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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


2. Kapitel: Begrifflichkeiten,
Kontrahenten und Streitpunkte

In diesem Kapitel werden zuerst die wichtigsten Streitpunkte erläutert, die den „Methodenstreit“ kennzeichnen. Danach wird eine Explikation von den wichtigsten Begrifflichkeiten, Interpretationen und Problemformulierungen vorgenommen. Der dritte Teil dieses Kapitels enthält einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Positionen der Kontrahenten. Im Vordergrund steht das Kuhn-Narrativ, das in unterschiedlichen Versionen von beiden Kontrahenten zur Reduktion von Komplexität verwendet wird. Die ersten beiden Fragen stehen daher im Zentrum
dieses Kapitels:

   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
Schaubilder
Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

  • Welches sind die wichtigsten Begrifflichkeiten, Defizite und Streitpunkte im „Methodenstreit“?
  • Welches sind die Kontrahenten im „Methodenstreit“, d.h. im methodologischen Glaubens- und Wissenschaftskrieg (science war) am Beginn des 21. Jahrhunderts, und welche unterschiedlichen axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Voraussetzungen oder Vorgehensweisen bevorzugen sie?

2.1 Wichtigste Streitpunkte: wissenschaftliche Autorität (Wissenschaftlichkeit) und Relevanz politikwissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

Zwei übergeordnete Fragestellungen, die bei näherer Betrachtung aus einer Fülle von Einzelfragen bestehen und, wie ich zeigen werde, eine enorme Komplexität aufweisen, begründen die Einteilung zweier Lager nach wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten und stehen daher beim sogenannten „Methodenstreit“ im Vordergrund: Dabei geht es einmal um die Methodologie, die die wissenschaftliche Autorität oder die Wissenschaftlichkeit politikwissenschaftlicher Ergebnisse garantiert. Bei dem anderen Fragenkomplex handelt es sich um die Relevanz politikwissenschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Forschung erstens für die Gesellschaft und zweitens für das Wissenschaftssystem selbst.


2.1.1 Methodologie und wissenschaftliche Autorität Seitenanfang

Der erste Fragenkomplex hängt mit der Wissenschaftlichkeit und damit der Autorität des Faches zusammen. Mit welchen Methoden, besser mit welchen Methodologien kann vor allem die Wissenschaftlichkeit, aber auch die Einheit des Faches garantiert werden?

Die Szientisten legen einen großen Wert auf die Methodologie, weil nur dadurch die wissenschaftliche Autorität garantiert werden kann. Ein zentrales Ziel bei der Gründung der Politikwissenschaft bestand darin, politische Fragestellungen mit der Autorität einer Wissenschaft zu bearbeiten (Goodin 2011b [2009]).

Die Interpretivisten sowie phronetischen Perestroikans sehen darin vor allem eine Abwendung von konkreten politischen Problemen und ein selbstreferentielles, den wahren Problemen abgewandtes Wissenschaftssystem, das im wissenschaftlichen Elfenbeinturm irrelevanten methodologischen Fragen nachgeht. Die kritischen Stichworte lauten: methodenorientierte statt problemorientierter Forschung (method- versus problem-driven research, Green/Shapiro 1994, Shapiro 2005, Schram 2003 und 2005) sowie Scholastizismus (scholasticism, Mead 2010). Für die Perestroikans steht daher vor allem der nächste Punkt, die praktische Relevanz, im Zentrum des Interesses. Methodologischen Fragen werden hingegen abschätzig behandelt.


2.1.2 Relevanz politikwissenschaftlicher Forschung Seitenanfang

A. Politische und öffentliche Relevanz

Das Verhältnis zwischen Politikwissenschaft und praktischer Politik ist ein wichtiger Fragenkomplex, genauer geht es um die Relevanz der politikwissenschaftlichen Forschung für das tägliche politische Geschäft. Wie können praktikable Lösungen für existente politische Probleme vor allem für Benachteiligungen von Gruppen und Personen generiert werden? Wie kann man insbesondere in Zeiten der Verwissenschaftlichung garantieren, dass die im Fach erarbeiteten Vorschläge auch Gehör finden? Wie kann die Unabhängigkeit des Faches gegenüber Auftraggebern (Staat, Zivilgesellschaft, Wirtschaft) garantiert werden?

Während die Relevanz eines Faches in der Öffentlichkeit insbesondere an den Ergebnissen, sprich Inhalten des Faches oder dem Wissen, das es erstellt, festgemacht wird, gründet das Ansehen eines Faches innerhalb des Wissenschaftssystems auf dessen methodologische Innovationskraft.

Wenn es um praktische Forschungen geht, bevorzugt das bürgerlich-liberale Establishment eine angewandte, technische Methodologie, genauer eine normative Rationalwahltheorie (Hardin 2011 [2009]), die phronetischen Perestroikans wollen hingegen mit einer angewandten Klugheit (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) die Sozialwissenschaften revolutionieren und dazu beitragen, dass diesen wieder mehr öffentliche Relevanz zukommt. „Making Social Science Matter: Why Social Inquiry Fails and How It Can Succeed Again“ (Flyvbjerg 2001) und „Real Social Science. Applied Phronesis“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) lauten hier die program-matischen Titel.

Das zentrale Ziel der Perestroikans besteht darin, die Politikwissenschaft in der öffentlichen Auseinandersetzung zu profilieren: „Working to ensure that political science gets to play its part in the broader field of political struggle is still an effort well worth repeating“ (Schram 2015: 428).

B. Methodologische Relevanz innerhalb des Wissenschaftssystems

Die Relevanz eines Faches im Zusammenspiel aller Wissenschaften ist dadurch gegeben, dass Methodologien, die in diesem Fach erarbeitet wurden, von anderen Fächern übernommen wurden. Anders ausgedrückt: Die methodologische Innovationskraft eines Faches entscheidet hauptsächlich über das Ansehen und die Relevanz des Faches innerhalb des Wissenschaftssystems.

„Da die Politikwissenschaft weder eine eigene Theorie noch eine eigene Methode mitbrachte und ihre Grenzen umstritten waren, hat ihr Bemühen um Partialtheorien angesichts des überzogenen Theorieanspruches, der die Schattenseite der Humboldtschen Universität schon immer gewesen ist, auf die Nachbardisziplinen wenig Eindruck gemacht“ (von Beyme 2016: 51). Dieses Urteil wurde für die Situation der Politikwissenschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert, es dürfte auch auf die Entstehung der amerikanischen Politikwissenschaft übertragen werden können. Insbesondere die Methodologie des Faches wurde aus anderen Wissenschaften übernommen. In den USA standen und stehen nach wie vor, wenn es um empirische Forschung geht, zwei Kontrahenten gegenüber: einerseits der Mainstream, wie wir sehen werden eher die Minderheit des bürgerlich-liberalen Establishments, die ein kausales Denken (causal thinking) bevorzugt und dies mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie, generell einer Orientierung an den Naturwissenschaften sowie einer Orientierung an den Wirtschaftswissenschaften praktiziert, und andererseits am Beginn des 21. Jahrhundert die sogenannten Perestroikans mit einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie und einer Orientierung eher an den Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities).

Wenn nun methodologische Auseinandersetzungen als „Streit“ abgetan werden, wie dies in der Politikwissenschaft von nicht wenigen gemacht wird, dann hat das Fach schlechte Karten, denn das Wissenschaftssystem ist ein meritokratisches System, aristokratische Ansprüche führen nicht weiter. Was zählt, sind die Rekonstruktion, Weiterentwicklung vorhandener Methodologien oder die Innovation neuer Verfahren, die die Wissenschaft voranbringen, und nicht irgendwelche überholte Ansprüche. Daher ist es nur konsequent, dass alle Politikwissenschaftler die „Attitüde des Philosophenkönigtums“ (Wildemann 1967: 21, zitiert nach von Beyme 2016: 49) aufgegeben haben.

Szientisten und Perestroikans haben, wenn es um die Relevanz des Faches geht, unterschiedliche Schwerpunkte, die sich, wie ich zeigen werde (Kapitel 3), nicht widersprechen. Im Gegenteil, diese können komplementär verfolgt werden, sobald Übertreibungen, die es auf beiden Seiten gibt, abgelegt werden.


