussage zur Verwirklichung des Gesollten
nutzen, indem man die andere Komponente als Gebot formuliert“ (Patzelt 1986:
204).
„Die Entwicklung von Handlungsanweisungen ist ein Bestandteil der
Politikfeldanalyse. Wie die empirische Forschung zielt diese zunächst auf die
Entwicklung von kausalen wenn-dann-Aussagen; diese werden jedoch ‚normativ
aufgeladen‘ (Patzelt 1986: 204) und stellen dadurch einen Bezug zur politischen
Praxis her. Dieses geschieht dadurch, dass der Wenn-Bestandteil der kausalen
Aussage als Handlungsanweisung formuliert, während der Dann-Bestandteil als
erstrebender Zustand ausgedrückt wird. Somit werden die kausalen Aussagen im
Ergebnis also zu zweckorientierten um-zu-Aussagen umgeformt (Schubert 1995: 283
ff.)“ (Kortmann/Schubert 2006: 47-48, siehe
2. Schaubild).
d. Normative Rationalwahltheorie (Normative Rational Choice Theory) als
normativ-praktische Methodologie der Szientisten
Nachdem die versteckten wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen einer
angewandten Politikwissenschaft (applied political science) erörtert wurden,
wird im Folgenden der Beitrag „Normative Methodology“ von Russel
Hardin (2011
[2009]) daraufhin untersucht, wie praktisches Wissen innerhalb der
platonisch-galileischen Tradition generiert werden kann. Dies ist der einzige
Beitrag innerhalb des Bandes „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]), der sich mit praktisch-normativer Methodologie auseinandersetzt.
Hier sollen erst einmal nur die Ziele geschildert werden, die Rationalwahl
(rational choice) wird dann später ausführlich erörtert (Kapitel 3.10).
Auch in der „normativen Methodologie“ der platonisch-galileischen Tradition
beansprucht der kausale Reduktionismus in Form einer normativen
Rational-wahltheorie (rational-choice normative theory) die Alleinherrschaft.
Diese Theorie wird geradezu als einzig brauchbare normative Methodologie und
Theorie (beides wird bei ihm gleichgesetzt,
Kapitel 3.10) hingestellt, alle
anderen normativen Theorien werden sogar als esoterisch und irrelevant
abgekanzelt: „Over the past four decades, rational-choice normative theory, the
third major branch of contemporary normative methodology [Konflikttheorien und
Kontraktualismus sind die beiden anderen], has become a vast program that
increasingly leaves the other two branches behind in its scope and sheer
quantity of work. This development is made more readily possible by the clarity
and systematic structure of game theory and game-theoretic rational choice. Game
theory and rational choice methodology are very well laid out and easily put to
use. Perhaps at least partially because of that fact, rational choice methods
are taking over normative theorizing and theories […]. Two of the methods,
shared-value and contractarian arguments, threaten to be narrowed down to use by
academic moral theorists with little resonance beyond that narrow community. Any
method that becomes as esoteric as much of contemporary moral theory has become
is apt to be ignored and even dismissed by the overwhelming majority of social
theorists as irrelevant“ (Hardin 2011 [2009]: 99).
Quantitative Analysen, die die Einschätzung über die Verbreitung der
normativen Rationalwahltheorie belegen, werden weder in diesem Artikel geliefert
noch wird auf externe Arbeiten verwiesen. Es ist wichtig festzuhalten, dass in
dem Methodenband „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a
[2008]) dieser Ansatz als einzig zukunftsträchtiger hingestellt wird und andere
Ansätze schlicht ignoriert werden. Weitaus wichtiger ist zweitens, ob diese
normative Rationalwahltheorie auch eine adäquate normative (praktische)
Methodologie abgeben kann.
Welche Ziele verfolgt man mit dieser Theorie, die gleichzeitig auch eine
Methodologie sein soll? Der Rationalwahlansatz dient dazu, die Welt empirisch
mittels Wenn-dann-Aussagen zu erklären, aber auch die Welt mittels
sozialtechnologischer Regeln zu verändern. Empirische Politikwissenschaftler
ermitteln die unsichtbaren Kausalitäten, die sozialtechnologischen Konsequenzen
können dann innerhalb einer angewandten Politikwissenschaft durch Umwandeln von
Kausalsätzen, wie im oberen Unterabschnitt erläutert, erstellt werden.
