Tradition und Fortschritt verbinden |
„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft
Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans
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3.10 Ebene methodischer Ansätze
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Innerhalb der Politikwissenschaft gibt es eine Fülle von methodischen
Ansätzen (von Beyme 2000 [1972]: 87-178, die folgende Gliederung wurde von mir
vorgenommen):
- Quantitative methodische Ansätze:
- behavioristischer Ansatz
- Rationalwahlansatz
- quantitativ-vergleichender Ansatz
- Qualitativ-sprachlicher oder -interpretativer methodischer Ansatz:
- Sowohl quantitative als auch qualitativ-sprachliche methodische Ansätze:
- funktionalistischer Ansatz
- historischer Ansatz
- vergleichender Ansatz
Im Zentrum des Handbuches „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) steht, wie oben geschildert, ein kausaler und
empirischer Reduktionismus, der mittels einer logisch-mathematischen
Forschungsmethodologie erforscht wird. Das Modelldenken, konkret die
Rational-Choice-Theorie oder der
Rational-Choice-Ansatz, spielt in diesem Methodologieband vor allem in dem
Beitrag „Normative Methodology“ von Russel
Hardin (2011 [2009]) eine Rolle.
Dies ist der einzige Beitrag, der normative Methodologien diskutiert, so dass
ich mich damit aufgrund des Schwerpunktes praktische Methodologie genauer
auseinandersetzen muss.
Seit der sogenannten Rationalwahlrevolution (rational choice revolution,
Goodin 2011b [2009]: 13) innerhalb der Politikwissenschaft Anfang der 70er
Jahre dominiert oder nimmt zumindest in der amerikanischen Politikwissenschaft
der Rationalwahlansatz eine prominente Rolle ein. Während innerhalb der
Soziologie sich auch das Modelldenken ausgebreitet hat, beschränkt es sich im
Gegensatz zu den Wirtschaftswissenschaften und der Politikwissenschaft nicht
nur auf den Rationalwahlansatz (Braun/Saam 2015). Damit ist auch auf dieser
methodologischen Ebene (Ebene methodischer Ansätze) innerhalb der
Politikwissenschaft sowie in den Wirtschaftswissenschaften, an der sich die
Politikwissenschaft stark orientiert, ein Hang zum Reduktionismus offenkundig.
Der angebliche Siegeszug des Rationalwahlansatzes zwischen 1983 und 1993 in
den USA wurde durch von Beyme anhand der Statements der Präsidenten der APSA
wie folgt beschrieben: „Der Aufstieg von Rational Choice wird nirgends
deutlicher als in den Kompendien zum ‚state of the art of the discipline‘,
welche die American Political Science Association 1983 und 1993 vorlegte. 1983
wurde die politische Theorie in zwei Kapiteln als ‚empirische‘ und ‚normative
politische Theorie‘ abgehandelt (Gunnell 1983). Daneben durfte der Pionier der
Rational Choice-Bewegung William Riker (1983) unter einem Spezialtitel sein
Steckenpferd ‚Koalitionsspiele‘ reiten. Zehn Jahre später wurde ‚formal
rational choice‘ als siegreiche Bewegung dargestellt (Laman u.a. 1993: 77).
[…] Zwischen ‚Rational Choice‘ und Normativismus war das Nichts getreten.
Empirische politische Theorie außerhalb des Rational Choice-Ansatzes schien es
nicht mehr zu geben“ (von Beyme
2000 [1972]: 142).
Russel Hardin (2011 [2009]) geht in dem Handbuch „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier
2010a [2008]) noch einen Schritt weiter und exkludiert gleich noch den
Normativismus, denn der Rationalwahlansatz reicht ihm zufolge nicht nur zur
Erkennung der Welt aus, sondern eine normative Rationalwahltheorie
(normative rational choice theory) ermöglicht auch die normative Beurteilung
und praktische Veränderung der politischen Realität.
Das war damals (1993) und ist auch heute Wunschdenken der
Rationalwahlan-hänger und dürfte der ubiquitär verbreiteten
Revolutionsmetaphorik geschuldet sein. Jedes neue Paradigma will gleich alles
andere ausradieren und sich als die Spitze des Fortschritts darstellen. Im
Revolutionsmodus missachten offensichtlich auch Präsidenten der ASPA die
endogenen Werte und begehen handwerkliche Fehler, die sie als „normale“
Wissenschaftler selten machen würden. So sah die Realität auch damals anders
aus. 1993 zählten Green und Shapiro in der APSR (American Political Science
Review) 41 Beiträge, davon waren 15 Rational-Choice-Artikel, das sind gerade
mal 36,6 %. 1983 war der Anteil bei ca. 21 % (Green/Shapiro 1999 [1994]: 12).
Eine Zunahme der Verbreitung dieser Methodologie ist unbestreitbar
nachzuweisen, aber auch diese „Revolution“ hat genau wie die beiden anderen
bei weitem nicht einmal die Mehrheit der Politologen erreicht, aber für sich
gerne behauptet, dass der Mainstream genau diese Methodologie umsetzt.
In dem Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a
[2008]) spielt neben den vier Ansätzen zur Ermittlung von Kausalität, die oben
detailliert vorgestellt wurden (Kapitel
3.1.2, B), der Rationalwahlansatz eine
wichtige Rolle. Das Modelldenken, hier paradigmatisch am Beispiel des
Rationalwahlansatzes erörtert, bildet meiner Meinung nach innerhalb der
platonisch-galileischen Tradition neben dem Kausaldenken, den quantitativen,
qualitativ-mathematischen und experimentellen Forschungsprogrammen ein
innovatives, methodologisches Forschungsprogramm. Keineswegs ist damit eine
Revolution verbunden, die andere Forschungsprogramme innerhalb der
Politikwissenschaft verdrängt, sondern ein aus der Ökonomie eingeführtes,
eigenständiges und leistungsfähiges Forschungsprogramm.
Im Folgenden werden die Möglichkeiten und prinzipiellen Grenzen des
Rationalwahlansatzes sowie der normativen Rationalwahltheorie erläutert.
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3.10.1
Rationalwahlansatz und Spieltheorie |
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Der Rationalwahlansatz wurde ab den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts in
den Wirtschaftswissenschaften entwickelt und fand danach den Weg in die
Politikwissenschaft. Im Folgenden werden die Ziele, die der Rationalwahlansatz
und die Spieltheorie verfolgen, erläutert. Vorerst soll eine notwendige
Unterscheidung zwischen Theorie und Methodologie begründet werden.
