Tradition und Fortschritt verbinden |
„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft
Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans
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5. Ausblick:
Überblick oder logische Geographie politikwissenschaftlicher
(empirischer und praktischer) Methodologie
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Die phronetischen Perestroikans setzen sich für eine revolutionäre Wende hin
zu einer real social science ein. Mein Anliegen ist wesentlich
bescheidener. Die Abhandlung bietet einen Überblick über den Forschungsstand
politikwissenschaftlicher Methodologie. Das aristotelische Organon enthält einen
Überblick über die damalige wissenschaftliche Methodologie, die eine Abgrenzung
des Logos vom Mythos ermöglichte. Heute erfüllt Methodologie eine ähnliche
Aufgabe: Sie trennt wissenschaftlich legitimiertes Wissen von Erkenntnissen, die
mit anderen Mitteln generiert wurden. Die heutige politikwissenschaftliche
Methodologie bestehend aus wissenschaftlichen Werkzeugen (Begriffen, Sätzen,
Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodischen Ansätzen) und
deren wissenschaftstheoretischen Grundlagen ist beeindruckend. Eine detaillierte
Auseinandersetzung mit allen wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie
wissenschaftlichen Werkzeugen würde mehrere Bände ergeben und kann sowieso von
einem Einzelnen nicht geleistet werden.
Ein Überblick oder eine logische Geographie politikwissenschaftlicher
Methodologie wird im Folgenden skizziert. Erstens wird aufgezeigt, wie
Axiologie, Epistemologie und Ontologie zu einer Gliederung der politischen
Methodologie auf vertikaler Ebene (5.1) sowie auf horizontaler Ebene (5.2)
beitragen können (2. Schaubild). Diese Gliederungen werden dazu führen,
dass die axiologischen, epistemologischen und ontologischen Möglichkeiten und
Grenzen der politischen Methodologie nicht nur sichtbarer sind, sondern auch im
Fokus aller methodologischen Erörterungen stehen könnten. Weiterhin kann auch
die Dynamik methodologischer Entwicklungen eingefangen werden, weil vor allem
die dort zur Diskussion stehenden Fragestellungen im Zentrum stehen und nicht so
sehr die einzelnen Antworten, die sich im Laufe der Zeit dadurch ändern, dass
sie weiterentwickelt oder durch völlig neue Antworten ersetzt werden. Zweitens
soll ein Überblick über die Errungenschaften und Desiderata und damit der
Forschungsstand zur politischen Methodologie skizziert werden. Abschließen
möchte ich diesen Ausblick mit einem Plädoyer für eine praktische
Politikwissenschaft komplementär zu einer empirischen Politikwissenschaft (5.3).
Nur eine genuin praktische Methodologie kann die Grundlagen für eine praktische
Politikwissenschaft als Teil einer „praktische[n] Sozialwissenschaft“ (Weber
1973c [1904]: 153) begründen.