2.2 Explikation von Begriffen Seitenanfang

In den Wissenschaften herrscht in der Regel kein essentialistisches, sondern ein nominalistisches Verständnis im Umgang mit Begriffen, d.h., dass Begriffe keine für immer festgelegte Bedeutung haben, sondern ihre Bedeutung ist sehr konstruktivistisch und kann daher nur am tatsächlichen Gebrauch festgemacht werden. Auch ein konstruktivistisches oder nominalistisches Verständnis sollte die historische Entwicklung von Begrifflichkeiten berücksichtigen, sonst kommt es zu Konfusionen. Hans Poser (2012 [2001]) weist darauf hin, dass viele wichtige Begriffe in der Wissenschaft nicht eindeutig definiert sind oder unscharf angewendet werden, z.B. die Begriffe „Erklärung“, „Beobachtung“, „Naturgesetz“, „Gesellschaft“ oder „Epoche“. Hier besteht die Gefahr, in einer umgangssprachlichen Bedeutung steckenzubleiben oder durch willkürliche Definitionsversuche dem zugrunde liegenden Sachverhalt nicht gerecht zu werden. Damit man bei der Begriffsbildung an den Forschungsstand anschließt und auch Weiterentwicklungen offen bleiben, empfiehlt sich eine Vorgehensweise, wie sie Paul Rudolf Carnap für die Begriffsexplikation vorgeschlagen hat: „Die Aufgabe der Begriffsexplikation besteht darin, einen gegebenen, mehr oder weniger unexakten Begriff durch einen exakten zu ersetzen. Der gegebene Begriff (sowie der dafür verwendete Ausdruck) soll Explikandum heißen, den exakten Begriff (sowie den dafür vorgeschlagenen Ausdruck) hingegen, der den ersten ersetzen soll, nennen wir Explikat. Das Explikandum kann der Sprache des Alltags oder einem frühen Stadium der Wissenschaftssprache entnommen sein. Das Explikat muß durch explizite Regeln für seine Anwendung gegeben werden. Dies kann z.B. durch eine Definition geschehen, welche diesen Begriff in ein bereits vorhandenes System von logisch-mathematischen oder empirischen Begriffen einordnet“ (Carnap 1959 [1950]: 12).

Die Ersetzung des Explikandums durch das Explikat ist nur dann gelungen, wenn das Explikat vier Adäquatheitsbedingungen erfüllt (Poser, 2012 [2001]: 44):

  • Ähnlichkeit: Zwischen Explikat und Explikandum muss eine Ähnlichkeit bestehen. In der Mehrzahl der Fälle sollte das Explikat an die Stelle des Explikandums treten können.
  • Regelhaftigkeit: Die Regeln für den Gebrauch des Explikats sind genau anzugeben, Ausnahmen nach Möglichkeit auszuschließen.
  • Fruchtbarkeit: Der neue Begriff soll fruchtbar für die Wissenschaft sein, d.h. er sollte möglichst viele generelle Aussagen ermöglichen.
  • Einfachheit: Der neue Begriff muss so einfach wie möglich ausfallen.
Dieses Verfahren der Explikation wird auch in diesem Buch angewendet. Dabei sollen aber nicht umgangssprachliche Begriffe schärfer gefasst werden, sondern bestehende Fachtermini der (Politik)Wissenschaft neu abgegrenzt (z.B. „Methode“, „politische Theorie“ oder „Politik“) oder neue Begriffe (z.B. Handlungsmaximen, Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente) in die Diskussion eingeführt werden (Kapitel 3.4.3). Das Muster, das Carnap für die Begriffsexplikation angewendet hat, gilt meiner Meinung nach analog nicht nur für die Begriffsebene, sondern auch für alle Ebenen und damit für alle wissenschaftstheoretischen Fragestellungen und für alle wissenschaftlichen Werkzeuge. Die Hauptaufgabe jeder Methodologie besteht darin, zu explizieren, zu präzisieren, zu rekonstruieren oder weiterzuentwickeln. Die Vorteile der Explikation gegenüber der Definition hat Hans Poser treffend wie folgt zusammengefasst: „Während nämlich der Einstieg mit einer Definition eine Vorentscheidung trifft, die nicht weiter in Frage gestellt werden kann und die demzufolge das Resultat – man denke an das Fischernetz – im Sinne eines Begründungszirkels vorwegnimmt, wird bei der Explikation erstens ein vorgängiger Dogmatismus vermieden, zweitens wird mit der Explikation zwar eine Festsetzung getroffen, aber im Gegensatz zur Definition bleibt deren Überholbarkeit stets sichergestellt: Das Explikat kann, wenn es sich als erforderlich erweist, revidiert werden. Die Revision ist dabei, wie sich zeigen wird, selbst nicht voraussetzungslos, allerdings ist auch sie immer wieder kritisierbar und revidierbar“ (Poser 2012 [2001]: 26).

Im Folgenden werde ich nun die wichtigsten Begriffe und ihre Bedeutung erörtern, die in dieser Arbeit eine Rolle spielen.


2.2.1 Methodologie versus Methode Seitenanfang

Der Begriff „Methode“ wird im engeren Sinne gebraucht, daher werden Methoden nur die Werkzeuge (tools) genannt, die die wissenschaftliche Ermittlung von Sachverhalten ermöglichen (z.B. Korrelations- und Regressionsanalysen, Inhaltsanalysen, teilnehmende Beobachtung, Diskursanalyse, Technologiefolgenabschätzung). Neben der Methodenebene gibt es meiner Meinung nach noch neun weitere wissenschaftstheoretische Ebenen. Wissenschaftliche Analysen können und müssen meiner Auffassung nach auf zehn methodologischen Ebenen evaluiert werden. Die ersten drei wissenschaftstheoretischen Ebenen bilden die wissenschaftstheoretischen Grundlagen, in denen erstens über die Aufgaben und Grenzen, zweitens über die Kriterien und drittens über die Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse diskutiert wird. Wissenschaftler übernehmen in der Regel hier implizit insbesondere von Philosophen entwickelte Positionen. Weitere sieben Ebenen sind die verschiedenen wissenschaftliche Werkzeuge: Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze (1. Schaubild und 2. Schaubild).

Methodologie ist der umfassendere Begriff und bezeichnet die Gesamtheit aller methodologischen Erörterungen oder das, was oft mit Methoden im erweiterten Sinne verstanden wird. Innerhalb der Methodologie geht es darum, mit welcher Methodologie Wissen generiert wird und wie man Wissenschaft von anderen Formen der Erkenntnis unterscheiden kann.

Der Unterschied zwischen Wissen (Wissenschaft), z.B. wissenschaftlicher Politikberatung, auf der einen und anderen Erkenntnisformen (insbesondere Kritische Rationalisten sprechen pejorativ von Pseudowissen sowie Pseudowissenschaft), z.B. subjektiven Ideologien, Utopien, Stammtischparolen oder Wünschen, auf der anderen Seite liegt nicht im Inhalt, dieser kann sogar gleich sein, sondern in der Begründung bzw. Vorgehensweise oder genauer gesagt darin, dass wissenschaftliche Ergebnisse mit Hilfe einer wissenschaftlichen Methodologie generiert werden. Eine wissenschaftsbasierte Politikberatung begründet Regulierungs- oder Reform-vorschläge für ein politisches System mittels wissenschaftlicher Werkzeuge, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen genügen. Wissenschaftliche Werkzeuge bieten die Mittel, mit deren Hilfe empirische (deskriptive, explanative und prognostische) Aussagen und Aussagensysteme sowie praktische (normative, pragmatische und technische) Normen und Regeln sowie Normierungs- und Regulierungssysteme hypothetisch begründet werden. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen bestimmen die Aufgaben, Grenzen, Kriterien und Eigenschaften des generierten Wissens (Lauer 2013).


2.2.2 Methodenstreit versus Methodologiestreit Seitenanfang

Der Begriff „Methodenstreit“ wird in der Auseinandersetzung in einem engeren und einem weiteren Sinne gebraucht. Im engeren Sinne ist vor allem der Streit auf der Methodenebene zwischen Anhängern von quantitativen und qualitativ-interpretativen Methoden gemeint. Im erweiterten Sinne handelt es sich aber um einen methodologischen Streit, wo es nicht nur um Methoden, sondern allgemein um wissenschaftliche Werkzeuge sowie generell wissenschaftstheoretische (axiologische, epistemische, methodologische und ontologische) Grundüberzeugungen oder Voraussetzungen geht.

Am Beginn des „Methodenstreit“ am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts standen vor allem wissenschaftstheoretische (axiologische, epistemische, methodologische und ontologische) Fragen im Vordergrund (Dilthey 1922 [1883], Rothacker 1926, Rickert 1910 [1896], Windelband 1900 [1894], Weber 1973b [1903-1906], Weber 1973c [1904], Weber 1973d [1917], Weber 1973e [1919]).

In der Politikwissenschaft verlagerte sich der Streit schnell auf die Methodenebene und zwar auf die Ablehnung oder Bevorzugung von quantitativen oder qualitativen Methoden (Flick/von Kardorff/Steinke), 2015 [2000], Blatter/Janning/Wagemann 2007, Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2015 [1998]). Mittlerweile werden wieder die wissenschaftstheoretischen Konflikte in den Vordergrund gestellt (Moses/Knutsen 2012 [2007], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006], Bevir/Rhodes 2016a).