A. Rationalwahl (Rational Choice): Methodologie oder Theorie
Die Begriffe „Rationalwahlansatz“ und „Rationalwahltheorie“ werden nicht
selten synonym verwendet. Dies führt zu einigen Missverständnissen und
Problemen, wie man dies auch in Hardins (2011 [2009]) Beitrag sehen kann. Ich
finde es notwendig immer zwischen Methodologie (methodology), formalem Wissen
oder Werkzeugen (tools, in einem sehr umfassenden Sinn) einerseits und
inhaltlichem Wissen (content) oder Theorien andererseits zu unterscheiden, auch
wenn Hardin meint: „In this program, method and theory tend to merge“ (Hardin 2011 [2009]: 99).
Der Rationalwahlansatz wäre dann ein methodologisches Werkzeug, mit dessen Hilfe
man empirisches oder praktisches Wissen generieren kann. Rationalwahltheo-rien
wären analog zu den Kausalitätstheorien Wissenschaftstheorien, die uns sagen,
wie wir rational Wissen ermitteln können oder welche Elemente der
Rational-wahlansatz haben sollte.
Rationalwahlansätze könnten dann einmal dazu benutzt werden, um kausale
Aussagen in kontrafaktischen Modellen zu generieren (Levy 2010 [2008]: 630 und
637). Zweitens könnte der Rationalwahlansatz in Form der Spieltheorie verwendet
werden, um technisches Wissen und damit technische Regelungen zu generieren.
Dass es prinzipielle Unterschiede zwischen kausalen Aussagen und technischen
Regelungen gibt, wurde oben auf mehreren methodologischen Ebenen thematisiert
(Kapitel 3.4 Begriffsebene,
3.5 Satzebene und
3.7 Logikebene).
Wenn, wie Hardin meint, Methode und Theorie zusammenfallen, hat man das
Problem, dass man zwischen empirischen oder normativen Annahmen auf der einen
Seite und den Ergebnissen oder dem empirischen oder normativen Wissen, das diese
Theorie bietet, auf der anderen Seite kaum oder nur schwer unterscheiden kann.
Die damit verbundenen Probleme werden im nächsten Unterabschnitt dargestellt.
B. Rationalwahlansatz (Rational Choice Approach)
Der Rationalwahlansatz wurde mit dem Ziel entwickelt, einen umfassenden
Erklärungsanspruch sozialen und politischen Verhaltens zu entwerfen. Der
Anspruch besteht darin, „gesetzesartige Aussagen über messbare Phänomene“ zu
formulieren sowie „Theorien zu entwickeln, die beobachtete Verhaltensmuster und
Praktiken erklären und vorhersagen können“ (Ferejohn 1991, 280, zitiert nach
Green/Shapiro 1999 [1994]: 21).
Während Systemtheorie und (Neo)Marxismus mit einem methodologischen Holismus
aus der Perspektive des Ganzen Erklärungen bieten, versuchen Modelle rationalen
Wahlverhaltens (Rational-Choice-Modelle) Erklärungen mittels des
methodologischen Individualismus, konkret der sogenannten Coleman’schen
Badewanne (Coleman 2010 [1990],
5. Schaubild), aus der Akteursperspektive
zu generieren, wobei Akteure nicht nur individuell handelnde Individuen, sondern
auch Kollektive (Organisationen, Klassen oder der Staat) sein können (Braun
1999: 17-53, Schluchter 2006 und
2007, Schwinn
2013b [1993a] und
2013c [1993b]).
Dieser methodische Ansatz hat im Laufe der Entwicklung verschiedene
Änderungen erfahren, so dass Donald P. Green und Ian Shapiro zwischen
unstrittigen und strittigen Annahmen unterscheiden. Sie identifizieren folgende
unstrittigen Annahmen:
- a. Die Nutzenmaximierung irgendeiner Präferenzordnung ist ein zentraler
Aspekt, wobei kein bestimmtes Ziel im Vordergrund steht.
- b. Rationalität muss bestimmten Konsistenzbedingungen genügen: „Erstens
müssen alle Handlungsalternativen eines Akteurs in eine Rangfolge gebracht
werden können. Diese Bedingung wird gelegentlich als Annahme der
Vollständigkeit – oder auch Verbundenheit (connectedness) – bezeichnet“
(Green/Shapiro 1999 [1994]: 25). Weiterhin müssten Präferenzordnungen
transitiv sein: „Wenn jemand A gegenüber B und B gegenüber C vorzieht, dann
muß er gemäß dieser Konsistenzregel auch A gegenüber C vorziehen“ (Green/Shapiro
1999 [1994]: 25, Kapitel 3.10.2, D).
- c. „Drittens gehen Rational-Choice-Theoretiker in der Regel davon aus, daß
Individuen den – auf irgendeiner Nutzenskala – ermittelten Erwartungswert
ihrer eigenen Auszahlung maximieren (Luce und Raiffa 1957, 50). Sie
konzentrieren sich auf den erwarteten und nicht auf den tatsächlichen Nutzen,
weil Entscheidungen oft unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen werden“
(Green/Shapiro 1999 [1994]: 26).
- d. Methodologischer Individualismus: „[K]ollektive Ergebnisse (müssen)
durch das Maximierungshandeln von Individuen erklärt werden“ (Green/Shapiro
1999 [1994]: 26).
- e. „Und schließlich gehen Rational-Choice-Theoretiker meist auch davon
aus, daß ihre Modelle gleichermaßen für alle Akteure gelten, daß also
Entscheidungen, Regeln und Vorlieben ‚im Zeitverlauf stabil und bei allen
Menschen ähnlich‘ sind (Stigler und Becker 1977, 76)“ (Green/Shapiro 1999
[1994]: 28).
Nach Green und Shapiro gibt es zwei strittige Annahmen:
- a. Da sind erstens die Annahmen über menschliche Ziele: „Nach der, wie
Ferejohn (1991, 282) sie nennt, ‚dünnen Theorie des Rationalen‘ (‘thin-rational’
account) wird angenommen, daß Akteure lediglich in dem Sinne rational sind, daß
‚sie die ihnen verfügbaren Mittel effizient zur Verfolgung ihrer Ziele
einsetzen‘.
- b. Bei einer ‚dicken Theorie des Rationalen‘ (‘thick-rational’ account)
dagegen‚ legt der Forscher nicht nur Rationalität, sondern auch noch irgendeine
zusätzliche Beschreibung der Präferenzen und Überzeugungen der Akteure
zugrunde‘“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 29).
Bei der zweiten strittigen Annahme geht es darum, ob der Akteur über vollkommene oder unvollkommene Informationen verfügt.