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5.1 Vertikale Gliederung politikwissenschaftlicher
Methodologie |
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Bei der vertikalen Gliederung der politischen Methodologie (1. Schaubild) steht die konkrete methodologische Vorgehensweise im Vordergrund. Die
idealtypische Einteilung in sieben wissenschaftliche Werkzeuge (Begriffe, Sätze,
Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) hat
sich bei der Behandlung des „Methodenstreits“ bewährt. Nur mit drei Ebenen bei
den wissenschaftstheoretischen Grundlagen anzusetzen, war nicht ideal. Die erste
Ebene, die wissenschaftstheoretische Ebene, nimmt bei Weitem den größten Raum
unter allen zehn Ebenen ein. Daher habe ich im Laufe der Ausarbeitung noch drei
Unterebenen eingeführt:
- A. Aufgaben und Ziele wissenschaftlicher Forschung
- B. Grenzen wissenschaftlicher Forschung
- C. Axiologische, epistemische, methodologische und ontologische
Voraus-setzungen (politik)wissenschaftlicher Forschung
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5.2 Horizontale Gliederung politikwissenschaftlicher
Methodologie |
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Sieben politikwissenschaftliche Operationen wurden aufgrund von
axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Annahmen
entwickelt, identifiziert, präzisiert oder rekonstruiert (9. Schaubild):
analytische, deskriptive, explanative, prognostische, normative, pragmatische
und technische Operationen. Wie man im
zweiten Schaubild sehen kann,
wurden nur vier Ebenen, dazu die explanative und prognostische Ebene
zusammengefasst erörtert. Dies lag nicht nur daran, dass der
Differenzierungsgrad im „Methodenstreit“ suboptimal ist, sondern auch daran,
dass ich vor allem die prinzipiellen oder strukturellen Trennlinien zwischen
einer interpretativen (empirisch-deskriptiven) und einer szientistischen
(empirisch-explanativen und empirisch-prognostischen) Methodologie aufzeigen
wollte (5.2.1). Für meine wissenschaftlichen Interessen ist ein anderer
struktureller Unterschied viel wichtiger, der zwischen einer empirischen
(deskriptiven, explanativen und prognostischen) und einer genuin praktischen
(normativen, pragmatischen und technischen) Methodologie (5.2.2).
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5.2.1 Ontologische oder gegenstandsbezogene Gliederung:
struktureller Unterschied zwischen einer interpretativen
(empirisch-deskriptiven) und einer szientistischen (empirisch-explanativen und
empirisch-prognostischen) Methodologie |
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A. Interpretative (empirisch-deskriptive) Methodologie
Die interpretative Methodologie wird vor allem mit dem Ziel verwendet,
(sichtbare) Phänomene oder Erscheinungen zu beschreiben. Deutung und (Sinn)Verstehen
(sense making, meaning making) mit Hilfe einer
sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie, d.h. hermeneutische,
phänomenologische und strukturalistische Erforschung von Bedeutungen und
Sinnzusammenhängen stehen im Fokus. Das Interesse interpretativer
Politikwissenschaftler, insbesondere der phronetischen Perestroikans richtet
sich vor allem auf die Beschreibung von Machtverhältnissen.
Für die empirisch-deskriptive Methodologie haben interpretative oder
qualitative Forscher grundlegende methodologische Arbeiten verfasst. Die
wichtigsten Erkenntnisse wurden in verschiedenen Handbüchern festgehalten (Denzin/Lincoln
1994, Creswell 2013 [1998],
Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000],
Rosenthal
2014 [2005],
Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006],
Blatter/Janning/Wagemann 2007,
Kleemann/ Krähnke/Matuschek 2009,
Bevir/Rhodes 2016a). Im Fokus dieser
Abhandlung standen aus den verschiedenen Schulen der aristotelischen Tradition
die phronetischen Perestroikans (Flyvbjerg/Landman/Schram
2012a).
B. Szientistische (empirisch-explanative und empirisch-prognostische)
Methodologie
Die gegenstandsbezogene oder ontologische Gliederung ist deshalb gegeben,
weil sich die Szientisten der platonisch-galileischen Tradition nur für ganz
bestimmte
sichtbare Beobachtungen interessieren: data-set observations und
causal-process observations. Diese Beobachtungen sind nur deshalb wichtig, weil damit
kausale Inferenzen von unsichtbaren Kausalitäten möglich sind. Kausale Regularitäten und
kausale Prozesse werden mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie
ermittelt.