Aufgrund dieser Zusammenhänge ist es besser von Methodologiestreit statt von Methodenstreit zu sprechen. Zumal der Begriff „Methodenstreit“ auch zu Missverständnissen führt, weil der Fokus nur auf einen Gegensatz etwa zwischen quantitativ-mathematischen und qualitativ-interpretativen Methoden gelegt wird und die vielen anderen wissenschaftstheoretischen Differenzen nur indirekt zur Sprache kommen oder die übrigen neun methodologischen Ebenen unzureichend berücksichtigt werden.

In der Politikwissenschaft genauso wie in anderen Fachwissenschaften stehen vor allem Methoden sowie methodische Ansätze (Form) einerseits und Theorien (Inhalt) andererseits im Vordergrund, alle anderen wissenschaftlichen Werkzeuge sowie die wissenschaftstheoretischen Grundlagen werden oft vernachlässigt. Meiner Ansicht nach ist es sinnvoll, zwischen zehn Ebenen zu unterscheiden, damit man Verwechslungen und ein Vorbeireden vermeidet (1. Schaubild und 2. Schaubild).


2.2.3 Begrifflichkeiten zur Rekonstruktion von wissenschaftlichem Fortschritt Seitenanfang

Zur Beschreibung der verschiedenen wissenschaftlichen Methodologien, der damit verbundenen Innovationen und des damit erzielten Fortschritts werden verschiedene Begriffe verwendet. Diese Begrifflichkeiten dienen auch zur Abgrenzung verschiedener Schulen untereinander.

Ich werde zuerst die am weitesten verbreiteten Begrifflichkeiten erörtern und zeigen, warum diese ungeeignet sind, die methodologischen Entwicklungen innerhalb der Politikwissenschaft zu beschreiben, und danach die Begrifflichkeiten erläutern, die dafür besser geeignet sind.

A. Kuhn-Narrativ: Paradigma, Inkommensurabilität, (kopernikanische) Revolution oder (kopernikanische) Wende, Bacon-Projekt und Leonardo-Welt

Am meisten werden die von Thomas Samuel Kuhn (1976 [1962]) in die Debatte eingeführten Begrifflichkeiten (Paradigma, Inkommensurabilität, (kopernikanische) Revolution, normale Wissenschaft) verwendet. In etwa die gleiche Richtung verweisen auch (kopernikanische) Wende (Blumenberg 1975), Bacon-Projekt (Schäfer 1993) und Leonardo-Welt (Mittelstraß 1992). Gemeinsam ist diesen Beschreibungen, dass man in der Neuzeit eine wissenschaftliche Revolution festmacht, die sich prinzipiell von dem seit der Antike eingeschlagenen Weg innerhalb der Wissenschaft unterscheidet, und es auch zu unüberbrückbaren Diskontinuitäten, zu Inkommensurabilitäten und damit zu einer wissenschaftlichen Revolution kam. Zwischen dem alten und neuen Paradigma gibt es eine allgemeine Inkommensurabilität, die eine sinnvolle Auseinandersetzung unmöglich macht. Nach der Revolution wird der wissenschaftliche Fortschritt durch „normale“ Arbeiten vorangetrieben. Dies nenne ich das Kuhn-Narrativ, das in verschiedenen Versionen nicht nur von den Kontrahenten im „Methodenstreit“ verwendet wird.

Der Begriff „Paradigma“ wird von allen innerhalb der Politikwissenschaft sehr inflationär, in sehr unterschiedlichen Bedeutungen und auch oft missverständlich gebraucht. Dies liegt nicht zuletzt an der Vagheit des Begriffs: „Ein Teil seines Erfolges, so muß ich mir mit Bedauern sagen, rührt daher, daß fast jeder alles herauslesen kann, was er will. An dieser übermäßigen Formbarkeit ist nichts an dem Buch so stark verantwortlich wie die Einführung des Ausdrucks ‚Paradigma‘“ (Kuhn 1977: 389). Margaret Mastermann hat mindestens 22 verschiedene Bedeutungen herausgearbeitet (Kuhn 1977: 389, Details dazu in Hoyningen-Huene 1988, insbesondere 4. Kapitel: Der Paradigmenbegriff, S. 133 ff.).

Trotz dieser Problematik wird die Kuhn’sche Begrifflichkeit auch in der Politikwissenschaft sehr gerne verwendet, obwohl sie eigentlich zur Beschreibung der Entwicklung in der Physik, genauer für die Beschreibung und Erklärung der (kopernikanischen) Wende vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild entwickelt wurde.

Mit Hilfe des Begriffs „Paradigma“ wird die Unvergleichbarkeit zwischen Epochen, Theorien oder Methodologien angedeutet. Zwei Paradigmen unterscheiden sich dadurch, dass es zwischen ihnen eine allgemeine und nicht nur eine methodologische Inkommensurabilität gibt, so eine der verbreitetsten Interpretationen. Die allgemeine Inkommensurabilität bewirkt im Falle von wissenschaftlichen Revolutionen einen Paradigmenwandel und führt aufgrund von unüberbrückbaren Diskontinuitäten zu einem Zusammenbruch der wissenschaftlichen Kommunikation. Dies ist sehr selten gegeben, innerhalb der Methodologie kann dies nicht nachgewiesen werden, weil methodologische Neuerungen nie von allen Wissenschaftlern etwa innerhalb der Politikwissenschaft übernommen wurden und „alte“ Methodologien weiterhin angewendet werden. Dies will man auch schon in der Benennung zum Ausdruck bringen und spricht von Post-Positivismus (Münch 2016). Daher ist es viel angebrachter im Anschluss an Imre Lakatos (1982 [1978]) von verschiedenen methodologischen Forschungsprogrammen zu sprechen statt von Paradigmen.

Der Begriff der „Revolution“ wird nicht zuletzt auch dann genutzt, wenn Innovationen in diesem Fall innerhalb der Methodologie beschrieben werden, die gerne als „revolutionär“ dargestellt werden. Es wird suggeriert, dass die alte Methodologie nun überholt sei, dass eine neue an ihre Stelle getreten sei (der Titel von Francis Bacons Hauptwerk lautet „Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]), damit wurde er Vorbild für viele andere) und dass es innerhalb der Wissenschaft nicht nur zu einem Fortschritt und damit zu einer bedeutenden Innovation, sondern gleich zu „revolutionären“ Neuerungen gekommen ist. Mit den Begriffen „Revolution“ will man auf grundlegende, revolutionäre Wenden innerhalb der Wissenschaftsentwicklung hinweisen, wobei man von „kopernikanischen Revolutionen und Wenden“ auch in Gebieten außerhalb der Physik spricht. Mit dem Begriff „Wende“ will man eine neue Revolution herbeiführen, weil man die derzeitige Situation für unangebracht ansieht. Man kann auch von Gegenrevolutionären sprechen, zumal viele z.B. Hennis (1963) genau wie die phronetischen Perestroikans auf das Werk von Aristoteles zurückgreifen und die neuzeitliche Revolution sogar rückgängig machen wollen.

Die Szientisten verwenden den Begriff „Revolution“ und sind überzeugt, dass das derzeitige Paradigma, dessen Grundlagen im 17. Jahrhundert gelegt wurden und das in der Politikwissenschaft im 20. Jahrhundert implementiert wurde, dass dieses reduktionistische Paradigma, in diesem Fall die reduktionistische Methodologie richtig ist und daher für die Wissenschaftler nur „normale“ Arbeiten anfallen. Dies ist die Version des Kuhn-Narrativs aus szientistischer Sicht.

Die Interpretivisten (Hermeneutikern, Phänomenologen, Strukturalisten, Perestroikans) sind der Auffassung, dass das derzeitige positivistisch-szientistische Paradigma zumindest für die Geistes-, Kultur-, Sozialwissenschaften ein Irrweg ist und daher unbedingt eine Wende erforderlich sei, so lautet das interpretative Kuhn-Narrativ. Die Szientisten bevorzugen das Wort „Revolution“, die Interpretivisten und Perestroikans das Wort „Wende“.

Lothar Schäfer (1993) redet von einem „Bacon-Projekt“, das einen Grundzug der Moderne ausmacht und sich von der Antike unterscheidet. In der Antike galt die Erkenntnis der Natur als Selbstzweck, während seit der Neuzeit die Erkenntnis der Natur als ein Mittel zur Mehrung des allgemeinen Menschenwohls betrachtet wird. Die Naturforschung soll die Entwicklung von Techniken ermöglichen und damit dem Menschen Machtmittel zur Verfügung stellen, durch die er sich von der Naturabhängigkeit und aus materieller Not befreien kann. Francis Bacon (1561-1626) wird von Schäfer als Propagandist der neuen Zielbestimmung der Naturforschung angesehen.