C. Erklärungen in den Sozialwissenschaften mit Hilfe des Mikro-Makro-Problems
Die Eigenschaften von kausalen Erklärungen wurden oben (Kapitel 3.1.2, B)
unabhängig von einem Gegenstand erörtert. Mehr noch: Durch die Orientierung an
den Naturwissenschaften standen vor allem Beispiele von dort, insbesondere der
Physik und Mikrobiologie, im Vordergrund. Nun stehen kausale Erklärungen im
Vordergrund, die vor allem soziales Handeln anhand von individuellem Handeln
erklären. Innerhalb der platonisch-galileischen Tradition gebührt dem
Rationalwahlansatz der Verdienst, dass Akteure und damit Menschen wieder ins
Blickfeld der Forschung gerieten: „‚Bringing men back‘ war ein Verdienst des
Rational Choice-Ansatzes“ (von Beyme 2000 [1972]: 145).
Viele wissenschaftstheoretische Überlegungen legen einen Hiatus oder eine
prinzipielle Kluft zwischen Makro- und Mikroebene nahe, da es formal weder eine
gültige Induktion von der Mikro- zur Makroebene noch umgekehrt eine formal
gültige Deduktion von der Makro- zur Mikroebene geben kann, da kausale
Regularitäten probabilistischen Charakter haben, und auch bei Sprachregeln
Ausnahmen eher die Regel bestätigen als widerlegen. Dies gilt nicht nur für
empirisches Wissen (empirische Theorien), sondern auch für praktisches Wissen
oder praktische Theorien. Normen und Regelungen haben eine Prima-facie-Eigenschaft (Ross 1967 [1930]),
d.h., dass Ableitungsschemata auch innerhalb einer praktischen Methodologie
nicht weiterhelfen (6.
Schaubild und 7. Schaubild,
Kapitel 3.8).
Den Mikro-Makro-Hiatus versuchen vor allem Rationalwahltheoretiker mit Hilfe
der Coleman’schen Badewanne (Coleman 2010 [1990]: 1-29, 5. Schaubild, S. 55) zu
überwinden. Coleman diagnostiziert eine Kluft zwischen der Sozial- oder
Gesellschaftstheorie auf der einen und der empirischen Forschung auf der anderen
Seite: „Die Sozialtheorie behandelt weiterhin das Funktionieren sozialer
Verhaltenssysteme, die empirische Forschung hingegen befasst sich oft mit dem
Erklären individuellen Verhaltens“ (Coleman 2010 [1990]: 1). Das Ziel des von
Coleman gesuchten Erklärungsmodus soll soziale Verhaltenssysteme mit Hilfe von
individuellem Verhalten erklären. Dies ist deshalb erforderlich, weil „[d]ie
Hauptaufgabe der Sozialwissenschaft […] in der Erklärung sozialer Phänomene,
nicht in der Erklärung von Verhaltensweisen einzelner Personen“ (Coleman 2010
[1990]: 2) liegt. Weiterhin plädiert er für einen methodologischen
Individualismus, der eine fundamentalere Erklärung bieten würde und unterhalb
der Systemebene angesiedelt sein müsste: „Später werde ich behaupten, daß die
Individualebene für die Sozialwissenschaft (wenn auch nicht für die Psychologie)
einen natürlichen Endpunkt darstellt und daß diese fundamentalere Erklärung, die
auf den Handlungen und Einstellungen von Individuen basiert, im allgemeinen
befriedigender ist als eine Erklärung, die das Verhalten eines sozialen Systems
anhand der Handlungen und Einstellungen von Einheiten erklärt“ (Coleman 2010
[1990]: 5).
Coleman greift dabei ausdrücklich auf die teleologische Handlungstheorie von
Weber zurück: „Die Handlungstheorie der Individualebene, von der ich in diesem
Buch ausgehen werde, entspricht der zielgerichteten Handlungstheorie, die auch
Weber verwendet“ (Coleman 2010 [1990]: 17).
Diese akteurszentrierte Vorgehensweise wird nicht nur aus empirischen,
sondern auch, für meine Untersuchung zentral, aus praktischen Gründen
vorgenommen. Es geht darum, die Ebene einzubeziehen, vor der aus Veränderungen
im sozialen System möglich sind: „So wie Beobachtungen häufig von Natur aus auf
Ebenen gemacht werden, die unterhalb der Systemebene liegen, müssen auch
Eingriffe auf diesen tiefen Ebenen ansetzen. Daher ist eine erfolgreiche
Erklärung von Systemverhalten aufgrund der Handlungen oder Einstellungen von
Einheiten auf tieferen Ebenen für den Eingriff normalerweise nützlicher als eine
ebenso erfolgreiche Erklärung, die auf Systemebene stehen bleibt“ (Coleman 2010
[1990]: 3-4). Weiterhin heißt es, „daß eine Erklärung für den hier verfolgten
Zweck fundamental genug ist, wenn sie die Grundlage für einen sinnvollen
Eingriff bietet, der das Systemverhalten ändern kann“ (Coleman 2010 [1990]: 5).
Wenn man nur auf der Makroebene bleibt, kann man zwar naturalistische
Erklärungen generieren, man kann aber weder den dahinterliegenden kausalen
Prozess erklären noch sagen, wie Menschen aufgrund dieses Mechanismus die Welt
verändern könnten. Zu diesen Ergebnissen waren empirische Forscher aufgrund der
Entwicklung von Kausalitätstheorien gekommen, wie ich oben ausführlich am
Beispiel des Beitrages von Brady erläutert habe (Kapitel 3.1.2, B). Coleman
kommt aus ganz anderen Gründen zu demselben Schluss. In naturalistischen
Kausalanalysen verschwindet nicht nur der Mensch als Akteur, sondern Erklärungen
haben auch einen deterministischen Charakter. Eingriffe von Akteuren sind nicht
vorgesehen, damit können Entwicklungen nur als Schicksal begriffen werden:
„Theorien dieser Art begründen Handlungen nicht mit Zielen und Absichten von
Personen, sondern mit äußeren Zwängen oder unbewussten Impulsen. Folglich sind
diese Theorien nur in der Lage, ein unausweichliches Schicksal zu beschreiben.
Sie dienen lediglich dazu, die Veränderungen zu schildern, denen wir wehrlos
ausgeliefert sind. Diesen unkontrollierten äußeren oder inneren Zwängen
ausgesetzt, sind die Menschen unfähig, ihr Schicksal sinnvoll selber zu
bestimmen“ (Coleman 2010 [1990]: 21). Der Rationalwahlansatz sowie konkret das
von Coleman maßgeblich entwickelte Schema (Coleman’sche Badewanne) sollen genau
dieses Manko in den Sozialwissenschaften überwinden und damit eine individuelle
Handlungstheorie in kausale Erklärungen einbeziehen.
