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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


3.9 Methodenebene

Die Methodenebene steht, wie in der Einleitung schon gesagt, im Zentrum von methodologischen Arbeiten. Trotzdem oder gerade deshalb gibt es hier einige Begriffsverwirrungen, die im Folgenden aufgedeckt und erläutert werden sowie zu denen Auswege formuliert werden, die ihre Überwindung zum Ziel haben. Dabei werden auch auf dieser Ebene die strukturellen Unterschiede zwischen empirisch-beschreibenden, empirisch-erklärenden und praktischen Methoden herausgearbeitet.

 

   

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Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

3.9.1 Quantitative Methoden sowie qualitativ-interpretative versus qualitativ-mathematische Methoden Seitenanfang

Im Folgenden steht diese tripartite Unterscheidung im Fokus zwischen „quantitativen“, „positivistisch-qualitativen“ und „traditional qualitativen“ Methoden, wie Yanow und Schartz-Shea diese nennen, oder „quantitativ-mathematischen“, „qualitativ-mathematischen“ und qualitativ-interpretativen“ Methoden, wie ich sie nennen werde: „What we are increasingly looking at these days methodologicaly is, instead, a tripartide division among quantitative, positivist-qualitative, and traditional qualitative methods. The later have increasingly been termed ‘interpretative’ methods because of their intentional, conscious grounding in or their less explicit but nonetheless recognizable family resemblance to the ontological and epistemological presuppositions of the Continental interpretive philosophies of phenomenology and hermeneutics (and some critical theory) and their American counterparts of symbolic interactionism, ethnomethodology, and pragmatism, among others“ (Yanow/Schwartz-Shea 2014a [2006]: XX).

A. Quantitativ-mathematische Methoden zur Ermittlung von kausalen Regularitäten oder probabilistischen Gesetzen

Es gibt keine Verwechslungen, wenn man von quantitativen Methoden spricht. Da innerhalb der platonisch-galileischen Tradition die Orientierung an der Exaktheit der Mathematik durch die Verwendung von logisch-mathematischen Methoden sichtbar wird, verwende ich auch ein weiteres Attribut neben „quantitativ“ und „qualitativ“, und zwar „mathematisch“. Dieses ist umfassender als „metrisch“ oder „statistisch“ und dürfte sowohl für die quantitativen als auch qualitativen Methoden innerhalb der platonisch-galileischen Tradition ein geeigneter Ausdruck sein. Dies ist notwendig, damit man nicht die qualitativen Methoden zur Ermittlung von Sinnzusammenhängen mit den qualitativen Methoden zur Ermittlung von Kausalitäten verwechselt.

Quantitative Methoden werden in erster Linie zur Ermittlung von Kausalitäten zwischen verschiedenen Ereignissen (events) auf der Makroebene eingesetzt. Ziel ist es, Erklärungen für kausale Muster, universelle Einflussfaktoren oder kausale Strukturen auf der Makroebene zu liefern. Konkret geht es darum, mit Hilfe von Korrelations- oder Regressionsanalysen Regularitäten oder Regelmäßigkeiten zu ermitteln, der Begriff „Gesetz“ wird kaum mehr verwendet.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge oft nicht alle Bedingungen, die an kausale Schlussfolgerungen gestellt werden, erfüllt werden können, so dass man dann auch mittels quantitativer Methoden höchstens Beschreibungen (descriptions) oder deskriptive Schlussfolgerungen (descriptive inferences) erstellen kann: „Researchers now know that most regression equations simply provide a multivariate summary of the data – at best a descriptive inference [Hervorhebung nicht im Original] – not a sure-fire causal inference about them (King, Keohane, and Verba 1994) because the conditions for justifying a causal interpretation of regression coefficients are not met. Although establishing the Humean conditions of constant conjunction and temporal precedence with regression-like methods often takes pride of place when people use these methods, we know that they seldom deliver a reliable causal inference. Rather regressions are often more usefully thought of as ways to describe complex data-sets by estimating parameters that summarize important things about the data“ (Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1022).

Wie oben geschildert (Kapitel 3.1.2, B), ist der Weg von der Korrelation zur Kausalität noch weit, neben makro-quantitativen Methoden sind Experimente oder Simulationen (Kapitel 3.9.3) sowie qualitativ-mathematische Methoden notwendig (Kapitel 3.9.2, C).

B. Qualitativ-interpretative Methoden und Beschreibungen

Missverständnisse treten allerdings auf, wenn man von qualitativen Methoden spricht. Daher verwende ich zur Vermeidung von Verwechslungen das Adjektiv „qualitativ“ immer in Verbindung mit einem anderen Adjektiv, entweder „interpretativ“ oder „mathematisch“.

Wenn es sich um Methoden handelt, die innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities) zur Deutung und zum Verstehen der sozialen Welt entstanden sind, dann spreche ich von qualitativ-interpretativen oder qualitativ-klassifikatorischen Methoden.

Qualitative-interpretative Forschung hat das Ziel, Sinnzusammenhänge (z.B. Lebenswelten) oder Phänomene oder sichtbare Erscheinungen mittels Textanalysen und sprachlich-interpretativer Werkzeuge (Begriffe, Methoden und methodische Ansätze) zu beschreiben. Für die Textanalysen werden sprachlich-interpretative Werkzeuge verwendet, unter anderem folgende qualitativ-interpretativen Methoden werden in den einschlägigen Methodenbüchern behandelt: qualitative Inhaltsanalyse, Dokumentenanalyse sowie Diskurs- und Konversationsanalyse (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Schmitz/Schubert 2006, Denzin/Lincoln 1994, Blatter/Janning/Wagemann 2007, Creswell 2013 [1998], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006], Bevir/Rhodes 2016a).