Auch Jürgen Mittelstraß bietet eine Begrifflichkeit, mit deren Hilfe man den modernen Einschnitt fassen kann. Er spricht von der „Leonardo-Welt“ (Mittelstraß 1992). Leonardo da Vinci (1452-1519) fungiert bei ihm als Namenspatron der industriellen Moderne. Wissenschaftliche und technische Rationalität und ihre Ergebnisse prägen danach entscheidend die Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt. Wissenschaftsgeschichtlich soll damit die Abkunft der heutigen Industriegesellschaft kenntlich gemacht werden. Beides kennzeichne die Moderne: Humanität und Fortschritt einerseits sowie Inhumanität und Zerstörung andererseits.

Durchgesetzt hat sich nicht nur in der Politikwissenschaft die Begrifflichkeit von Kuhn. So spricht Robert Edward Goodin (2011b [2009]: 13) von mehreren Revolutionen innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft; da es sich dabei im Kern um die Einführung von neuen Methodologien handelt, werde ich von der Einführung von methodologischen Forschungsprogrammen sprechen. Diese haben weder existierende Forschungsprogramme vollständig verdrängt noch gibt es keinen Austausch zwischen Forschern, die verschiedene Forschungsmethodologien anwenden. Im Gegenteil, diese Methoden sind komplementär und werden teilweise von ein und demselben Wissenschaftler angewandt. Kurz gesagt, Komplementarität, vor allem aber ein Nebeneinander und selten ein Miteinander von Methodologien und nicht Inkommensurabilität kennzeichnet das methodologische Feld. Daher führen Begriffe wie „Paradigma“, „Revolution“ und „Wende“ in die Irre, auch wenn es zwischen den verschiedenen Forschungsschulen zu Irritationen und Missverständnissen kommt. So suggerieren die Wörter „Revolution“ (behavioral revolution, rational choice revolution) und „Wende“ (linguistic, cultural, interpretative oder practical turn), dass es zu einem prinzipiellen Umbruch gekommen ist, Altes ad acta gelegt wurde und nur noch neue Methodologien angewandt werden.

B. Traditionen und Forschungsprogramme

In dieser Arbeit werde ich mit den Begriffen „Forschungsprogramme“ und „Traditionen“ arbeiten und zeigen, dass diese Begriffe ausreichen, um die methodologischen Entwicklungen seit dem aristotelischen Organon darzustellen. Anders formuliert, die Begrifflichkeiten von Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) und Imre Lakatos (1982 [1978]) sind besser geeignet als die von Thomas Samuel Kuhn (1976 [1962]), Lothar Schäfer (1993), Jürgen Mittelstraß (1992) oder Hans Blumenberg (1975), um die methodologischen Entwicklungen nachzuzeichnen.

Die auf Georg Henrik von Wright zurückgehende Unterscheidung in galileische und aristotelische Tradition (von Wright 1974 [1971]), d.h. in zwei verschiedene methodologische Traditionen, ist besser geeignet, die methodologischen Entwicklungen zu erörtern. Im Folgenden werde ich diese Begrifflichkeit in etwas veränderter Form verwenden: „Was ich hier die galileische Tradition nenne, läßt sich bis zu Platon, also über Aristoteles hinaus, verfolgen“ (von Wright 1974 [1971]: 17, vgl. Anmerkung 5, S. 151). Daher erscheint mir die Bezeichnung platonisch-galileische Tradition oder wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus (im Neuplatonismus stehen vor allem die Inhalte von Platons Werk im Mittelpunkt) treffender (Lauer 2013). Platonisches Denken lässt sich vor allem auf der Wissensebene und der Ebene methodischer Ansätze nachweisen, wenn es um Bedingungen und Kriterien des Wissens und um Modelldenken geht.

Zwischen diesen beiden methodologischen Traditionen gibt es keine allgemeine, sondern nur eine methodologische Inkommensurabilität. Diese Traditionen schließen sich daher gegenseitig nicht aus, auch wenn selbstverständlich widersprüchliche Positionen nicht vereinbar sind, sondern sie können komplementär gedacht und angewendet werden. Man muss z.B. zuerst Ereignisse verstehen, bevor man diese danach erklären kann (von Wright 1974 [1971]).

Beide Traditionen enthalten mehrere methodologische Forschungsprogramme, die sich im Laufe der Zeit auch weiterentwickelt haben. „Tradition“ und nicht „Forschungsprogramm“ bildet daher den umfassenderen Begriff. Die Unterscheidung in zwei Traditionen ist deshalb gerechtfertigt, weil die platonisch-galleische Tradition sehr homogen ist und sich zudem auf sieben von zehn Ebenen von der aristotelischen Tradition unterscheidet.

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, verschiedene Schulbildungen in den Sozialwissenschaften zu benennen. So wird etwa zwischen quantitativer und qualitativer Forschung differenziert. Diese Unterscheidung wird vor allem von Forschern, die sich an den Geistes- und Kulturwissenschaften orientieren, verwendet (Flick/von Kardorff/Steinke), 2015 [2000], Blatter/Janning/Wagemann 2007, Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998]). Die Wissenschaftler, die sich an den Naturwissenschaften orientieren und die epistemischen Unterscheidungen in den Vordergrund stellen, bevorzugen die Unterscheidung in Naturalismus (Naturalist Philosophy of Science) und Konstruktivismus (Constructivist Philosophy of Science) und sprechen von „Ways of Knowing. Competing Methodologies in Social and Political Research“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]), so der Titel eines vielbeachteten Buches. Auch hier wird der Begriff „Tradition“ ausdrücklich verwendet (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 7). Beide Vorgehensweisen überzeugen mich nicht, die erste vor allem, weil sie die Auseinandersetzung auf die Methodenebene verlagert, die zweite, weil sie das, was Konstruktivismus bezeichnet wird, mit einer interpretativen Brille beschreibt. Auch Szientisten können sehr wohl mit Konstruktionen umgehen, wie ich noch nachweisen werde. Weiterhin wird das zentrale Ziel der konstruktivistischen Tradition, Sinnverstehen, von den Szientisten schlicht ignoriert und so getan, als ob auch in der aristotelischen Tradition genauso wie in der platonisch-galileischen Tradition ein kausaler Reduktionismus vorherrscht.


2.3 Die Kontrahenten im „Methodenstreit“ oder dem methodologischen Glaubenskrieg Seitenanfang

Nun sollen die beiden Kontrahenten des „Methodenstreits“ innerhalb der (angelsächsischen) Politikwissenschaft kurz vorgestellt werden, erst danach folgt eine detaillierte Auseinandersetzung: auf der einen Seite die Kausalisten (kausale Reduktionisten), Naturalisten, (Neo)Positivisten, Szientisten, oder die disziplinierten Politikwissenschaftler, die sich an den Naturwissenschaften orientieren und einen methodologischen, insbesondere kausalen und empirischen Reduktionismus vertreten. Auf der anderen Seite muss eine Einschränkung innerhalb der aristotelischen Tradition vorgenommen werden. Es werden nur die Perestroikans behandelt, die sich insbesondere an den Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities) orientieren und neben kausalen Erklärungen auch Beschreibungen von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen akzeptieren sowie eine dezidiert problem­orientierte und nicht methodenorientierte Vorgehensweise bevorzugen. Damit hoffen sie, dass sie das öffentliche Relevanzproblem lösen können.

Der „Methodenstreit“ zwischen diesen beiden Kontrahenten wird vor allem auf dem Gebiet der Methodologie geführt, besteht seit dem Entstehen der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert, dauert bis heute an und spitzt sich in Abständen von einigen Jahrzehnten immer wieder zu.


2.3.1 Die Szientisten oder die platonisch-galileische Tradition innerhalb der Politikwissenschaft: methodologischer, kausaler und empirischer Reduktionismus, logisch-mathematische Forschungsmethodologie Seitenanfang

A. Die philosophischen Grundlagen der platonisch-galileischen Tradition

Die philosophischen oder wissenschaftstheoretischen Grundlagen der platonisch-galileischen Tradition werden im 17. Jahrhundert von folgenden Denkern gelegt: Galileo Galilei (1564-1641), Francis Bacon (1561-1626), René Descartes (1596-1650), Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704). Einige wichtige Grundlagen gehen auf Platon zurück (von Wright 1974 [1971]: 17, siehe weiterhin Anmerkung 5, S. 151).