Auch im Rationalwahlansatz wird die seit Bacon bekannte doppelte Zielsetzung
sichtbar: Welterkennung und Weltveränderung. Coleman will nicht nur soziale
Verhaltensweisen erklären, sondern hofft, dass diese Erklärungen auch zu
Eingriffen in das soziale System taugen; welcher wissenschaftstheoretische
Mechanismus den Weg von der Erklärung zum Eingriff ermöglicht, darüber schweigt
er. Die oben erörterten Einsichten und Hinweise von Francis Bacon, Maximilian
Carl Emil Weber, Karl Raimund Popper und Hans Albert zeigen die grobe Richtung
an, doch sie wurden von Coleman in seiner Arbeit noch nicht einmal zur Kenntnis
genommen geschweige denn ausgearbeitet. Bedauerlich ist es auch, dass Russel
Hardin (2011 [2009]) diesen Prozess nicht erläutert. Eine normative
Rationalwahltheorie muss dies aber notwendigerweise tun.
Wie sehen nun die akteurszentrierten Erklärungen im Einzelnen aus? Coleman
will Erklärungen auf der Systemebene über den Umweg der Individualebene
ermitteln. Unter anderem am Beispiel von Webers Thesen über die Bedeutung der
protestantischen Ethik wird dies vorgeführt. Ich werde nun bei der folgenden
Darstellung (5. Schaubild) auch auf die methodischen Ansätze zur
Ermittlung von Kausalitäten zurückgreifen, wie sie Brady entwickelt hat (Brady
2011 [2009]) hier Kapitel 3.1.2, B). Dies scheint mir notwendig zu sein, weil
Rationalwahltheoretiker genau wie Interpretivisten im Gegensatz zu empirischen
Forschern (Brady 2011 [2009]) immer
en passant von Erklärungen, kausalen
Ursachen und kausalen Wirkungen sprechen, diese komplizierten Begrifflichkeiten
bei ihnen aber im geistigen Halbdunkel bleiben.
Mit Hilfe vom regulativen methodischen Ansatz und zwar darin von
Korrelations- und Regressionsanalysen kann man zuerst einmal eine Korrelation
zwischen der Doktrin der protestantischen Religion (im
5. Schaubild,
Kollektivmerkmal (a)) und Kapitalismus (Aggregatmerkmal (c)) feststellen.
Innerhalb des kontrafaktischen Ansatzes kann mit Modellanalysen und
Experimenten festgehalten werden, dass es sich nicht nur um eine zufällige,
sondern um eine valide Korrelation handelt.
Experimente im manipulativen Ansatz ermöglichen nachzuweisen, dass das
Kollektivmerkmal (a) dem Aggregatmerkmal (c) zeitlich vorausgeht. Am Ende der
Untersuchungen mit Hilfe dieser methodischen Ansätze steht fest, dass es eine
kausale Regularität auf der Makroebene zwischen der Doktrin der protestantischen
Religion (Ursache, im 5. Schaubild, Kollektivmerkmal (a)) und
Kapitalismus (Wirkung, Aggregatmerkmal (c)) gibt. Damit wäre die
Kollektivhypothese auf der Makroebene begründet. Von der Kollektivhypothese
kommt es zur kausalen Regularität, dass die protestantische Religion den
Kapitalismus fördert.
Coleman ist nun wie übrigens alle Theoretiker, die eine individuelle oder
akteurszentrierte Handlungstheorie bevorzugen, der Meinung, dass man den
kausalen Mechanismus oder den kausalen Prozess, in diesem Fall wie die
protestantische Religion den Kapitalismus fördert, nur verstehen kann, wenn man
einen Umweg über die Mikroebene oder die Individualebene macht.
Den Weg von der Makro- auf die Mikroebene, über die teleologische
Individualerklärung und von der Mikro- zurück zur Makroebene beschreibt Coleman
wie folgt: Die Kontexthypothese (A) laute wie folgt: „1. Die Doktrin der
protestantischen Religion erzeugt in ihren Anhängern bestimmte Werte“, die
Individualhypothese lautet nach Coleman folgendermaßen: „2. Individuen mit
bestimmten Werten (die in Behauptung 1 erwähnt wurden) entwickeln bestimmte
Arten von Einstellungen hinsichtlich ökonomischen Verhaltens“. Das
Aggregatmerkmal wird wie folgt zusammengefasst: „3. Innerhalb einer Gesellschaft
begünstigen bestimmte Einstellungen von Individuen hinsichtlich ökonomischen
Verhaltens (die in Behauptung 2 erwähnt wurden) eine kapitalistisch orientierte
Wirtschaftsorganisation“ (Coleman 2010 [1990]: 10).
Die Kontexthypothese (A) wird aus der Logik der Situation generiert: Die
Annahmen, die hier gemacht werden, modellieren die Beziehung zwischen der
Situation und dem Akteur. Coleman bezeichnet diese als Spielregeln, die den
Übergang von der Makro- zur Mikroebene sichern.
Die Logik der Selektion ermöglicht die Individualhypothese, hier werden die
Regeln und Präferenzen aufgeführt, aufgrund derer die Individuen ihre
Handlungswahl treffen. Dahinter verbirgt sich eine teleologische
Handlungstheorie auf der Individualebene.
Die Logik der Aggregation setzt sich aus Transformationsregeln zusammen,
aufgrund derer das kollektive Explanandum oder das Aggregatmerkmal abgeleitet
wird. Coleman bezeichnet diese als Spielregeln, die den Übergang von der Mikro-
zur Makroebene sichern (Coleman (2010 [1990]: 24,
Braun 1999).
Damit könnte man erfolgreich den kausalen Prozess auf der Mikroebene
erklären. In diesem Fall könnte man zeigen, wie die protestantische Religion
über ihre Werte ökonomisches Verhalten verändern würde und dies dann im
Endeffekt zur Förderung des Kapitalismus beitragen würde. Damit hätte ich die
Argumentationsweise des Rationalwahlansatzes erläutert.
Coleman ist der Meinung, dass Weber der empirische Beweis nicht gelungen ist,
doch wichtig ist in diesem Zusammenhang nur die methodische Vorgehensweise und
nicht, ob diese in einer konkreten Forschung richtig angewendet wurde.