C. Qualitativ-mathematische Methoden zur Lösung des Paarungsproblems und zur Ermittlung von kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen

Im Folgenden werden zuerst die qualitativ-mathematischen Methoden vorgestellt, dabei werden insbesondere die unterschiedlichen Ziele dieser Methoden im Vergleich zu den quantitativen Methoden herausgearbeitet (a). Danach werden die wichtigsten Ziele dieser Methoden, erstens die Lösung des Paarungsproblems und die Klärung von konkreten Kausalitäten (b) sowie zweitens die Ermittlung von kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen, erläutert (c).

a. Qualitativ-mathematische Methoden

Die im angelsächsischen Raum seit den 70er Jahren entstandenen „qualitativen“ Methoden werden zur Identifizierung von Kausalitäten und zwar konkret zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen, kausalen Mechanismen oder kausalen Prozessen innerhalb von Fallstudien (case studies), Small-N-Studien oder Medium-N-Studien (20-50 Fälle) auf der Mikroebene verwendet. In Ihrem Überblick „A Tale of Two Cultures. Qualitative and Quantitative Research in the Social Sciences” (Goertz/Mahoney 2012) verwenden Gary Goertz und James Mahoney den Begriff „qualitativ“ auch im oben erwähnten Sinn. Sie weisen immerhin in einer Fußnote darauf hin, dass es auch eine andere Verwendungsweise gibt. Sie behandeln aber in ihrer Arbeit ausschließlich qualitativ-mathematische Methoden, sprechen aber von qualitativen Methoden: „Thus, while interpretative analysts will not find their tradition of research represented in the qualitative culture that we describe, they nonetheless will find many of the tolls of their tradition put to use in our analysis” (Goertz/Mahoney 2012: 5, Fussnote 2). Diese Feststellung, obwohl ich sie expressis verbis nicht gefunden habe, gilt auch für den oben genannten Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Der Begriff der „zwei Kulturen“ wurde von Charles Percy Snow (1965 [1959]) eingeführt, dabei hatte der Begriff „qualitativ“ noch eine qualitativ-interpretative Bedeutung. So wollte Snow auf den Unterschied zwischen einer literarischen und einer naturwissenschaftlichen Intelligenz (Snow 1987 [1965]) hinweisen. Damit wurde die vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelte Unterteilung in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften als kulturelle Grenze vorgestellt. Goertz und Mahoney sehen nun eine kulturelle Grenze zwischen quantitativen Methoden zur Ermittlung von kausalen Regularitäten und qualitativen Methoden zur Ermittlung von kausalen Prozessen. Diese kulturelle Grenze würde zwei Sektionen innerhalb der APSA trennen: „In political science, there are two methodology sections, the Section on Political Methodology, which represents quantitative methodology, and the newer Section on Qualitative and Multi-Method Research. In sociology, the Section on Methodology stands for mainly quantitative methods, whereas the kinds of qualitative methods that we discuss are associated with the Section on Comparative and Historical Sociology“ (Goertz/Mahoney 2012: 5).

Insbesondere die deutschen Politikwissenschaftler (Wolf 2015, Héritier 2016), die in der platonisch-galileischen Tradition stehen, denken in erster Linie an Qualitative Comparative Analysis (Wagemann 2015) oder Prozessanalyse (Starke 2015,), wenn sie von qualitativen Methoden sprechen, und nicht an qualitative Inhaltsanalyse oder Dokumentenanalyse.

Qualitativ-interpretative Argumentationsweisen, z.B. Interpretation, Hermeneutik und Dialektik, spielen dabei keine Rolle. Auch dass ein Verstehen einer Erklärung vorausgeht (von Wright 1974 [1971]), wird überhaupt nicht problematisiert. Zuerst muss man sich auf eine Beschreibung der Ereignisse einigen, zwischen denen kausale Regularitäten auf der Makroebene nachgewiesen werden sollen. Auch auf der Mikroebene muss ein Phänomen zuerst beschrieben werden, danach kann ein unsichtbarer kausaler Prozess, der das Phänomen hervorbringt, erklärt werden.

Die quantitativen Methoden sollen mittels Large-N-Studien kausale Regularitäten auf der Makroebene nachweisen (Kapitel 3.1.2, B). Die qualitativ-mathematischen Methoden werden auf der Mikroebene erstens zur Lösung des Paarungsproblems benötigt (Bennett 2010 [2004], Brady 2010 [2004]) – im Zentrum steht dabei die QCA – und zweitens werden qualitativ-mathematische Methoden zur Ermittlung von kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen oder kausalen Prozessen eingesetzt (Fearon/Laitin 2011 [2009], siehe auch „Mechanism and Mechanism-based explanations“, Hedström 2010 [2008]: 321): „Despite some claims to the contrary in the qualitative methods literature, case studies are not designed to discover or confirm empirical regularities. However they can be quite useful – indeed, essential – for ascertaining and assessing the causal mechanisms that give rise to empirical regularities in politics. We have argued that random selection of cases for narrative development is a principle and productive criterion in studies that mix statistical and case-study methods, using the former for identifying regularities, and the latter to assess (or to develop new) explanations of these“ (Fearon/Laitin 2011 [2009]: 773).