Francis Bacon ersetzt das aristotelische Organum durch sein „Novum Organum“ (Bacon 1990 [1620]), Aristoteles verfolgte im Gegensatz zu Bacon eine pluralistische und keine reduktionistische Methodologie. Galilei führt das Experiment als wissenschaftliches Werkzeug ein, Descartes preist die Mathematik („more geometrico“, Descartes 2001 [1637] und Descartes 1994 [1641]) sowohl als wichtigstes wissenschaftliches Werkzeug als auch als Vorbild; das mathematische Exaktheitsideal oder die Mathematik als methodologisches Vorbild innerhalb der Wissenschaften wird hier begründet.

Wissenschaftstheoretische Reduktionisten suchen nach einem archimedischen Punkt, genauer gesagt nach einem absoluten Fundament für Wissen oder für die Wissenschaft. Bis heute extrem einflussreich ist die Suche im Anschluss an Platons Dialog Theaitetos (Platon 1983c [4. Jahrhundert vor Christus]) nach Bedingungen des Wissens (Wieland 1999b [1982], Lehrer 1990, Enskat 2005, Lauer 2013).

Zur Suche nach einem unerschütterlichen Fundament (fundamentum inconcussum, Descartes 1994 [1641]) gehört sicherlich auch Descartes’ „ego cogito, ergo sum“, ja meiner Meinung nach sogar Poppers Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Zwar kritisiert Popper den Certismus (Spinner 1974 und 1978) und damit die Suche nach einem Fundament, spricht aber davon, dass das Abgrenzungsproblem „das Fundamentalproblem der Erkenntnistheorie“ (Popper 2010 [1979]: 422) sei, auf das sein Fallibilismus eine Lösung hätte. Da in den Sozialwissenschaften auch logisch-mathematische Modelle (Braun/Saam 2015) verwendet werden, ja sogar seit den 70er Jahren eine „rational choice revolution“ (Goodin 2011b [2009]: 13) diagnostiziert wurde, ist die Bezeichnung platonisch-galileische Tradition oder wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus meiner Meinung nach gerechtfertigt.

Damit wurden die methodologischen Grundlagen aufgelistet, die den enormen Aufstieg der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik ermöglichten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird die Physik von vielen als die Paradedisziplin für alle methodologischen Überlegungen angesehen. Dies hat enorme Auswirkungen auf die in diesem Jahrhundert entstehenden Sozialwissenschaften. Viele Sozialwissenschaftler plädierten für eine Orientierung an den Naturwissenschaften, insbesondere an der Physik. Statistik, vor allem Korrelations- und Regressionsanalysen, deren Grundlagen im 19. Jahrhundert gelegt wurden, genießen hohes Ansehen, Sprache und vor allem Hermeneutik werden unter Generalverdacht gestellt. Die Auswirkungen auf die erst im 20. Jahrhundert entstehende Politikwissenschaft sind bis heute enorm.

Die Gruppe der Politikwissenschaftler innerhalb der USA, die meines Erachtens dieser Tradition angehört, legt Wert darauf, „Wissenschaftler“, genauer „disciplined political scientists“, zu sein. Von ihren Gegnern werden sie „(Neo)Positivisten“, „Szientisten“, „Naturalisten“ genannt. Es seien Wissenschaftler, die die Kunst der Kunst willen, einen „Modell-Platonismus“ (Albert 1967c [1965]) oder „hypermethodologism“ (Bevir 2010 [2008]: 69) betreiben und deren Forschung „method-driven“ (Shapiro 2005) sei, ja sogar ein Erstarren in einem Scholastizismus (Mead 2010) wird ihnen vorgehalten.

Worin besteht die Diszipliniertheit und Exaktheit innerhalb der Politikwissen-schaft? Robert Edward Goodin, der Herausgeber (General Editor) der elfbändigen Reihe „The Oxford Handbook of Political Science“, stellt in seiner Zusammenfassung der Reihe mit dem vielsagenden Titel „The State of the Discipline, the Discipline of the State“ Folgendes fest: „Still even that small sample suffices – to my mind, at least – to illustrate both the unity and the diversity of contemporary political science […]. What made all this progress possible, I submit, is not any loosening of the discipline of political science. Rather, that progress is attributable to the strength of the discipline’s discipline […]. The discipline is a pluralist one, but the plurality is contained within and disciplined by a discipline“ (Goodin 2011b [2009]: 32).

Auch wenn Goodin das nicht expressis verbis sagt, ist der 10. Band dieser Reihe, „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier, 2010a [2008]), meiner Meinung nach the discipline’s discipline, oder anders ausgedrückt, die politikwissenschaftliche Methodologie (Political Methodology übersetze ich nicht mit politische, sondern mit politikwissenschaftliche Methodologie. Für den entsprechenden Hinweis bedanke ich mich bei Michael Haus) garantiert die Wissenschaftlichkeit des Faches. Dieser Band wurde von den wichtigsten Vertretern des Faches erstellt und enthält einen herausragenden Überblick über die Methodologie des kausalen und empirischen Reduktionismus oder des Kausaldenkens bestehend aus deduktiven und induktiven oder epagogischen Argumentationsweisen, quantitativ-mathematischen und qualitativ-mathematischen Methoden sowie empirischen und normativen methodischen Ansätzen innerhalb der Politikwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Es handelt sich bei diesem Band (eine weitere Behauptung meinerseits) um die Up-to-date-Version des Novum Organums von Francis Bacon (1990 [1620]) nicht nur für die Politikwissenschaft, sondern für alle Sozialwissenschaften. Dies gilt auch, obwohl der Name „Francis Bacon“ in dem Handbuch nicht einmal im Personenregister auftaucht. Daher können die Beiträge dieses Bandes als repräsentativ für die derzeitigen methodologischen Überzeugungen der platonisch-galileischen Tradition und damit der Szientisten angesehen werden.

Ich bevorzuge die Bezeichnung „Szientisten“, weil damit die Relevanz der Methodologie ins Zentrum gestellt wird. Die Bezeichnung „Positivisten“, die in den englischsprachigen Büchern dominiert, ist sehr missverständlich. Vor allem durch die Begrifflichkeit werden diesen Forschern Thesen angedichtet, die eindeutig Positionen des logischen Empirismus sind. Solche Positionen werden aber heute nur von wenigen Szientisten noch vertreten. Auch der Begriff „Naturalismus“ führt zu Missverständnissen, weil damit angedeutet wird, dass Szientisten etwa die Rolle von Akteuren von vornherein nicht untersuchen oder eine Naturgegebenheit und nicht Konstruiertheit von politischen Systemen annehmen.

Nun noch einige allgemeine Bemerkungen zur platonisch-galileischen Tradition. Kausalität, die nach allgemeiner Überzeugung unsichtbar ist, also nicht direkt beobachtet, sondern nur über kausale Inferenzen ermittelt werden kann, ist die ontologische Voraussetzung schlechthin. Kausalität wird als das angesehen, was die Welt im Innersten zusammenhält („Daß ich erkenne, was die Welt/ Im Innersten zusammenhält“ (von Goethe, 1978 [1808]: 162 [382-383])), oder als Zement des Universums (Mackie 1974). Wer Kausalitäten identifiziert, kann die Welt erkennen und verändern. Beides ist nur möglich, weil, wie Bacon dies in einem Aphorismus festhält (Bacon 1990 [1620]: 80, 3. Aphorismus, Teilband 1), es eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handeln gibt. Nur unter dieser Voraussetzung kann man durch „Umkehrungen von Kausalsätzen“ (Weber 1973d [1917]: 529 [491]) oder durch „Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas“ (Popper 1984 [1972]: 367) Erkennen (Theorie) in Handeln (Praxis), d.h. in Sozialtechnologie, umwandeln. Damit können Anweisungen oder Ratschläge als Teil einer wohlgemerkt angewandten (nicht praktischen) Politikwissenschaft quasi nebenbei formuliert werden. Dabei werden die ethisch-normativen sowie pragmatischen Dimensionen überhaupt nicht thematisiert, wie dies seit der Antike in der praktischen Philosophie oder der Politischen Philosophie gemacht wird. Allein eine halbierte, instrumentelle Vernunft (Horkheimer 1967 [1947]) ist hier am Werk.

Innerhalb dieser Tradition wird nur nach Kausalitäten zwischen Ereignissen (events) gesucht, Kausalität ist die einzige Relation, die zählt, andere Relationen oder gar Sinnzusammenhänge interessieren nicht. Daher meine Bezeichnung kausaler Reduktionismus.

Suchte sowohl der Positivismus des 19. Jahrhunderts als auch der Marxismus noch nach sozialen Gesetzen (Soziophysik), so stehen seit dem 20. Jahrhundert bei dieser Tradition innerhalb der Politikwissenschaft kausale Regularitäten und Generalisierungen und vor allem, was die phronetischen Perestroikans und die Interpretivisten übersehen, konkrete, kausale Ursache-Wirkungs-Mechanismen auf dem Programm. Dies vor allem seit den 70er Jahren, nachdem qualitativ-mathematische Methoden eingeführt (Kapitel 3.9) und weiterentwickelt wurden. Von der phänomenalen Welt interessieren sich die Kausalisten nur für data-set observations (DSOs) und causal-process observations (CPOs). Beides braucht man für kausale Inferenzen, die DSOs zur Ermittlung von kausalen Regularitäten auf der Makroebene sowie die CPOs für die Identifizierung von kausalen Prozessen auf der Mikroebene (Brady/Collier 2010 [2004]).