Eine weitere wissenschaftstheoretische Unterscheidung ist sehr wichtig. Nur
innerhalb der Individualhypothese wird mit finalen Ursachen gearbeitet – dann,
wenn es innerhalb einer individuellen Handlungstheorie um die teleologische
Orientierung von Akteuren geht. Das Aggregatmerkmal ist in diesem Fall eine
Wirkung oder eine „unmittelbar wirksame Ursache“. Coleman spricht im Original
von „final cause“ auf der Mikroebene und davon, dass das Aggregatmerkmal auf der
Makroebene eine „efficient cause“ sei (Coleman 1990: 16): „Wenn jedoch die
Handlungen, die als zielgerichtet betrachtet werden, Handlungen von Individuen
sind, und es sich bei der zu erklärenden Handlung um das Verhalten eines
sozialen Systems handelt, das sich nur sehr indirekt von den Handlungen der
Individuen herleiten lässt, dann stützt sich die Erklärung des Systemverhaltens
nicht auf finale Ursachen [final cause], sondern auf unmittelbar wirksame
Ursachen [efficient causes]“ (Coleman 2010 [1990]: 20). Dies ist vor
allem deshalb von Belang, weil teleologische Erklärungen nicht als kausale
Erklärungen angesehen werden müssten, die auf der Makroebene wirken könnten.
D. Spieltheorie und normativer Rationalwahlansatz
Das kollektive Dilemma besteht in der zentralen „Frage nach der Vereinbarkeit
von individuellem Egoismus und kollektiver Wohlfahrt“ (Braun 1999: 19). Mit
Hilfe der Spieltheorie kann man verschiedene Strategien erarbeiten, um
existierende soziale oder politische Dilemmata zu lösen.
„Die Spieltheorie als Zweig dieses Ansatzes [Rationalwahlansatz] konzentriert
sich vor allem auf Konstellationen, in denen Spieler und Gegenspieler
strategische Wahlhandlungen vornehmen müssen, um ihren Nutzen zu maximieren“
(von Beyme 2000 [1972]: 141). Wie dies geschieht, ist für diese Untersuchung
nicht von Belang (eine ausführliche Darstellung findet man in
Braun 1999). Hier
soll nur herausgearbeitet werden, dass die Spieltheorie auf normative Annahmen
zurückgreift, die nicht mit spieltheoretischen Mitteln begründet werden können.
Es soll also der Nachweis geführt werden, dass die Spieltheorie zwar zur
Erstellung von Mitteln oder technischen Lösungswegen geeignet ist, aber die
Ziele und Zwecke, die damit verbunden werden, anderweitig begründet und damit
legitimiert werden müssen. Dies liegt vor allem daran, dass die Spieltheorie auf
empirische und normative Voraussetzungen zurückgreift, die nicht weiter
analysiert werden. Genau diese Problematik wird nun kritisch beleuchtet.
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3.10.2 Kritik am Rationalwahlansatz (Rational Choice Approach) und an der
normativen Rationalwahltheorie (Normative Rational Choice Theory)
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Im Folgenden gehe ich zuerst auf die normativen (liberalen und
utilitaristischen) Voraussetzungen der normativen Rationalwahltheorie ein.
Zweitens wird die Kritik an der Rationalwahl als methodischem Ansatz erörtert.
Dabei steht einmal die rationalistische Kritik am Modelldenken im Fokus.
Weiterhin wird die fehlende empirische Fundierung erläutert. Zuletzt werden die
prinzipiellen Grenzen der Rationalwahl oder der objektiven Aggregation erklärt,
wie sie im Unmöglichkeitstheorem oder Arrow-Paradoxon festgehalten wurden. Zum
Schluss werden dann die Grenzen und Möglichkeiten der Rationalwahl
zusammengefasst.
A. Empirische und normative (liberale und utilitaristische)
Voraussetzungen der normativen Rationalwahltheorie
Welche Annahmen liegen der normativen Rationalwahltheorie (rational choice
normative theory) von Russel Hardin (2011 [2009]) zugrunde? Da ist erstens die
oben herausgearbeitete Prämisse, dass Kausalität quasi die Welt im Innersten
zusammenhält, nur dadurch kann man mit Rationalwahlmodellen einmal die
politische Welt erklären und zweitens durch Umkehrung von Kausalsätzen diese
auch verändern. Durch Umkehrung von Kausalsätzen kann man aber nur
sozialtechnologische Regulierungen formulieren, diese Annahmen werden nicht
einmal thematisiert und können damit auch nicht legitimiert werden.
Die zwei Seiten der Kausalität, nämlich Welterklärung und Weltveränderung,
werden von Hardin nicht auf Bacon, Weber und Popper zurückgeführt, wie ich dies
oben getan habe, sondern auf Thomas Hobbes, John Locke und David Hume, die nach
Hardin dasselbe anstrebten wie Bacon mit der Kausalität: „Hobbes’s (1642; 1651)
great works of political theory, De Cive and Leviathan, were published in the
first and last years, respectively, of the English Civil Wars, one of the most
devastating periods of English history. Against this background, his view of the
role of political theory is the explanation and therefore the enablement of
social order [Hervorhebung nicht im
Original] a focus that continued through Locke and Hume, although they are
increasingly concerned with the working of government and the nature of politics“
(Hardin 2011 [2009]: 89).
Hardin erwähnt andere normative Voraussetzungen, die für positive und norma-tive
Theorien gleichermaßen angenommen werden: „Note that these three sets of
assumptions – individualism, self-interest, and the collective benefits of
self-seeking behavior – are the assumptions of both positive and normative
theories [eigene Hervorhebung]. This should not be a surprise because the world
we wish to judge normatively is the same world we wish to explain positively“
(Hardin 2011 [2009]: 93). „A fully adequate normative theory must therefore fit
both positive and normative assumptions and must depend on both positive and
normative methodologies. Often this means that the methodological demands of
normative claims are more stringent than the methodological demands of any
parallel positive claim. Normative claims must pass muster on both positive and
normative methodological standards“ (Hardin 2011 [2009]: 94).
Auch die Fundamente der Rationalwahltheorie wurden Hardin zufolge von Hobbes,
Locke und Hume gelegt: „If any of these three theorists [Hobbes, Locke und Hume]
were concerned with ‘the good society’, they would have meant a society that is
good for individuals. In an important sense, they are normatively behaviorist.
That is to say, they attempt to explain rather than to justify political
institutions and behavior […] they are normative theorists only in the very
limited sense of explaining what would get us to better for us by our own lights.
From this vision, the main
contemporary approaches to explanation derive“ (Hardin 2011 [2009]: 89).
Damit bestätigt auch Hardin indirekt, was Technikphilosophen (Kornwachs 2012)
behaupten: Auch technische Mitteldiskurse benötigen präskriptive Elemente.
Wertdiskurse oder Zieldiskurse erst recht. Dass in einer empirischen
Wissenschaft oder mit einer empirischen (deskriptiven, explanativen und
prognostischen) Methodologie keine Wertdiskurse oder Zieldiskurse geführt werden
können, ist spätestens seit Weber innerhalb der platonisch-galileischen
Tradition eigentlich Common Sense (Kapitel 3.1.2).