Während man also mit Large-N-Studien auf der Makroebene kausale Regularitäten mit Hilfe von quantitativen Methoden ermittelt, d.h., damit wird die Warum-Frage geklärt, geht es nun komplementär dazu auf der Mikroebene darum den kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu ermitteln, d.h. die Wie-Frage zu klären.

Insbesondere in den USA entstanden neue Methoden, die das Attribut „qualitativ“ erhielten, obwohl sie sich von den oben skizzierten qualitativ-interpretativen Methoden zur Erfassung von Bedeutung und Sinnzusammenhängen, also zur Textanalyse, deutlich unterscheiden.

b. Qualitativ-mathematische Methoden zur Lösung des Paarungsproblems

Diese von mir so genannten „qualitativ-mathematischen“ Methoden haben Eingang in die platonisch-galileische Tradition gefunden, weil sie auch zur Aufdeckung von konkreten Kausalitäten und von kausalen Mechanismen oder Prozessen beitragen: „Da QCA [Qualitative Comparative Analysis] im amerikanischen Kontext entstanden ist, ist es nicht verwunderlich, dass das hier zugrunde liegende Verständnis qualitativer Methoden der kausal-inferenzorientierten Richtung (so die Formulierung bei Goertz und Mahoney 2012, S. 9) zuzuordnen ist“ (Wagemann 2015: 430).

Es geht dabei sowohl um kausale Inferenzen oder Folgerungen als auch um eine Erklärung (nicht um eine Beschreibung, wie dies die englische Begrifflichkeit nahelegt) des kausalen Mechanismus, obwohl die englische Begrifflichkeit „descriptive and causal inference“ lautet. Diese vier Wörter findet man in der Regel gemeinsam und zwar nicht selten an prominenter Stelle, als Kapitel- oder Teilüberschrift in verschiedenen Methodologiebüchern (King/Keohane/Verba 1994, Brady/Collier 2010 [2004] und Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]).

Wichtig für die Entstehung dieses Verständnisses von qualitativen Methoden waren die amerikanische Fallstudientradition sowie die quantitative Herangehensweise: „Dazu gehören die Verwendung von Formeln, Graphen, Algorithmen und auch einer speziellen Mathematik (Schneider und Grofman 2006), weswegen es dann auch rezeptartige Anleitungen zur Durchführung einer QCA gibt“ (Wagemann 2015: 436). So wurde die „Qualitative Comparative Analysis“ (QCA) als „dritter Weg“ „und damit als Alternative zu vorherrschenden qualitativen und quantitativen Ansätzen propagiert“ (Wagemann 2015: 429). Hier dürfte Wagemann das Wort „qualitativ“ noch im Sinne von „qualitativ-interpretatorisch“ verwenden.

Aufgrund der großen Bedeutung von mathematischen Verfahren ist auch das Attribut „qualitativ-mathematisch“ für diese Methoden gerechtfertigt. Als Alternative, die aber wesentlich umständlicher wäre, kommt etwa noch „qualitative Methoden der kausal-inferenzorientierten Richtung“ (Wagemann 2015: 430) in Frage. Weiterhin könnte man, um auf diese doch bedeutenden Unterschiede zu den anderen qualitativ-interpretativen Methoden hinzuweisen, den Begriff „quasi-qualitativ“ verwenden, zumal in Frankreich auch ein zweites Q benutzt wird, es steht für „Analyse Quali-Quantitative Comparée“ (Wagemann 2015: 429). Dies dürfte aber noch zu weiterer Verwirrung beitragen.

c. Qualitativ-mathematische Methoden zur Ermittlung von kausalen Ursache-Wirkungs-Mechanismen

Die Prozessanalyse ist neben der QCA eine andere qualitativ-mathematische Methode: „Prozessanalyse (engl. process tracing) ist eine Untersuchungsmethode zur kausalen Erklärung, bei der vielfältige empirische Beobachtungen innerhalb eines oder mehrerer Fälle als potentielle Implikationen theoretischer Kausalmechanismen verstanden werden. Die möglichst vollständige empirische Rekonstruktion kausaler Prozesse durch Fallstudien erlaubt Schlussfolgerungen über (alternative) theoretische Erklärungen“ (Starke 2015: 454). Nicht Korrelationen, sondern kausale Prozesse stehen im Vordergrund: „Im Unterschied zu vielen in erster Linie fallvergleichenden und/oder quantitativen Methoden der Erklärung stehen bei der Prozessanalyse jedoch nicht die Korrelationen zwischen unabhängigen Variablen und abhängiger Variable, sondern die Kausalmechanismen im Zentrum, die unabhängige und abhängige Variable verbinden und die sich innerhalb eines oder mehrerer Fälle nachweisen lassen“ (Starke 2015: 453).

Auch Andrew Bennett stellt die Prozessanalyse als ein leistungsfähiges Instrument hin, mit dessen Hilfe zwischen richtigen und falschen Kausalerklärungen unterschieden werden kann. Da diese wie alle anderen qualitativ-mathematischen Methoden vor allem in Einzelfallstudien (case studies) sowie in Studien mit einer kleinen Fallzahl (small-N-studies), also auf der Mikroebene, eingesetzt werden, ist es erstmals das große Ziel, das Paarungsproblem zu lösen. Genau diese Leistung wird von Bennett in seinem Fazit hervorgehoben, obwohl er den Begriff „Paarungsproblem“ nicht verwendet: „Yet with appropiate evidence, process tracing is a powerfull means of discriminating among rival explanations of historical cases even when these explanations involve numerous variables“ (Bennett 2010 [2004]: 219).