Auch das Projekt einer Soziophysik oder einer sozialen Physik, das im 19. Jahrhundert prominent vertreten und im 20. Jahrhundert in Vergessenheit geriet oder ad acta gelegt wurde, steht wieder auf der Tagesordnung, allerdings noch nicht in der Politikwissenschaft, sondern in der Soziologie (Wagner 2012).

Im Vordergrund der platonisch-galileischen Tradition innerhalb der Politikwissenschaft stehen also empirische Kausalanalysen, die seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Hilfe von quantitativen Werkzeugen (Begriffen, Methoden und methodischen Ansätzen) sowie deduktiven und induktiven Argumentationsweisen erstellt werden. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommen logisch-mathematische Modellanalysen, in der Politikwissenschaft hauptsächlich Rationalwahlmodelle, seit den 70ern qualitativ-mathematische Werkzeuge und seit den 90ern Experimente (in der Politikwissenschaft im Gegensatz zur Soziologie kaum Simulationen) hinzu.

Der methodologische Individualismus, eine weitere grundsätzliche Eigenschaft dieser Tradition, geht auf Thomas Hobbes (1996 [1651]), aber vor allem auf Maximilian Carl Emil Weber (1980 [1922]) und Friedrich August von Hayek (2004 [1943]) zurück und wird in der platonisch-galileischen Tradition einem Holismus vorgezogen (zur Kritik am Holismus sehr einflussreich Popper 1980a [1944], 1980b [1944] sowie 2003 [1957]).

Da auch liberale (Locke 1989 [1690]) und utilitaristische Kategorien (Mill 1998 [1861]) hinzukommen, kann man diese Great Revolution innerhalb der Methodologie bürgerlich-liberal nennen. Susanne Hoeber Rudolph spricht von einem „Lockean liberalism’s universalism“ (Rudolph 2005b). Weil Politikwissenschaftler dieser Tradition bürgerlich-liberale Kategorien auch auf Entwicklungsländer anwenden, diagnostiziert sie einen „Imperialism of Categories“ (Rudolph 2005a).

Liberalismus, Universalismus auf der einen Seite als normative Voraussetzungen und auf der anderen Seite kausaler und empirischer Reduktionismus, methodologischer Individualismus, Modellanalysen als axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Annahmen sind die versteckten Voraussetzungen (hidden assumptions), die in der Regel unreflektiert in empirische Forschungen hineinfließen. Forscher versuchen, wenn sie diese Annahmen nicht ausdrücklich erwähnen und berücksichtigen, mit einer logisch-mathematischen Forschungsmethodologie eine Objektivität vorzugaukeln, die bei näherer Betrachtung nicht vorhanden ist. Es sind, um es mit Jürgen Habermas (1968c) zu formulieren, die erkenntnisleitenden Interessen (Liberalismus, Universalismus), besser gesagt die wissenschaftstheoretischen Annahmen des bürgerlich-liberalen Establishments, die die Objektivität der Ergebnisse konterkarieren können (nicht notwendigerweise beeinflussen müssen, wie Habermas behauptet), sofern diese nicht thematisiert und damit neutralisiert werden (Kapitel 3.1).

B. Fünf Forschungsprogramme innerhalb der platonisch-galileischen Tradition statt fünf „Revolutionen“ innerhalb einer „Great Revolution“

Die Bezeichnung „methodologischer Reduktionismus“ ist deshalb angebracht, weil in der platonisch-galileischen Tradition nur die Methodologie berücksichtigt wird, mit deren Hilfe man unsichtbare Kausalitäten identifizieren kann, andere Methodologien werden ignoriert. Ein methodologisches Erstarren oder Scholastizismus (Mead 2010) innerhalb dieser Tradition kann aber nicht festgestellt werden, im Gegenteil, es sind mehrere methodologische Forschungsprogramme innerhalb des Faches von dieser Tradition etabliert worden, so spricht Goodin von mehreren Revolutionen innerhalb der Politikwissenschaft.

Nach Goodin (2011b [2009]: 13) gab es innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft drei Revolutionen. Die erste Revolution fand am Anfang des 20. Jahrhunderts statt und führte zur Etablierung der Politikwissenschaft als Wissenschaft, dadurch dass eine Orientierung an den Naturwissenschaften erfolgte vor allem durch Einführung des kausalen und empirischen Denkens, von deduktiven sowie induktiven Argumentationsweisen sowie die Trennung zwischen Sein und Sollen. Hinzu kamen die Einführung von professionellen und systematischen Vorgehensweisen sowie die Etablierung des Faches an den amerikanischen Universitäten am Anfang des 20. Jahrhunderts.

In den 50er Jahren erfolgte die zweite, behavioralistische Revolution (behavioral revolution), methodologisch insbesondere mit der Einführung von quantitativen Werkzeugen (quantitativ-mathematische Begriffe sowie ebensolchen Methoden und methodischen Ansätze): „Der Behavioralismus als eine methodenbewußte individualistische Vorgehensweise mit exakten Methoden ist in Amerika zur Sammelbewegung für alle Richtungen geworden, die mit quantitativen Methoden arbeiten“ (von Beyme 2000 [1972]: 111). In diese Periode reichen auch die Vorlieben für den methodologischen Individualismus und die pejorative Ablehnung jedweden Holismus.

Die dritte Revolution, die Rationalwahlrevolution (rational choice revolution), fand schließlich ab den 70er Jahren statt und führte die Arbeit mit logisch-mathematischen Modellen ein. Die Politikwissenschaft nahm Entwicklungen aus den Wirtschaftswissenschaften auf, daher konzentrierte man sich gleich auf ein ganz bestimmtes Modell und zwar auf das Rationalwahlmodell. Die Soziologie arbeitet aber auch mit anderen Modellen (Braun/Saam 2015).

Meiner Meinung nach gehören, wie im 3. Kapitel noch nachgewiesen werden soll, dazu noch zwei weitere „Revolutionen“, besser gesagt methodologische Innovationen, die zur Einführung folgender methodologischer Forschungsprogramme führten: erstens die Einführung von qualitativ-mathematischen Methoden (qualitativ-mathematisches Forschungsprogramm) ab den 70ern Jahren und zweitens von Experi-menten (im Gegensatz zur Soziologie wird in der Politikwissenschaft kaum mit Simulationen gearbeitet) ab den 90er Jahren (experimentelles Forschungsprogramm). Hier zeigt es sich besonders deutlich, dass man besser von Innovationen statt von Revolutionen spricht (Kapitel 3.9).

Keine der angeführten Innovationen wurde überholt, sondern alle oben aufgeführten Innovationen bilden kumulativ die Methodologie der platonisch-galileischen Tradition. Diese fünf methodologischen Forschungsprogramme oder „Revolutionen“ ereigneten sich alle innerhalb einer bürgerlich-liberalen „Great Revolution“ oder der platonisch-galileischen Tradition, deren Grundlage, wie oben kurz beschrieben wurde, vor allem im 17. Jahrhundert gelegt wurde und die in der amerikanischen Politikwissenschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts von den disziplinierten Politikwissenschaftlern, den szientistischen Establishment durchgesetzt wurde (6. Schaubild).

C. Verbreitung des Kausaldenkens innerhalb der Politikwissenschaft: Establishment statt Mainstream

Quantitative Analysen zeigen, dass nicht der Mainstream, d.h. die Mehrheit der Politikwissenschaftler, mit quantitativen Methoden arbeitet, wie dies nicht nur von den Perestroikans behauptet wird, sondern dass seit den 50er Jahren nur eine Minderheit der Politikwissenschaftler diese Verfahren verwenden. Daher kann man berechtigterweise den Begriff „Establishment“ benutzen, so wie dies in dieser Arbeit getan wird. Es sind aber trotzdem weitaus mehr als ein paar Ostküsten-Brahmanen („East Coast Brahmins“, Mr. Perestroika 2005 [2000]: 9), die ein Kausaldenken mittels quantitativ-mathematischer Forschungsmethodologie bevorzugen und laut den Perestroikans auch die American Political Science Association (APSA) dominieren (Monroe 2005): „However monolithic the US discipline may seem from a distance, those working within it know fully well that it is internally highly divers. From a distance, the US discipline may seem to be dominated by some hegemonic practice – ‘behavioralism’ in the previous generation or ‘rational choice’ in the present one. But in fact, those supposedly ‘hegemonic’ practices are actually practiced to any high degree by only perhaps 5 % of the US discipline, even in many top departments (Goodin et al. 2007, 9)“ (Goodin 2011b [2009]: 13).