Nun stellt sich die Frage, wie kann man die empirischen und normativen
Voraussetzungen der normativen Rationalwahltheorie wissenschaftlich begründen?
Würde man dies nicht tun, führte das zu der abstrusen Vorstellung, dass die
normativen (liberalen und utilitaristischen) Annahmen (individualism,
self-interest, and the collective benefits of self-seeking behavior) ja nicht
von Menschen getroffen wurden, sondern entweder naturalistisch vorgegeben oder
geradezu gottgegeben sind. Anders ausgedrückt: Auffassungen mit
empirisch-deskriptivem Geltungsanspruch, die man als politische Realität
vorfindet und erklären will, werden zu normativen Kategorien bzw. Liberalismus
und Utilitarismus werden als naturalistische Gegeben-heiten hingestellt und sind
keine von Menschen gesetzten normativen Theorien, die erst legitimiert werden
müssten.
Eine naturalistische Normativität ist auch dann die Konsequenz, wenn die
Dichotomie zwischen Sein und Sollen unterlaufen wird; dass Hardin dies tut,
obwohl eigentlich empirische Wissenschaftler immer das Gegenteil anstreben,
steht außer Zweifel: „That would be a profoundly sad separation of normative
from positive theory, the worst such separation in the history of social theory,
worse than the separation of economic from utilitarian value theory wrought by
G.E. Moore (1903, 84) a century ago, when he literally took utility into the
vacuousness of outer space“
(Hardin 2011 [2009]: 99).
Es ist sehr überraschend, dass sich jemand auf Hume beruft und die
Sein-Sollen-Unterscheidung sowie den naturalistischen Fehlschluss in Frage
stellt. Hume gilt als derjenige, der die Sein-Sollen-Dichotomie, von einem Sein
kann nicht auf ein Sollen geschlossen werden, zuerst formulierte: „Eine noch so
große Menge zutreffender Aussagen über empirische oder metaphysische
Sachverhalte erlaubt es nicht, daraus eine Gebots- oder Verbotsnorm abzuleiten“
(Birnbacher 2007: 363, siehe Hume 2007 [1739/1740]: 302. Book 3, Part 1, Section
1. Eine umfassende, insbesondere logische Analyse dieser Problematik findet man
bei: Schurz 1997). George Edward
Moore (1965 [1903]) hat Humes „Einsicht auf
eine breitere Basis gestellt. Moores Argument besagt, dass nicht nur keine
normative Aussage, sondern auch keine andere Art von bewertender Aussage aus
rein deskriptiven Prämissen mit logischen Mitteln ableitbar ist. Damit eine
bewertende Aussage ableitbar ist, muss mindestens eine der Prämissen ebenfalls
bewertend sein“ (Birnbacher 2007: 363, siehe
Moore 1965 [1903]. Eine umfassende
rein logische Analyse findet man bei:
Stuhlmann-Laeisz 1983).
Wenn man den Rationalwahlansatz in praktischer Absicht benutzt, d.h., wenn
man damit technische Regulierungen begründen will, ist man auf liberale und
utilitaristische Normen angewiesen, die eigentlich zu diesem Ansatz per
definitionem gehören. Damit können die normativen Annahmen des
Rationalwahlansatzes mit Hilfe dieses Ansatzes innerhalb eines technischen
Diskurses nicht begründet werden. Somit ist auch jede Legitimation von
technischen Regulierungen auf den pragmatischen Zieldiskurs und den normativen
Wertdiskurs angewiesen.
Die fehlende kritische Auseinandersetzung mit den normativen (liberalen und
utilitaristischen) und empirischen Annahmen oder deren kritiklose Voraussetzung
wurde völlig zu Recht auch von Susanne Hoeber Rudolph kritisiert: „Rational
choice inquiry and explanation replaces alternative formulations of motive and
identity with a uniform, singular concept of utility maximization […].
Theoretically most relevant to my earlier discussion of Lockean liberalism’s
universalism is the propensity for formal theory to attribute motive rather than
investigate them“ (Rudolph 2005a: 9).
Auch die Perestroikans behaupten, dass es sich bei diesen Annahmen um keine
objektiven Fakten handelt, sondern um kontextabhängige, theorie- und
wertgeladene Voraussetzungen: „[T]hat its supposed objective facts were more
context dependent, value laden and theory laden than it was prepared to admit“ (Schram
2003: 847).
Damit sind wir bei einem Missverständnis angelangt, das seit Jahrzehnten als
Kritik an den Szientisten angeführt wird und auf ein fehlendes Verständnis der
Differenzierung und Spezialisierung innerhalb der modernen Wissenschaft
zurückgeht.
Die Wenn-dann-Tiefenstruktur wissenschaftlicher Erkenntnisse (Kapitel 3.1.3,
G) bringt es mit sich, dass man von Annahmen oder Voraussetzungen ausgeht, die
man zumindest in einer anstehenden Arbeit nicht hinterfragen muss. Dies heißt
nun keineswegs, dass diese Annahmen nicht in anderen Arbeiten empirisch
überprüft werden können, sofern es sich um empirische Annahmen handelt. Sofern
es sich um praktisch-normative Annahmen handelt, können diese in praktischen
(technischen, pragmatischen oder normativen) Arbeiten begründet oder legitimiert
werden.
Man kann also die normativen Voraussetzungen, die z.B. in einer Untersuchung,
die den Rationalwahlansatz benutzt, innerhalb eines technischen Mitteldiskurses
gemacht werden, innerhalb eines pragmatischen Zieldiskurses oder normativen
Wertdiskurses begründen. Die Wertgeladenheit (value laden) kann also diskursiv
aufgelöst werden. Dasselbe gilt für die Theoriegeladenheit (theory laden), hier
haben die Kritiker vor allem wissenschaftstheoretische (axiologische,
epistemische, methodologische und ontologische) Voraussetzungen im Blick. Damit
kann z.B. die Nutzenmaximierung einmal als normative Annahme (als Ziel oder
Zweck) pragmatisch oder normativ (als Wert oder Handlungsmaxime) begründet
werden. Wenn es sich um eine empirische Annahme handelt, kann mittels
Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen die Nutzenorientierung (als eine
empirisch feststellbare Handlungseinstellung) der untersuchten Akteure
nachgewiesen oder widerlegt werden. Der Rückgriff auf obskure Geladenheiten ist
also in keinem Fall nötig. Mehr noch: Damit tritt auch die Kontextabhängigkeit (context
dependence) wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Vorschein. Die Formulierung,
die leider auch von seriösen Wissenschaftlern benutzt wird, „Wissenschaftler
haben herausgefunden, dass“ ist schlicht falsch. Korrekt wäre folgende
Formulierung „Wissenschaftler haben herausgefunden, wenn diese Voraussetzungen
gelten, tritt dieser Effekt ein“. Damit könnte niemand die Kontextabhängigkeit
der wissenschaftlich ermittelten Erkenntnisse übersehen.