Brady führt die Leistungsfähigkeit der causal-process observations (CPOs) gegenüber den data-set observations (DSOs) an einem Fall vor. Auch in diesem Beitrag wird eine Erklärung, die mittels data-set observations gemacht wurde, widerlegt (Brady 2010 [2004]).

Es ist also evident, dass sich die Forscher, die die qualitativ-mathematischen Methoden entworfen haben, an der (alethischen) Logik sowie an der Mathematik, speziell an der Mengenlehre (set theory) und an der Methodologie der existierenden quantitativen Methoden und deren wissenschaftstheoretischen Annahmen orientiert haben (King/Keohane/Verba 1994, Brady/Collier 2010 [2004] und Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]). Daher denke ich, dass die Bezeichnung „logisch-mathematische Forschungsmethodologie“ sowohl für quantitative als auch für qualitativ-mathematische Methoden ihre Berechtigung hat.

D. Data-Set Observations (DSOs) versus Causal-Process Observations (CPOs)

Es gibt aber auch Differenzen zwischen quantitativen und qualitativ-mathematischen Methoden. Gary Goertz und James Mahoney haben 25 Unterschiede herausgearbeitet (Goertz/Mahoney 2012).

Der Unterschied zwischen den quantitativen und den qualitativ-mathematischen Methoden wird unter anderem auch mit der Unterscheidung von verschiedenen Beobachtungsformen begründet, den CPOs (causal-process observations) und den DSOs (data-set observations): „We define causal-process observation as an insight or piece of data that provides information about context, process, or mechanism, and that contributes distinctly to causal inference. A data-set observation (DSO), by contrast, is the standard quantitative data found in a rectangular data set“ (Brady/Collier/Seawright 2010 [2004]: 2). Data-set observations werden weiterhin detaillierter so definiert: „All the scores in a given row, in the framework of a rectangular data set. It is thus the collection of scores for a given case on the dependent variable and all the independent variables. This includes intervening and antecedent variables“ (Hervorhebungen im Original, Brady/Collier 2010 [2004]: 324).

Die DSOs bilden die Grundlage für quantitative Korrelations- und Regressions-analysen, während CPOs die Grundlage von qualitativ-mathematischen Analysen mittels z.B. Qualitative Comparative Analysis oder Prozessanalyse (process tracing) ergeben: „DSOs are the basis for the standard rectangular data set of the quantitative researcher, with rows corresponding to cases and columns corresponding to variables. This data set is the foundation for correlation and regression analysis. In relation to this rectangular data set, the term ‘observation’ has a very specific meaning. It is not the ordinary language meaning, in the sense that one ‘observes’ phenomena in the real world. Rather, an observation is specifically an entire row in the rectangular data set. It is all the score for a given case. A CPO, by contrast, is an insight or piece of data that provide information about context, process, or mechanism and that contributes distinctive leverage to causal inference. It is not part of a rectangular data set; it provides a separate type of inferential leverage. Our goal in selecting this label is to incorporate the term ‘observation’, which as just noted has a special status in relation to causal inference in quantitative research, and to juxtapose it with the idea of causal process“ (Brady/Collier/Seawright 2006: 355).

Es gibt weiterhin einen prinzipiellen Unterschied zwischen statistischen und kausalen Schlussfolgerungen, die daher auch unterschiedliche Vorgehensweisen sowie verschiedene Beobachtungsformen erfordern: „[I]n statistical inference, one typically uses information obtained from a limited number of observations – usually based on a random sample – to draw conclusion about the likely value of some parameter in the population at large such as regression coefficient or a standard deviation. In causal inference, as the term is used here, the information being used is not necessarily confined to a specific sample, but a range of different sources of information provide various pieces of the causal puzzle (see Brady and Collier 2004 and their notion of ‘causal process observation’). Furthermore, the entity one seeks to generalize about is not the parameter of a statistical model but the process by which something has been brought about and the mechanism governing this process. […] The type of ‘mechanism approach’ discussed in this chapter also differs in another important respect from more traditional quantitative approaches. The focus is not on relationships between variables, but on actors, their relationships, and the intended and unintended outcomes of their actions. Properties of actors and/or their social environments often influence the outcomes of individuals’ actions. These properties as well as the action outcomes can be measured and represented in the form of variables, but the causality does not operate at the variable level“ (Hedström 2010 [2008]: 320).

Large-N-Studien, die mit Hilfe von quantitativ-mathematischen Werkzeugen erstellt werden, generieren in erster Linie kausale, nomothetische, probabilistische Regularitäten. Generalisierungen sind auch hier notwendig, weil in der Regel nicht einmal alle vergangenen Fälle erfasst werden können, geschweige denn die zukünftigen. Fallstudien und Small-N-Studien ergründen mit Hilfe von qualitativ-mathematischen Methoden konkrete, kausale Ursache-Wirkungs-Mechanismen. Wenn beide Vorgehensweisen kombiniert werden, spricht man von „multi-method research“ oder „mixed-methods research“ (Wolf 2015: 491): „In general, in recent years a mixed method approach has been more and more frequently used in order to benefit both from the advantages of quantitative and qualitative approaches [gemeint sind auch hier qualitativ-mathematische und nicht qualitativ-interpretative Ansätze], i.e. an overall view of the phenomena on the one side and in-depth insights on the other (Biesenbender and Héretier 2014; Caporaso 2009). Quantitative analysis is apt to ensure the generability of the results, qualitative case studies of the processes might help to identify the causal mechanism at work for a subset of the units of analysis (Biesenbender and Héretier 2014; Caporaso 2009)“ (Héretier 2016: 24).