Die empirisch-explanative und empirisch-prognostische Methodologie wird auf
einem hervorragenden Level nur innerhalb der platonisch-galileischen Tradition
begründet, erläutert, expliziert, präzisiert, rekonstruiert und sehr innovativ
weiterentwickelt. Einen exzellenten Überblick über diese Methodologie findet man
in dem Band „The Oxford Handbook of Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]). Meiner Meinung nach ist dieser Band die
Up-to-date-Version des Novum Organums von Francis
Bacon (1990 [1620]). Zwar
wird hier eine Vielfalt von quantitativen und qualitativ-mathematischen Ansätzen
und Methoden sowie der Methodenmix erläutert, dies kann aber eine pluralistische
Methodologie nicht ersetzen. Weder eine empirisch-deskriptive (interpretative)
geschweige denn eine praktische Methodologie kann, so wie die Szientisten
wollen, auf eine logisch-mathematische Forschungsmethodologie reduziert werden.
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5.2.2 Axiologische Gliederung: struktureller Unterschied
zwischen einer empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) und
einer genuin praktischen (normativen, pragmatischen und technischen)
Methodologie |
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Eine differenzierte und spezialisierte Behandlung von axiologischen Fragen
ist nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig. Argumente für solche
Forderungen findet man, wie gezeigt wurde, nicht nur in den methodologischen
Schriften von Weber, sondern auch von vielen anderen Philosophen und
Wissenschaftlern.
In dieser Abhandlung wurden auf zehn methodologischen Ebenen die Argumente
rekonstruiert, präzisiert und weiterentwickelt, die eine prinzipielle
Unterscheidung zwischen Sein und Sollen nahelegen (2. Schaubild). Dabei
wird eine Fülle von Argumenten insbesondere aus der praktischen Philosophie,
Technikphilosophie und Wissenschaftstheorie aufgeführt, die einen prinzipiellen
Unterschied und zwar auf zehn methodologischen Ebenen zwischen einer empirischen
(deskriptiven, explanativen und prognostischen) Politikwissenschaft auf der
einen und einer genuin
praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Politikwissenschaft auf
der anderen Seite aufzeigen.
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5.3 Plädoyer für eine praktische Politikwissenschaft
komplementär zu einer empirischen Politikwissenschaft |
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Das größte Desideratum ist ein Handbuch mit einer praktischen (normativen,
pragmatischen und technischen) Methodologie. So ein Handbuch gibt es einfach
nicht. Innerhalb der Politischen Philosophie wird nicht hinreichend zwischen
praktischer Methodologie und dem mit dieser Methodologie generierten praktischen
Wissen (Theorie) unterschieden, beides wird in denselben Abhandlungen erörtert.
Welche Themen in einem Handbuch für praktische Methodologie erörtert werden
müssten, wurde in verschiedenen hier erstellten Schaubildern aufgeführt (2.
Schaubild, 6. Schaubild und
7. Schaubild sowie im Internet
Lauer 1997 und
Lauer 2013).
Die Suche nach wissenschaftlichen Antworten auf politisch-praktische Fragen
bildet den Kern meiner Arbeit. Empirische (deskriptive, explanative und
prognostische) Antworten nehme ich zur Kenntnis, mein Anspruch besteht aber
darin, praktische (normative, pragmatische, technische) Antworten mit
wissenschaftlichen Werkzeugen (Begriffen, Sätzen, Theorien, Logiken,
Argumentationsweisen, Methoden und methodischen Ansätzen) zu formulieren. Dabei
ist es notwendig, vorhandene wissenschaftliche Werkzeuge zu verwenden, einige
weiterzuentwickeln sowie neue zu entdecken und zu begründen.