Die Tatsache, dass Rationalwahltheoretiker normative Annahmen treffen, die
sie mit Hilfe des Rationalwahlansatzes nicht begründen können, beweist, dass
eine normative Methodologie, die nur aus einer Rationalwahltheorie besteht, wie
Hardin dies fordert, schlicht defizitär ist.
Kenneth Joseph Arrow
(1963 [1951)]zeigt (Kapitel 3.10.2, D), dass eine Aggregation von
individuellen Präferenzen zu sozialer Wohlfahrt aus prinzipiellen Grenzen weder
demokratischen noch rationalen Gründen genügen kann. Damit fällt aber die
Rationalwahl als eine normative Methodologie aus, mit deren Hilfe man Werte,
Ziele oder Zwecke legitimieren kann. Sie können nur als Voraussetzungen etwa in
der Spieltheorie eingefügt, aber nicht begründet werden. Es ist aber genau die
normative Rationalwahltheorie, die uns als neueste revolutionäre Erfindung in
der Oxforder Reihe von Russel Hardin (2011 [2009]) empfohlen wird.
B. Rationalistische Kritik am Modelldenken und damit auch am
Rationalwahlansatz
Hans Albert formuliert sowohl eine empiristische als auch eine
rationalistische Kritik des Modelldenkens und hat einige Punkte hervorgehoben,
die auch im gegenwärtigen angelsächsischen „Methodenstreit“ wieder aktuell
wurden. Albert erhebt den Vorwurf des Modellplatonismus, der ein Denken in
Modellen bevorzugt: „[E]s handele sich um einen Wesenszug einer besonders
hochentwickelten ökonomischen Verfahrensweise: des Denkens in Modellen – das
allerdings bei denjenigen Theoretikern, die den neoklassischen Denkstil pflegen,
im wesentlichen auf eine neuartige Form des Platonismus hinausläuft“ (Albert
1967c [1965]: 417). „Der neoklassische Denkstil mit seiner Betonung des
Gedankenexperiments, des Räsonnements an Hand illustrativer Beispiele und
logisch möglicher Extremfälle, der Modellkonstruktion auf der Basis plausibler
Annahmen, der sogenannten abnehmenden Abstraktion und ähnlicher Verfahren
scheint in so starkem Maße prägend auf die ökonomische Methodologie gewirkt zu
haben, daß selbst Theoretiker, die den Wert der Erfahrung sehr hoch einschätzen,
sich von diesem methodischen Stil nur schwer lösen können“ (Albert 1967c [1965]:
410).
Ein weiteres Charakteristikum dieses Denkens sei eine Immunisierung gegenüber
der Erfahrung: „Modell-Platonismus der reinen Ökonomie, der in Versuchen zum
Ausdruck kommt, ökonomische Aussagen und Aussagenmengen (Modelle) durch
Anwendung konventionalistischer Strategien gegen die Erfahrung zu immunisieren“
(Albert 1967c [1965]: 410). Es geht also nach Albert darum, eine „Immunisierung
von Aussagen und Modellen gegen die Tatsachen zu erreichen“ (Albert 1967c
[1965]: 417). Genau auf dieses Manko verweisen auch Green und Shapiro, die
politikwissenschaftliche Beiträge von Rationalwahltheoretikern unter die Lupe
nehmen.
C. Fehlende empirische Fundierung sowie die Methodenorientierung
Vor allem gegen den Rationalwahlansatz richtet sich die Kritik von Green und
Shapiro (Green/Shapiro 1999 [1994],
Shapiro 2005), dass Teile der
Politikwissenschaft methodenorientiert (method-driven) und damit weltfremd seien
bzw. eine empirische Fundierung nicht gegeben sei. Schram (2003 und
2005)
verweist auf die Kritik von Green und Shapiro (Kapitel 3.1.2, D).
Im Zentrum von Greens und Shapiros Kritik stehen einmal die unrealistischen
empirischen Annahmen der Rationalwahltheorie sowie zweitens die These, dass die
Rationalwahltheoretiker keinen Beitrag zur empirischen Forschung erbracht
hätten: „Die Rational-Choice-Theorie hat daher – trotz ihres großen und noch
immer wach-senden Ansehens in der Disziplin – bisher keineswegs ihr Versprechen
eingelöst, die empirische Politikforschung voranzubringen“ (Green/Shapiro 1999
[1994]: 17). „[S]o eindrucksvoll ihre analytischen Ergebnisse oft auch sein
mögen, [sind sie] bislang den Beweis schuldig geblieben, daß sie uns zuverlässig
irgendetwas Neues über Politik sagen“ können (Green/Shapiro 1999 [1994]: 22).
„Entgegen der Behauptung von Riker und anderen, daß der Rationalwahlansatz in
der Politikwissenschaft so erfolgreich ist, weil die Disziplin ein
Theoriedefizit aufweist, feiert er vielmehr dort die größten Erfolge, wo es ein
Datendefizit gibt“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 229). Daher vermuten sie, „daß
die Rational-Choice-Theorie zumindest in ihrer gegenwärtigen Form mit der
Zunahme unseres empirischen Wissens über Politik an Einfluß verlieren wird“
(Green/Shapiro 1999 [1994]: 229).
Der Forschungsstil muss sich Green und Shapiro dahingehend ändern, dass
empirische Untersuchungen größeres Gewicht bekommen, weil bisher der
Rationalwahlansatz nur „wenig empirisch belegtes Wissen hervorgebracht hat“
(Green/Shapiro 1999 [1994]: 231).
Eine Arbeitsteilung dahingehend, dass die einen theoretische und die anderen
die empirische Arbeit machen, kann nicht gelingen: „Schließlich ist anzunehmen,
daß man mit dem Gegenstand der empirischen Beobachtung umfassend vertraut sein
muß, um innovative Theorieentwicklung betreiben zu können“ (Green/Shapiro 1999
[1994]: 230-231).
Die Rationalwahlansatz folgt „einem interdisziplinären Geist, der auf eine
Vereinheitlichung sozialwissenschaftlicher Erklärung aus ist, und einer
parochialen Neigung, alle sozialen Phänomene aus der Sicht der Mikroökonomie zu
interpretieren“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 237).