Die Vorliebe für Gesetze oder Regularitäten und angebliche kontextfreie Erkenntnisse steht im Zentrum der Kritik, die, wie oben erläutert, die Perestroikans üben. Hier ein weiteres Zitat, das diese Kritik auf den Punkt bringt: „They [gemeint sind area scholars, die area studies betreiben] resisted the practice of subsuming the particular sub specie aeternitatis, or treating local thought and practice as instances of some abstract universal“ (Rudolph 2005a: 11).

Die Einführung der qualitativ-mathematischen Forschungsmethodologie innerhalb der Politikwissenschaft hat bewirkt, dass man auch den Forschern der platonisch-galileischen Tradition diesen Vorwurf nicht mehr machen kann. Dass man das Paarungsproblem innerhalb des regulativen Ansatzes, wie oben geschildert, nicht lösen konnte, ebenso die Antwort auf die Frage, wie funktioniert der kausale Ursache-Wirkungs-Mechanismus genau, nicht finden konnte, hat dazu geführt, dass man qualitativ-mathematische Methoden entwickelte, bei denen anhand von Fallbeispielen der genaue Kontext analysiert wird. Kurz, exakt die Vorgehensweise und Zielsetzung, die die Perestroikans (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) eigentlich so sehr im szientistischen „Mainstream“ vermissen.

E. Komplementarität und Triangulation zwischen quantitativen, qualitativ-mathematischen sowie qualitativ-interpretativen Methoden

Auf die Bedeutung der Ergänzung der kausalen Forschungsperspektive verweist auch Mark Bevir kritisch in seinem Beitrag „Meta-methodology: Clearing the Underbrush“ innerhalb der Oxford-Reihe: „Why should political scientists worry about the shift toward contextual and historical forms of explanation? In stark terms, the answer is that it implies that their correlations, classifications, and models are not properly speaking explanations at all. They are, rather, a type of data that we then might go on to explain using contextualizing historical narratives. Correlations and classifications become explanations only if we unpack them as shorthands for narratives about how certain beliefs fit with other beliefs in a way that makes possible particular actions and practices. Similarly, although models appeal to beliefs and desires, they are mere fables that become explanations only when we treat them as accurate depictions of the beliefs and desires that people really held in a particular case (cf. Rubinstein 2006; 1995)“ (Bevir 2010 [2008]: 67).

So wie Erklärungen und Beschreibungen sich gegenseitig ergänzen können, so können auch unterschiedliche Methoden komplementär verwendet werden. Das Zauberwort lautet hier Triangulation oder „methodenverbindende Forschung“ (Wolf 2015). Bei der Triangulation geht es um eine Vorgehensweise, die vor allem auf der Methodenebene im engeren Sinne stattfindet. Sie zeigt, wie wünschenswerte Ergänzungen der erkenntnistheoretischen, methodologischen und ontologischen Perspektiven konkret umgesetzt werden können.

Die Triangulation wird sowohl für die kumulative Validierung von Ergebnissen als auch zur Ergänzung von Perspektiven eingesetzt: „Triangulation als kumulative Validierung von Forschungsergebnissen und Triangulation als Ergänzung von Perspektiven, die eine umfassendere Erfassung, Beschreibung und Erklärung eines Gegenstandsbereichs ermöglichen, wobei in der neueren Literatur der Aspekt der Komplementarität, das heißt der Ergänzung von Perspektiven gegenüber dem Aspekt der Validierung hervorgehoben wird“ (Kelle/Erzberger 2015 [2000]: 303-304). Wichtig ist, dass Kelle und Erzberger hier vor allem qualitative Forschung im Sinne haben, wie sie im Besonderen von qualitativ-interpretativen Forschern gemacht wird.

Nur die Methoden sind komplementär zueinander, weil sie sich ergänzen. Dies gilt aber nicht für die Ergebnisse, die man mit diesen Methoden generiert, da Ergebnisse konvergieren können, komplementär sein oder sich gegenseitig widersprechen können: „Ein einheitliches Konzept der Methodenintegration, das qualitativen und quantitativen Forschungsergebnissen einen bestimmten forschungslogischen oder theoretischen Status a priori zuweist – etwa in dem Sinn, dass sich qualitative und quantitative Ergebnisse grundsätzlich ergänzen müssten – lässt sich aus diesen verschiedenen Funktionen und Verwendungsweisen von Methodenintegration also nicht ableiten. Ergebnisse von qualitativen und quantitativen Studien können konvergieren, komplementär sein oder sich gegenseitig widersprechen, wobei jede dieser Möglichkeiten für den Forschungsprozess fruchtbar sein kann […] Der richtige ‚Methodenmix‘ ist aber stets abhängig von der Art des untersuchten Gegenstandsbereichs und den verwendeten theoretischen Konzepten“ (Kelle/Erzberger 2015 [2000]: 308).