Die Zahl von lediglich 5 % quantitativ Forschenden, vor allem Behavioralisten und Rationalwahltheoretiker arbeiten fast ausschließlich mit quantitativen oder qualitativ-mathematischen Methoden, in den USA ist sehr überraschend, genauso wie die geringe Anzahl der Artikel, in denen kausales Denken vermutet wird oder nachgewiesen wurde. In der APSR (American Political Science Review) stieg zwar deren Zahl auf ca. 35 % und ist seit den 70er Jahren konstant, lag aber bei allen Artikeln im JSTOR (Journal Storage) in den 90er Jahre noch bei unter 20 % (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010b [2008]: 4, siehe auch Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1006, 1022 und 1025). Wenn man noch berücksichtigt, dass quantitative Forscher ihre Ergebnisse bevorzugt in Form von Artikeln veröffentlichen, qualitativ-interpretative Forscher ihre Ergebnisse eher in Buchform (die Buchpublikationen wurden in dem oben zitierten Beitrag nicht analysiert) publizieren, so sieht man, dass die quantitativ-mathematischen Forschungen noch weit davon entfernt sind, die Mehrheit der politikwissenschaftlichen Publikationen zu stellen. Aufgrund der folgenden Untersuchungen ist es gerechtfertigt und sogar geboten, von „Establishment“ statt vom „Mainstream“ zu sprechen.

Weiterhin wird eine Kluft zwischen kausalen und sprachlich-interpretativen Studien festgestellt, wobei Letztere erst in den 1980er Jahren zunehmen, wohlgemerkt innerhalb der wichtigsten amerikanischen Publikationen: „There is clearly a ‘causal dimension’ which applies to about one-third of the articles and an ‘interpretative’ dimension which applies to roughly 6 percent of the article. Although we expected this two-dimensional structure, we were somewhat surprised to find that the word ‘explanation’ was almost entirely connected with ‘causal or causality’ and with ‘hypothesis’. And we were surprised that the two dimensions were completely distinctive since they are essentially uncorrelated at 0.077. Moreover, in a separate analyses, we found that whereas the increase in ‘causal thinking’ occurred around 1960 or maybe even 1950 in political science (see Figure 48.1), the rise in the use of the term ‘narrative’ and ‘interpretative’ came in 1980“ (Brady/Collier/Box-Steffensmeier 2011 [2009]: 1036).

D. Pluralismus innerhalb der platonisch-galileischen Tradition: Vielfalt der Methoden, aber kein Pluralismus der Methodologien

Vom eigenen Selbstverständnis her sehen sich Politikwissenschaftler innerhalb der platonisch-galileischen Tradition in zweifacher Hinsicht als Anhänger des Pluralismus: Einmal innerhalb der politischen Theorie vertreten sie einen demokratischen Pluralismus und auf der anderen Seite innerhalb der Methodologie, die sich aber bei näherer Betrachtung darin konstituiert, dass verschiedene Methoden und methodische Ansätze zur empirischen Identifizierung von unsichtbaren Kausalitäten angewandt werden und damit einem empirischen und kausalen Reduktionismus verpflichtet sind. Allein die empirische Nachweisbarkeit von Kausalitäten steht im Vordergrund. Deutungs- und Sinnzusammenhänge sowie eine Phänomenologie des Sichtbaren oder der Erscheinungen spielen keine Rolle. Erklärungen von Kausalitäten und nicht Beschreibungen von Sinnzusammenhängen oder Erscheinungen sind das Ziel.

Es handelt sich dabei, wie James Farr zu Recht feststellt, um eine eigene Variante des Pluralismus, es gibt zwar eine Vielzahl von Methoden und Argumentationsweisen: „The behavioral revolution blazed on to the science with its own variant of methodological pluralism, too. […] Behavioral observations, experimentation, statistical methods, game theory, and systems analyses were all ‘in’, without much skepticism that they did not all ‘fit’ together very well and that no political scientist could embrace them all“ (Farr 2015: 416). Den roten Faden bildet aber immer der kausale Reduktionismus, obwohl dies oft nicht ausdrücklich angeführt wird.

Von einem methodologischen Reduktionismus zu sprechen, ist meiner Meinung nach gerechtfertigt, nicht nur wegen des empirischen und kausalen Reduktionismus, sondern auch deshalb, weil nur logisch-mathematische Argumentationsweisen, quantitativ-mathematische sowie qualitativ-mathematische Methoden angewendet werden (Kapitel 3.9). Dies gilt, obwohl die Oxford-Reihe einen Überblick über das gesamte Fach Politikwissenschaft geben will: „The Oxford Handbooks of Political Science is a ten-volume set of reference books offering authoritative and engaging critical overview“ (Goodin 2011a [2009]: ii), so die Eigenwerbung. Mehr noch: Der Generalherausgeber bekennt sich auch zur Vielfalt der politikwissenschaftlichen Forschung (Goodin 2011b [2009]: 32).

Zwar werden auch in diesem Handbuch qualitative Methoden vorgestellt, diese haben aber nur den Namen gemeinsam mit den von den Interpretivisten und Perestroikans verwendeten Methoden. Innerhalb der qualitativen Forschungsmethodologie geht es um die Ermittlung von Sinnzusammenhängen und Deutungen von Symbolen (sense making, meaning making, context of meaning), dies geschieht mit Hilfe von qualitativ-interpretativen Werkzeugen (Begriffen, Methoden und methodischen Ansätzen), wie sie etwa in vielen Handbüchern für qualitative oder interpretative Forschung erörtert werden (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Blatter/Janning/Wagemann 2007, Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006], Bevir/Rhodes 2016a). Bei den insbesondere im englischsprachigen Raum sehr einflussreichen Handbüchern „Designing Social Inquiry. Scientific Inference in Qualitative Research“ (King/Keohane/Verba 1994) oder „Rethinking Social Inquiry. Diverse Tools, Shared Standards“ (Brady/Collier 2010 [2004]) dient die dort vorgestellte qualitative Methodologie allein der Ermittlung von Kausalitäten; da sich diese Forschung an der quantitativen Forschung orientiert, nenne ich sie qualitativ-mathematische Forschung oder Methoden. Interpretivisten sprechen auch von qualitativ-positivistischen Methoden (Schwartz-Shea 2014 [2006]: 143, Fußnote 6). Im Gegensatz dazu gibt es bei den qualitativ-interpretativen Forschern sogar eine teilweise überzogene Abgrenzung zur quantitativ-mathematischen Forschungsmethodologie (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006] und Bevir/Rhodes 2016a, Kapitel 3.2).

Demgegenüber werden die Inhalte, die „undisziplinierte Theoretiker“ generieren, auch in den entsprechenden Handbüchern der Oxforder Reihe ausführlich referiert. Nur die Methodologie, mit denen diese Theoretiker arbeiten, bleibt auf der Strecke. Sie wird leider völlig ignoriert. Im 10. Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) wird nur die logisch-mathematische Forschungsmethodologie ausführlich erörtert. Dies ist meiner Meinung nach das größte Versäumnis dieser Reihe.

E. Das szientistische Narrativ: axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Annahmen der platonisch-galileischen Tradition

Im 3. Schaubild wurde eine Reduktion der Komplexität des szientistischen Narrativs dahingehend unternommen, dass die wichtigsten axiologischen, epistemischen, methodologischen, normativen und ontologischen Annahmen der platonisch-galileischen Tradition angeführt werden, die diese Tradition am Anfang des 21. Jahrhunderts prägen. Dies sind die wichtigsten Annahmen von Wissenschaftlern, die Politikwissenschaft als Sozialwissenschaft betreiben, sich an den Naturwissenschaften orientieren, das szientistische Establishment bilden, eine bürgerlich-liberal-szientistische „Revolution“ in den Sozialwissenschaften durchgeführt haben sowie deren große Errungenschaften völlig zu Recht verteidigen, leider auch im Revolutionsmodus. Auch wenn Szientisten die eigene Position formulieren, fehlen wichtige Voraussetzungen. Anscheinend wird immer angenommen, dass diese Annahmen implizit enthalten sind und von allen gekannt werden. Daher wird das szientistische Narrativ in diesem Schaubild ad fontes zusammengefasst und zwar so, wie ich es aus wichtigen Quellen, vor allem aus Handbüchern erarbeitet habe (Salmon 1989, Salmon 1992, King/Keohane/Verba 1994, Brady/Collier 2010 [2004], Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008], Moses/Knutsen 2012 [2007]) und um Annahmen von Klassikern ergänzt habe (Bacon 1990 [1620], Popper 1984 [1972], Weber 1973d [1917]).