Auch werden Zweifel an einer holistischen universellen Theorie der Politik
formuliert, die die Anhänger des Rationalwahlansatzes mit einem individuellen
Ansatz anstreben: „Wir zweifeln, daß eine universelle Theorie der Politik einer
systematischen empirischen Überprüfung standhalten könnte“ (Green/Shapiro 1999
[1994]: 237, siehe oben die Duhem-Quine-These in
Kapitel 3.1.1, A, c, III.).
Die für diese Arbeit wichtigen praktischen (normativen, pragmatischen und
technischen) Aspekte werden von Green und Shapiro nicht erörtert: „Über die
ideologischen oder präskriptiven Aspekte der Rationalwahl werden wir kaum etwas
sagen“ (Green/Shapiro 1999 [1994]: 22).
D. Prinzipielle Grenzen der Rationalwahl oder objektiver Aggregation:
Unmöglichkeitstheorem oder Arrow-Paradoxon
Die zentrale Frage oder das Dilemma sozialer Wohlfahrt ist, wie kann man
individuelle Präferenzen zu sozialer Wohlfahrt aggregieren oder kann es eine
objektive Aggregation von individuellen Präferenzen zu einer sozialen Wohlfahrt
geben? Wenn dies gelingen könnte, dann gebe es ja auch eine wissenschaftliche,
wohlgemerkt nicht demokratische Legitimation der Handlungen, die man mit diesem
Ansatz begründen könnte.
Eine positive Antwort ist aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, dies ist
die zentrale Botschaft des Unmöglichkeitstheorems oder des Arrow-Paradoxons. Die
Aggregation individueller Präferenzen aller Bürger zu einer widerspruchsfreien
und vollständigen sozialen Wohlfahrtsfunktion ist laut Arrow unmöglich, weil sie
entweder willkürlich oder diktatorisch ist. Damit genügt sie weder rationalen
noch demokratischen Kriterien. Kein Entscheidungsverfahren ist in der Lage,
gleichzeitig alle folgenden Anforderungen zu erfüllen:
- a. Universalität/Vollständigkeit: Alle logisch gerechtfertigten
Präferenzordnungen der Individuen sollen zugelassen werden (Condition 1:
Universality, Arrow 1963 [1951]: 24).
- b. Transitivität: Wenn jemand die Alternative x der Alternative y und y
gegenüber z vorzieht, dann soll x gegenüber z vorgezogen werden und auch die
Gesellschaft in ihrer Gesamtheit muss zu dieser Entscheidung kommen und
konkret x gegenüber z vorziehen, sofern dies die Mehrheit der Mitglieder tut
(Condition 2: Positive Association of social and individual Values,
Arrow 1963
[1951]: 25-26).
- c. Unabhängigkeit: Irrelevante Alternativen dürfen den
Entscheidungsprozess nicht beeinflussen (Condition 3: The Independence of
Irrelevant Alternatives, Arrow 1963 [1951]: 26-28).
- d. Souveränität: Die soziale Wohlfahrtsfunktion darf nicht von außen
vorgegeben werden (Condition 4: Citizens’ Sovereignty,
Arrow 1963 [1951]:
28-30).
- e. Keine Diktatur: Ein Individuum darf die Rangordnung nicht diktieren. In
der Gesellschaft darf kein Diktator in Erscheinung treten, der die Rangordnung
manipuliert (Condition 5: Nondictatorship,
Arrow 1963 [1951]: 30-31).
E. Grenzen und Möglichkeiten der Rationalwahl
Warum ist das Unmöglichkeitstheorem oder Arrow-Paradoxon so wichtig,
insbesondere für praktische Diskurse?
Der normative Rationalwahlansatz soll ja auch soziales Handeln begründen. Das
bedeutet einmal, dass er technische Wege oder Mittel aufzeigt, wie man Ziele und
Zwecke umsetzen kann. Anders ausgedrückt: Dieses Modell kann keinen Ausweg aus
einem willkürlichen Dezisionismus bieten. Der Rationalwahlansatz reicht allein
weder für empirische noch für praktische Methodologien.
Trotz dieser grundsätzlichen Defizite haben die Perestroikans Unrecht, wenn sie
behaupten durch die Spieltheorie würde die Relevanz der Politikwissenschaft
abnehmen. Im Internetzeitalter, in dem private Konzerne wie Google, Amazon,
Apple, Microsoft und Yahoo sowie staatliche Institutionen wie die NSA (National
Security Agency) oder auch Wahlkämpfe entscheidend über das Internet geführt
werden, ist die Bedeutung der logisch-mathematischen Forschungsmethodologie
inklusive der Rationalwahltheorie für jeden offensichtlich und wird in Zukunft
weiter zunehmen.
Daher dürfte eher der dabei zum Tragen kommende methodologische Reduktionismus
ein Problem darstellen, es müssten die Kollateralschäden im Mittelpunkt der
Auseinandersetzung stehen, die diese verengte Weltsicht bedingt, so wie dies
schon längst auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Einen Überblick über
diese Diskussion, teilweise leider mit apokalyptischen Übertreibungen, bietet
z.B. Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ (Schirrmacher
2013). Problematisch ist also einzig und allein die Verengung des Blickwinkels
und zwar des Reduktionismus auf einen Ansatz. Die Spieltheorie in Bausch und
Bogen zu verdammen, ist hingegen nicht angebracht.
So sind das Modelldenken und damit auch die Rationalwahlmodelle bei
kontrafaktischen Ansätzen wichtig, wo es auf die Konstruktion von möglichen (kontrafaktischen)
Welten ankommt; auf Rationalwahlmodelle wird daher im Beitrag „Counterfactuals
and Case Studies“ zurückgegriffen (Levy 2010 [2008]: 630 und 637). Weiterhin
sind Rationalwahlmodelle bei der Konstruktion von Akteursmodellen z.B. in der
Spieltheorie wichtig, die für die Lösung von praktischen Problemen verwendet
werden könnten.
Die Erweiterung der Forschungsperspektive, die ja ausdrücklich von den
Perestroikans verlangt wird, ist hier natürlich auch unverzichtbar. Die Kritik
am kausalen Reduktionismus sowie an der Spieltheorie ist also aus anderen
Gründen notwendig; Revolutionspathos ist auch hier kontraproduktiv und vor allem
sachlich unangebracht und zwar sowohl von den Rationalwahltheoretikern als auch
von den Perestroikans, die mit der angewandten Klugheit ja ihrerseits die
Rational-Choice-Revolution revolutionieren und damit möglichst ablösen wollen.
Hier geht es weiter zum 4. Kapitel:
Zusammenfassung.
„Methodenstreit“ als Ausdruck einer
Identitätskrise oder Zeichen
von Vitalität?
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