Wie sieht die Situation in der platonisch-galileischen Tradition aus? Wenn innerhalb dieser Tradition eine pluralistische Methodologie anvisiert wird (siehe „Toward a Pluralistic Vision of Methodology“, Brady/Collier/Seawright 2006 und „Rethinking Social Inquiry. Diverse Tools, Shared Standards“, Brady/Collier 2010 [2004]), ist dies ein Plädoyer für eine Methodenvielfalt zur Ermittlung von Kausalitäten, speziell für die Ergänzung der quantitativen durch qualitativ-mathematische Methoden, und keineswegs ein Plädoyer für eine umfassende, pluralistische Methodologie, da etwa der kausale Reduktionismus nicht in Frage gestellt wird, gemeint ist damit keine andere Forschungsperspektive, z.B. neben kausalen Relationen Sinnzusammenhänge zu ermitteln, sondern eine andere, eine qualitativ-mathematische, neben der quantitativen Vorgehensweise zuzulassen: Es geht um eine Triangulation zwischen quantitativen Methoden zur Ermittlung von Korrelationen auf der Makroebene und qualitativ-mathematischen Methoden zur Ermittlung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen auf der Mikroebene anhand von Fallbeispielen.

Neben dem Begriff „Triangulation“ werden insbesondere in englischsprachen Beiträgen die Begriffe „mixed-method“ und „multimethod“ verwendet. Dabei ist es noch wichtig festzuhalten, dass es aufgrund von verschiedenen Forschungstraditionen zu Verwirrungen kommen kann. Triangulation kann auf vier unterschiedliche Kombinationen hindeuten:

  • a. Triangulation von verschiedenen qualitativ-interpretativen Methoden oder „Triangulation in der qualitativen Forschung“ (Flick 2015 [2000]), Kelle/Erzberger 2015 [2000])
  • b. Triangulation von quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden (Schubert/Bandelow 2009, Monroe 2015)
  • c. Triangulation von quantitativen und qualitativ-mathematischen Methoden oder „Integrating Qualitative and Quantitative Methods“ (Fearon/Laitin 2011 [2009], in diesem Sinne argumentieren auch Wolf 2015 und Hérretier 2016)
  • d. Triangulation von verschiedenen Datenquellen (data sources) (King/Keohane/Verba 1995), Triangulation von DSOs und CPOs (Brady/Collier 2010 [2004])

a. Triangulation von verschiedenen qualitativ-interpretativen Methoden

Innerhalb der qualitativen Forschung meint Triangulation die Verwendung von verschiedenen qualitativ-interpretativen Methoden; sie wird z.B. als Validierungsstrategie empfohlen (Flick 2015 [2000]).

b. Triangulation von quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden

In vielen deutschen Methodologiebüchern werden quantitative und qualitative Methoden, wobei hier immer qualitativ-interpretative Methoden gemeint sind, in unterschiedlichen Kapiteln gleichberechtigt und komplementär vorgestellt und werden dem Nachwuchs je nach Problemstellung alle Methoden empfohlen (Schubert/ Bandelow 2009). Triangulation wird hier zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden gesehen.

Kristen Renwick Monroe lobt die Perestroikans dafür, dass sie in den USA zu einer ähnlichen methodologischen Öffnung wie in Europa beigetragen haben, so würden junge Wissenschaftler vermehrt quantitative und qualitative (gemeint qualitativ-interpretative) Methoden anwenden: „Portman’s thesis utilized multiple methodolo-gies – interviews, surveys, content analysis of speeches and public documents – to reveal the psychology of activists involved in politics in the United States, including their belief systems, personality traits and senses of individual and collective identity“ (Monroe 2015: 423).

c. Triangulation von quantitativen und qualitativ-mathematischen Methoden

In dem Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) findet man zwar das Wort „Triangulation“ nicht, das Thema einer methoden-verbindenden Forschung wird in dem Beitrag „Integrating Qualitative and Quantitative Methods“ von James D. Fearon und David D. Laitin (2011 [2009]) aber bearbeitet. Auch sie sind der Meinung, „that qualitative work might be integrated into a research programm as a complement to rather as a rival or substitute for quantitative analysis“ (Fearon/Laitin 2011 [2009]: 775). Wichtig aber ist, dass Fearon und Laitin unter „qualitativ“ nicht die qualitativ-interpretativen, sondern die qualitativ-mathematischen Methoden meinen.

d. Triangulation von verschiedenen Datenquellen (data sources)

King, Keohane und Verba verstehen unter Triangulation nicht die Kombination von verschiedenen Logiken oder Methoden, sondern von verschiedenen Daten oder Datenquellen mit dem Ziel, möglichst viele Daten über kausale Theorien oder Hypothesen zu generieren: „Triangulation involves data collected at different places, sources, times, levels of analysis, or perspectives, data that might be quantitative, or might involve intensive interviews ort thick historical description“ (King/Keohane/Verba 1995: 479). An anderer Stelle heißt es: „Triangulation, then, is another word for referring to the practice of increasing the amount of information to bear on a theory or hypothesis, and that is what our books is about” (King/Keohane/Verba 1995: 480).

Ebenfalls zur Verbesserung von Kausalanalysen sprechen sich vor allem Brady und Collier für die Ergänzung von data-set observations (DSOs) durch causal-process observations (CPOs) aus (Brady/Collier 2010 [2004]).

F. Schisma zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden und damit verbundenen Missverständnissen

Das Schisma zwischen quantitativen und qualitativen Methoden wird von beiden Seiten als überwunden angesehen (für das Establishment Goodin 2011b [2009]), für die Perestroikans Monroe 2015): „In short, the quantitative/qualitative distinction is at best unhelpful and at worst meaningless“ (Bevir/Rhodes 2016b: 19, siehe auch Moses/Knutsen 2012 [2007]). Dabei bleibt es, wie oben gezeigt, nach wie vor bestehen. Allein die verwirrende Begrifflichkeit täuscht einen Fortschritt vor.