Weder die normative Methodologie der Szientisten, die normative
Rationalwahltheorie (normative rational choice theory,
Hardin 2011
[2009]) noch die angewandte Klugheit (applied phronesis,
Flyvbjerg/Landman/Schram
2012a) der phronetischen Perestroikans können die Vielfalt der in der Antike
vorgestellten und seither innovativ weiterentwickelten genuin praktischen
Methodologie ersetzen. Wie ich gezeigt habe, werden in beiden genannten
methodischen Ansätze bestehende Normierungen und Regulierungen nicht in Frage
gestellt. Nur der konstituierende und nicht der normierende Charakter von Normen
wird Rechnung getragen. Normen werden als Voraussetzungen nicht in Frage
gestellt oder legitimiert. Genau dies ist aber die Hauptaufgabe von praktischen
Geltungsdiskursen: Normierungen und Regulierungen zu legitimieren. Man kann mit
dem Rationalwahlansatz effektivere Alternativen formulieren oder uneffektives
Handeln kritisieren. Die angewandte Klugheit ermöglicht ungerechte
Machtverhältnisse aufzudecken oder aufzulösen. Die Kriterien und Normen, nach
denen dies zu erfolgen hat, können aber nicht begründet werden. Der Vorteil ist,
dass man innerhalb eines politischen Systems Kritik üben und Therapien nach
bestehenden Regulierungen vornehmen kann, da sich konstituierende Normen durch
Internalisierung und Reproduzierung erhalten (Kapitel 3.5.2). Der Nachteil ist,
dass man keine prinzipiellen Alternativen oder Erweiterungen legitimieren kann.
Regulative (präskriptive, imperativistische) Normen und Regeln müssen ständig
legitimiert werden, nur dann können existierende Normen durch alternative oder
erweiterte Normen und Regeln ersetzt werden. Dafür braucht man alle oben
genannten praktischen Diskurse (Wert-, Ziel- und Mitteldiskurs).
Im Gegensatz zum empirischen Diskurs ist ein genuin praktischer Diskurs, der
derzeitigen logisch-analytischen Argumentationsstandards genügt, in der
Politikwissenschaft nach wie vor ein Desideratum. Dies gilt sowohl für rein
technische (instrumentelle) Fragestellungen (Mitteldiskurse), die die Wahl von
Mitteln (Handlungsinstrumenten), nicht von Zwecken (Handlungsmaximen oder
Handlungsstrategien) enthalten, als auch für normative (Wertdiskurse) und
pragmatische (Zieldiskurse) Diskurse, bei denen Handlungsmaximen und
Handlungsstrategien erörtert sowie praktische (normative, pragmatische oder
technische) Urteile (Werturteile) über Handlungen und soziale Tatsachen
vorgenommen werden.
Eine praktische (normative, pragmatische und technische) Politikwissenschaft
würde sich von der Politischen Philosophie dadurch unterscheiden, dass es eine
Trennung zwischen praktischen Methodologie und praktischer Theorie geben würde,
beide Zusammen gehören und konstituieren praktisches Wissen.
Praktisches Wissen in Form von liberalen, libertären, konservativen,
(neo)marxistischen oder sozialistischen Regulierungen oder Theorien kann mit
Hilfe einer praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Methodologie
innerhalb von technischen Mittel-, pragmatischen Ziel- und normativen
Wertdiskursen rekonstruiert, kritisiert, begründet oder legitimiert werden.
Aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Methodologie handelt es sich immer um
hypothetisches Wissen. Weiterhin hat dieses Wissen eine advokatorische
Eigenschaft. Man kann wissenschaftliche Gründe für praktische Normierungen und
Regulierungen ermitteln. Definitive Entscheidungen für alle Bürger können nur
die entsprechenden politischen Institutionen treffen. Erst damit wird die
Legitimität gesichert und das politische System als Ganzes muss auch die
Haftung
für die Folgen, gute wie schlechte, übernehmen.
Mit einer empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen)
Methodologie können adäquate Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen über die
politische Realität generiert werden, aber keine praktischen, nicht einmal
technisch-instrumentelle Normierungs- oder Regulierungsvorschläge. Genuin
praktische Diskurse (Wert-, Ziel- sowie Mitteldiskurse) erfordern eine
praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie, die
komplementär zu einer empirischen Methodologie steht. Die
wissenschaftstheoretischen Argumente dafür wurden an
anderer Stelle ausführlich erläutert (Lauer 1997 und
Lauer 2013).
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