Wichtig für diese Arbeit ist nun nicht, wie man mit Hilfe der Spieltheorie
sozialtechnologische Regulierungen formuliert. Hardin zufolge ist dies relativ
einfach: „Game theory and rational choice methodology are very well laid out and
easily put to use“ (Hardin 2011 [2009]: 99,
Kapitel 3.10). Von Bedeutung ist der
Charakter eines praktischen Diskurses, der mit Hilfe dieses methodischen
Ansatzes arbeitet: Beim normativen Rationalwahlansatz handelt es sich um einen
technischen Mitteldiskurs (9. Schaubild und
10. Schaubild), der
jedwedes legitimatorische Ziel von vornherein ablehnt und auch gar nicht leisten
kann. Alle Werte, Normen und Ziele, es handelt sich in der Regel um liberale und
utilitaristische Wertvorstellungen, können nicht begründet werden, sondern
werden genauso wie andere ontologische und epistemologische (gnosiologische)
Vorstellungen schlicht als Annahmen voraus-gesetzt und behandelt. Anders
ausgedrückt, es geht nur um technische Mitteldiskurse, jede legitimatorische
Absicht wird schlicht in die zugrundeliegenden ontologischen (Individualismus,
Selbstinteresse) und ethischen Annahmen (Utilitarismus) verbannt. Diese
Voraussetzungen kann man nun nicht mit dem Rationalwahlansatz begründen.
e. Praktische Methodologie der phronetischen Perestroikans: angewandte
Klugheit (applied phronesis), praktische Weisheit (practical wisdom),
praktische Vernunft (practical reason)
Flyvbjerg und die phronetischen Perestroikans wollen unter Rückgriff auf die
aristotelische Phronesis und dem Einbezug von Machtfragen eine bessere und vor
allem eine relevante Alternative zur gegenwärtigen Sozial- und
Politikwissenschaft etablieren, eine phronetische oder echte Wissenschaft (real
science); damit wird die Sozialwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften
orientiert, als unecht abgekanzelt: „MSSM [gemeint ist das Buch von
Flyvbjerg
(2001)] reinterpreted the Aristotelian concept of phronesis to include issues of
power and explained that building on this new version of phronesis is the best
bet for the relevance of the social sciences in society […]. The book provided a
thorough analysis of how its alternative social science is dedicated to
enhancing a socially relevant form of knowledge, that is, ‘phronesis’ (practical
wisdom on how to address and act on social problems in a
particular context)“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 1).
Sozial relevant sind sicherlich auch die Kausalitäten, die
Sozialwissenschaftler
ermitteln können. Die berechtigte Kritik der Frankfurter Schule oder der
konservativen, normativ-ontologischen Theorie ist ja, dass man nicht nur ein
technisches, angewandtes Wissen generieren muss, sondern dass es auch Aufgabe
der Wissenschaften sein sollte, dieses Wissen zu legitimieren. Können die echten
oder phronetischen Sozialwissenschaftler dieses Ziel erreichen?
Auch mit der angewandten Klugheit reicht es nur für die Generierung von
technischem Wissen. Ein pragmatischer Zieldiskurs kann ebenso wenig geführt
werden. Zwar lautet das allgemeine Ziel: „[T]o make the world a better place“
(Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 11). Dieses Ziel haben ähnlich schon Bacon
sowie die Pioniere der amerikanischen Politikwissenschaft formuliert (Kapitel
3.1.1, A).
Wer weiß nun, was besser ist, und vor allem wer begründet dies und wie wird
dies begründet. Der echte Sozialwissenschaftler weiß, was besser ist; woher und
wie er dieses Wissen ermittelt, wird leider nicht thematisiert: Eine praktische
Wissenschaft muss aber genau diese Frage nicht nur beantworten, sondern dies
auch begründen. Hier bieten die Perestroikans eigentlich einmal die moralischen
Einstellungen der forschenden Wissenschaftler oder der betroffenen Gruppen: „[W]here
‘better’ is defined by the values of phronetic researchers and their reference
groups“ (Flyvbjerg/Landman/
Schram 2012c: 290).
Drei Seiten später wird dies schon wieder hinfällig und durch eine
kontextabhängige gemeinsame Meinung ersetzt. Gleichzeitig wird ein
Universalismus abgelehnt, Sozialisation und eigene Geschichte sollen ein
wirksames Mittel gegen Relativismus und Nihilismus bieten: „[T]he normative
basis for applied phronesis, and for problematizing tension points, is the
attitude among those who problematize and act, and this attitude is not based on
idiosyncratic moral or personal preferences, but on a context-dependent common
world view and interests among a reference group, well aware that different
groups typically have different world views and different interests, and that
there exists no general principle by which all differences can be resolved, no
view from nowhere. For phronetic social scientists, the socially and
historically conditioned context, and not fictive universals, constitutes the
most effective bulwark against relativism and nihilism and is the best basis for
action. Our sociality and history is the only foundation we have, the only solid
ground under our feet“ (Flyvbjerg/Landman/
Schram 2012c: 293).