Kristen Renwick Monroe meint, dass die Perestroikans zur Überwindung des Schismas beigetragen haben und dass zumindest junge Forscher beide vorurteilsfrei anwenden: Sie behauptet in ihrem Rückblick „What did Perestroika Accomplish?“ (Monroe 2015), dass die Perestroika-Bewegung sehr viel erreicht hat, vor allem die Kluft zwischen Politikwissenschaftlern (disciplined political scientists) und politischen Theoretikern (undisciplined political theorists) sei überwunden, nicht zuletzt dank der Überwindung des Schismas zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Forschern: „Its most critical triumphs were its successful challenge to the view that there was only one way to do political science and its legitimation of the view that political science was a humanistic as well as a scientific discipline“ (Monroe 2015: 423). Dies macht sich auf der methodologischen Ebene durch die Überwindung des Schismas zwischen quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden bemerkbar und zwar durch einen „shift in the discipline’s attitude toward methodological pluralism“ (Monroe 2015: 423).

Wie begründet Monroe dies? Sie verweist erstens auf eine ihrer Doktorandinnen, Bridgette Portman, die in ihrer Arbeit auf alle für die Lösung ihres Problems vorhandenen Methodologien zurückgegriffen hat, die es im Methodologiekasten (methodological [tool]-kit) gab: „But perestroika shifted the battle, with more scholars, especially younger ones, now realizing there are many ways to examine a political issue and that good work will address a political problem using all the appropriate instruments available in the methodological-kit“ (Monroe 2015: 423).

Auch die Wissenschaftler, die der platonisch-galileischen Tradition angehören, meinen, dass sie dieses Schisma überwunden haben, und halten diese Kritik für unangebracht (Goodin 2011a [2009]), vor allem, weil sie einmal einen pluralistischen Habitus pflegen, und andererseits mit Verweis auf die seit den 70er Jahren etablierten „qualitativ-mathematischen“ Methoden. Dies trifft nicht zu, denn in dem Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) werden genauso wie etwa im „Handbuch Policy-Forschung“ (Wenzelburger/Zohlnhöfer 2015) keine qualitativ-interpretativen Methoden (z.B. qualitative Inhaltsanalyse) erörtert, sondern nur qualitativ-mathematische Methoden wie die Qualitative Comparative Analysis (Wagemann 2015) und die Prozessanalyse (Starke 2015) behandelt. Im Zentrum stehen bei der Prozessanalyse kausale Prozesse (Hedström 2010 [2008]), bei der QCA ist es die Lösung des Paarungsproblems auf der Mikroebene.

Die szientistischen Wissenschaftler haben zu einer enormen Begriffsverwirrung beigetragen, weil sie fest etablierten Begrifflichkeiten wie „qualitativ“, „deskriptiv“ neue Bedeutungen gegeben haben. Kritikwürdig ist aber nur die Begrifflichkeit, nicht die damit erzielten methodischen Innovationen. Die seit den 70er Jahren entwickelte qualitativ-mathematische Forschungsmethodologie ist ein notwendiges Komplement zu quantitativen und experimentellen Methoden, weil die qualitativ-mathematische Forschungsmethodologie es ermöglicht, die ontische Eigenschaft von Kausalität zu ermitteln sowie das Paarungsproblem zu lösen.


3.9.2 Experimente oder experimentelle Methoden sowie Simulationen Seitenanfang

Die Identifikation von Kausalität ist eine sehr schwierige und komplexe Aufgabe (Kapitel 3.1.2, B, Brady 2011 [2009]). Mit dem regulativen Ansatz allein ist es nicht getan. Für den kontrafaktischen und manipulativen Ansatz sind neben Modellen auch Experimente und Simulationen erforderlich, nur so kann man den Kriterien der Objektivität, Reliabilität und Intersubjektivität genügen (Kapitel 3.2). Daher ist es nicht verwunderlich, dass mit der Zunahme des Kausaldenkens innerhalb der Politikwissenschaft auch das Experiment Einzug in dieses Fach erhielt. Simulationen demgegenüber spielen zumindest bisher vor allem in der Soziologie eine Rolle (Braun/Saam 2015): „Computer technology has also led to a greater ability to engage in survey experiments, and to deal with the statistical and other methodological issues that are sometimes involved in field and natural experiments. Technology has transformed political science into an experimental discipline“ (Morton/Williams 2010 [2008]: 340, siehe Gerber/Green 2011 [2009] und Kanitsar/Kittel 2015, Letztere sprechen von experimentellen Methoden). Auch wenn dieses Urteil nicht für die gesamte Politikwissenschaft gilt, haben Experimente zumindest innerhalb der platonisch-galileischen Tradition entscheidend an Bedeutung gewonnen, so dass man zwar nicht von einer Revolution, weil die anderen Forschungsprogramme nicht verdrängt wurden und nach wie vor angewendet werden, aber immerhin mit Recht von der Einführung einer experimentellen Forschungsmethodologie oder eines -programms innerhalb der platonisch-galileischen Tradition sprechen kann, in dessen Zentrum Experimente oder experimentelle Methoden und Simulationen stehen.