Wie man mit einer angewandten Klugheit diese Ziele erreichen kann und welche
weiteren wissenschaftlichen Werkzeuge dazu nötig sind, wird leider nicht
ausgeführt. Die Perestroikans sind aber überzeugt, dass eine Sozialwissenschaft,
die sich an der Naturwissenschaft orientiert, diese Ziele nicht erreichen kann:
„Intelligent social action requires phronesis, to which the social sciences can
best contribute and the natural sciences cannot with their emphasis on
‘epistemé’ (universal truth) and ‘techné’ (technical know-how)“ (Flyvbjerg/Landman/Schram
2012b: 1).
Nur Priester suchen und verkünden universelle Wahrheiten, weder
Naturwissenschaftler noch die Sozialwissenschaftler, die Flyvbjerg kritisiert,
haben überhaupt solche Ansprüche. Wissenschaftler suchen nach rational
begründbarem Wissen. Das Wissen, das sie finden, hat aus prinzipiellen Gründen
hypothetischen Charakter, die Wenn-dann-Struktur wissenschaftlicher Erkenntnisse
gehört zu den in der Regel impliziten Voraussetzungen jedweder
wissenschaftlichen Untersuchung (Kapitel 3.1.3, G und
Kapitel 3.2).
Das Ziel der Phronetiker ist, mit Hilfe einer angewandten Klugheit eine
problemorientierte Methodologie zu schaffen (Flyvbjerg/Landman/
Schram 2012c:
285). Wobei angewandt bedeutet, dass man aus dem Kontext entstandenes Wissen
anwendet: „In phronetic social science, ‘applied’ means thinking about practice
and action with a point of departure not in top-down, decontextualized theory
and rules, but in ‘bottom-up’ contextual and action-oriented knowledge, teased
out from the context and actions under study by asking and answering the
value-rational questions that stand at the core of phronetic social science (Schram
1995)“ (Flyvbjerg/Landman/
Schram 2012c: 286).
Die phronetischen Wissenschaftler streben eine Revolutionsphilosophie (philosophy
of engagement) an, mit deren Hilfe man ungerechte Zustände ändern kann. Dabei
besteht die angewandte Klugheit nicht nur im praktischen Wissen, wie man
ungerechte Zustände umwandelt, und zwar indem man erstens die Spannungspunkte
entdeckt, sondern auch im revolutionären Können oder darin, die Könnerschaft (skills)
dazu diese Spannungspunkte umzuwandeln: „What ist applied is not theory, but a
philosophy of engagement that recognizes that phronesis is a skill and that
having phronesis is iteratively dependent on practising phronesis“ (Flyvbjerg/Landman/
Schram 2012c: 286).
Dabei handeln sie gemeinsam mit den betroffenen Gruppen,
denen sie das Wissen und das praktische Können vermitteln, wie sie ihre Anliegen
durchsetzen sollen: „In each case, the students and instructor rely on
phronetics in the sense of working with affected communities to achieve
empowerment“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 10).
Praktisches Wissen und praktisches Können werden nicht unterschieden: „This
practical wisdom seems to have three aspects: it is content, a quality of
persons and a form of action. As content, phronesis is a resource – a stock of
experiential knowledge. As a quality of persons, it is what enables acquisition
and appropriate use of that knowledge – a capacity. And as action, phronesis
necessarily involve doing something – a practice in which experiential knowledge
is both used and gained. ‘Having phronesis’ is iteratively dependent on
‘practising phronesis’“
Flyvbjerg/Landman/Schram 2012b: 4). Eine genauere
Kritik findet sich im nächsten Abschnitt (Kapitel 3.2).
Wissenschaftler sind also Gelehrte und Revolutionäre in einer Person. Dies
wird weder der modernen Spezialisierung, die Wissen und Können differenziert,
noch der Komplexität des Gegenstandes gerecht. Politikwissenschaftler sind heute
schon sehr gefordert, sich auch nur eine Könnerschaft in Form von Wissen für
einzelne Bereiche ihres Faches zu erarbeiten, d.h., sie sind damit ausgelastet
Wissen in einem Spezialbereich zu begründen. Eine Beteiligung und ein Engagement
als Bürger sind sicherlich in einer Demokratie auch angebracht, können aber
nicht als Aufgabe von Wissenschaftlern gefordert werden. Es gibt einen
Unterschied zwischen Wissenschaftlern und Politikern (Kapitel 3.1.3, D,
10.
Schaubild).
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