Die Rede von einer Transformation der gesamten Politikwissenschaft in eine „experimental discipline“ (Morton/Williams 2010 [2008]: 340) ist übertrieben, auch diese Autoren haben anscheinend eine Revolutionsmetaphorik im Hinterkopf, allerdings erfolgte eine bedeutende Weiterentwicklung des Kausaldenkens mittels der Etablierung von Experimenten innerhalb der Politikwissenschaft. Von 1950 bis 2005 gibt es zwar einen dramatischen Anstieg von experimentellen Artikeln in APSR, AJPS und JOP, Experimente spielen aber nur bei Kausalanalysen eine Rolle.

Die Etablierung von Experimenten innerhalb der Politikwissenschaft ist relativ neu, nicht so aber in anderen Wissenschaften. Schon im 17. Jahrhundert hat Francis Bacon auf die Bedeutung von Experimenten für die Theoriebildung hingewiesen, kurz nachdem Galileo Galilei die ersten Experimente durchgeführt hatte. Auch wenn es prinzipielle Grenzen von Experimenten gibt (Kapitel 3.1.2, A, b), sind sowohl Experimente als auch Simulationen unverzichtbar für Kausalanalysen, da sie vor allem für die Ermittlung von Kausalitäten im kontrafaktischen und manipulativen Ansatz unersetzlich sind.

Auch in Zukunft wird dieses von mir so genannte „experimentelle Forschungsprogramm“ oder die „experimentelle Forschungsmethodologie“ die Entwicklung des Faches völlig zu Recht mitbestimmen. Rebecca B. Morton und Kenneth C. Williams sehen Experimente aus zwei Gründen, wegen des Internets und der Kognitionswissenschaften, auf dem Vormarsch: „First, the expansion of interactive Web-based experimental methods will allow researchers to conduct large-scale experiments testing game-theoretic models that have previously only been contemplated. […] Second, advances in brain-imaging technology will allow political scientists to explore much more deeply the connections between cognitive processes and political decisions. These two types of experiments will join with traditional laboratory and filed experiments to transform political science into a discipline where experimental work will one day be as traditional observational analyses“ (Morton/Williams 2010 [2008]: 354).

Die Perestroikans setzen sich weder detailliert mit Experimenten noch mit Simulationen auseinander, die Kritik am Establishment oder an den „political scientists“ bleibt auf einer sehr allgemeinen Ebene (Stichwörter „method-driven“, „scholasticism“ etc.). Eine spezialisierte Wissenschaft ist auf die Einführung neuer wissenschaftlicher Werkzeuge geradezu angewiesen. Wichtig ist natürlich, dass man dabei sowohl die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieser Werkzeuge berücksichtigt. Auch hier führt die Kuhn’sche Begrifflichkeit nur in die Irre, es gibt weder ein neues Paradigma noch wurde aufgrund von revolutionären Vorgängen die Politikwissenschaft gleich zu einer „experimental discipline“ (Morton/Williams 2010 [2008]: 340). Es gibt keine allgemeine, sondern nur eine methodologische Inkommensurabilität zwischen Experimenten und anderen wissenschaftlichen Werkzeugen.

Experimentelle Methoden können erstens sowohl für eine kumulative Validierung von Ergebnissen als auch zur Ergänzung von Perspektiven eingesetzt werden. Zweitens hat die Einführung eines experimentellen Forschungsprogramms innerhalb der platonisch-galileischen Tradition den wissenschaftlichen Werkzeugkasten erweitert – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unbedeutend sind diese Entwicklungen insbesondere aufgrund der neuen Technologien im Informationszeitalter keineswegs.


3.9.3 Experimente versus Tests Seitenanfang

In der Regel unterscheiden empirische Wissenschaftler nicht zwischen Experimenten und Tests. Innerhalb der Technikphilosophie wurde aber der prinzipielle Unterschied zwischen diesen herausgearbeitet. Experimente spielen nur in empirischen Wissenschaften eine Rolle, aber nicht in praktischen Wissenschaften, wo Tests wichtig sind. Im Experiment wird die Bewährung einer Theorie, nicht aber die Erfüllung einer Funktion überprüft, Letzteres ist das Ziel von Tests. Bei Experimenten werden Theorien und damit Aussagensysteme überprüft, bei Tests werden Regeln auf ihre Bewährung in der Praxis getestet: „Im Experiment wird eine Theorie oder eine Regelmäßigkeit daraufhin untersucht, ob sie sich zu einem bestimmten Grad bewährt bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit sie zutrifft. Hier wird der Blick immer vorrangig auf die Möglichkeiten einer Verallgemeinerung gerichtet […]. Beim Test einer Regel werden hingegen ein Bauteil, ein Zusammenbau oder eine ganze Anlage auf die Erfüllung von Funktionen überprüft, die vorher in Abhängigkeit von angenommenen Rand- und Anfangsbedingungen vermutet worden sind“ (Kornwachs 2013: 92).

Diese prinzipiellen Unterschiede zwischen Experimenten und Tests enthalten wichtige Argumente gegen einen methodologischen Reduktionismus. Sowohl innerhalb einer angewandten Methodologie (Sozialtechnologie der Szientisten) als auch einer problemorientierten Methodologie (angewandte Klugheit der Perestroikans) wird eine Umkehr von Kausalitäten voraussetzt oder für unproblematisch erachtet (Kapitel 3.1.2, E, c, II).

Hier geht es weiter zum Kapitel Ebene methodischer Ansätze (3.10).


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