Bei diesem sehr allgemeinen Überblick müssen zwei Einschränkungen mitbedacht werden. Es handelt sich dabei erstens um eine statische Momentaufnahme, weder die Dynamik der Entwicklung ja noch nicht einmal die historische Entwicklung in allen Verästellungen kann dabei dokumentiert werden. Zweitens handelt es sich um idealtypische Annahmen für alle Szientisten. In der Praxis ist es aber so, dass es zu verschiedenen Annahmen unterschiedliche ja teilweise sogar gegensätzliche Meinungen vertreten werden. Auch innerhalb der platonisch-galileischen Tradition gibt es eine Vielzahl von wissenschaftstheoretischen Kontroversen.

Eine gründliche Auseinandersetzung mit diesen Annahmen sowie deren Grenzen und Möglichkeiten wird erst im dritten Kapitel vorgenommen. In diesem Kapitel geht es darum, zuerst einmal einen Überblick über das szientistische Narrativ aufzuzeigen. Ich werde im nächsten Unterabschnitt dann dasselbe Narrativ zurückkommen, allerdings so wie die Phronetiker dies rekonstruieren.


2.3.2 Die phronetischen Perestroikans innerhalb der aristotelischen Tradition: qualitativ-interpretative Forschungsmethodologie und angewandte Klugheit (Applied Phronesis) Seitenanfang

A. Die aristotelische Tradition am Beispiel der phronetischen Perestroikans (Phronetic Political Scientists)

Und nun zu den fröhlichen, aber noch immer undisziplinierten Theoretikern innerhalb der Politikwissenschaft, die das bürgerlich-liberale Establishment kritisieren. Kritik an der platonisch-galileischen Tradition hat es seit dem Entstehen der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert gegeben und zwar unter Rückgriff auf die aristotelische Tradition und mit dem Verweis auf die Geistes- oder Kulturwissenschaften, die sich nach Ansicht dieser Vertreter prinzipiell von den Naturwissenschaften unterscheiden (Dilthey 1922 [1883], Rothacker 1926, Rickert 1910 [1896], Bodammer 1987). In den USA firmieren die Geistes- oder Kulturwissenschaften unter „Humanities“. Sogar der Status als Wissenschaftler wird denjenigen abgesprochen, die hier tätig sind. Die Bezeichnung Politikwissenschaftler (political scientists) wollen diejenigen, die sich in der platonisch-galileischen Tradition bewegen und sich als Teil der Sozialwissenschaften sehen, ausschließlich für sich reservieren, die anderen sind höchstens politische Theoretiker (political theorists). Pejorativ wird in Deutschland von den Szientisten auch die Bezeichnung „Feuilletonist“ verwendet. Während die Interpretivisten im Gegenzug die Szientisten rationalistisch-unsensible „Fliegenbeinzähler“ nennen, die im Geiste der Naturwissenschaften die soziale Realität mit kruden Messmethoden erkunden wollen.

Der methodologische Reduktionismus oder das bürgerliche Establishment ist sowohl methodologisch (kausaler Reduktionismus, quantitativ-metrische Werkzeuge, Rationalwahlmodelle, Experimente) als auch normativ (Bevorzugung des Liberalismus und Utilitarismus) sehr homogen, die Kritiker hingegen sind sehr heterogen sowohl in methodologischer als auch normativer Hinsicht: „[T]he constructivist camp covers much territory, and as a consequence it may house a more heterogeneous group of fellow travellers than the naturalist camp“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 199).

Während ein Überblick über den Stand der Forschung am Beginn des 21. Jahrhunderts der neopositivistischen Methodologie, wie oben geschildert, in dem Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) zusammen-gefasst ist, liegen die Dinge bei der aristotelischen Tradition, die eine pluralistische Methodologie vertritt, aufgrund der Heterogenität der Positionen ganz anders. Heterogen sind sowohl die empirisch-deskriptiven als auch die praktischen Vorgehensweisen sowie die axiologischen und normativen Positionen (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Denzin/Lincoln 1994, Creswell 2013 [1998], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006] und Bevir/Rhodes 2016a). Methodologisch wichtig ist auch der Band „The Argumentative Turn in Policy Analysis and Planning“ von Frank Fischer und John Forester (Fischer/Forester 1993a), die mit anderen Autoren eine argumentative Wende innerhalb der Politikfeldanalyse initiiert hatten. Auch die argumentative Wende gehört quasi zum Inventar einer interpretativen Wissenschaft.

Jahrzehntelang wurden kausale Analysen ausschließlich mit quantitativen Methoden, die auf Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie basieren, durchgeführt. Quantitative Forschung wird auch heute noch vor allem in Europa mit kausalen Analysen verbunden (Schmitz/Schubert 2006a), während Deutungs- und Sinnfragen mit qualitativer Forschung konnotiert werden. Seit den 70er Jahren werden unter dem Label „qualitative Forschung“ vor allem in den USA auch kausale Analysen durchgeführt. Einen Überblick über das, was heute alles unter diesem Label läuft, findet man in dem vierbändigen Kompendium „Qualitative Research in Political Science. Backgrounds, Pathways and Directions in Qualitative Methodology. Volume I“ (Blatter/Haverland/ van Hulst 2016a), „Qualitative Research in Political Science. Causal Regularities, Cross-Case Comparisons, Configurations. Volume II“ (Blatter/Haverland/van Hulst 2016b), „Qualitative Research in Political Science. Mechanism, Temporality and Within-Case Analysis. Volume III“ (Blatter/Haverland/ van Hulst 2016c) und „Qualitative Research in Political Science. Interpretive and Constructivist Approaches. Volume IV“ (Blatter/Haverland/van Hulst 2016d). Dieses vierbändige Kompendium enthält die nach den Herausgebern 62 wichtigsten Artikel oder Kapitel aus weitverbreiteten Methodologiebüchern zu dieser Thematik seit den 70er Jahren.

Der erste Band behandelt die wissenschaftstheoretischen Grundlagen. Der zweite und der dritte Band beschäftigen sich mit kausalen Fallanalysen und betrachten qualitativ-mathematische oder qualitativ-positivistische Verfahren zur Identifizierung von Kausalitäten und kausalen Prozessen auf der Mikroebene. Es handelt sich um Auszüge aus Büchern und Artikel, die zur Einführung eines qualitativ-mathematischen Forschungsprogramms beigetragen haben (Kapitel 3.9) und unter folgendem Untertitel aufgenommen wurden: „The Revolt in the US Alternatives to the Statistical Template“ (Blatter/Haverland/ van Hulst 2016a: 1-101). Der letzte Band erörtert die europäische Tradition interpretativer und konstruktivistischer Forschung: „Building on and Defending European Traditions: From Verstehen to Practices and Interpretation (Blatter/Haverland/ van Hulst 2016a: 103-166).

Zu dieser sehr heterogenen Tradition gehört am Anfang des 21. Jahrhunderts auch die Perestroika-Bewegung (Mr. Perestroika 2005 [2000], Schram 2003, Monroe 2005). Diese steht neben den Szientisten im Fokus meiner Betrachtung, da der Methodenstreit am Beispiel der amerikanischen Situation geschildert werden soll. Weiterhin von Bedeutung ist, dass es sich, wie bei meinem Entwurf einer praktischen Politikwissenschaft (Lauer 1997), um eine methodologische Kritik aus praktischer Perspektive handelt. Auch daher fiel die Wahl innerhalb der Interpretivisten auf die phronetischen Perestroikans.

Im Jahr 2000 wird eine E-Mail an Fachvertreter verschickt, die eine extrem kurze methodologische und organisatorische, dafür aber sehr polemische Kritik am „Mainstream“ formuliert, gemeint war, wie oben gezeigt, das Establishment innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft. Die Mail ist anonym, der/die Verfasser sind bis heute nicht bekannt, unterschrieben von einem „Mr. Perestroika“ (Mr. Perestroika 2005 [2000]). Die entsprechende Perestroika-Programmatik wird dezidiert von Sanford F. Schram in einem Essay „Return to Politics. Perestroika and Postparadigmatic Political Science“ (Schram 2003) formuliert. Darin verweist Schram unter anderem auf einen Band von Bent Flyvbjerg, in dem dieser ja seinerseits schon zu einer Revolution aufgerufen hatte: „Making Social Science Matter: Why Social Inquiry Fails and How It Can Succeed Again“ (Flyvbjerg 2001). Beide setzen sich neben anderen Autoren für eine Revolution hin zu einer „Real Social Science. Applied Phronesis“ ein, so der Titel eines weiteren Bandes, in dem diese Methodologie an Beispielen vorgeführt wird (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a, Schram/Caterino 2006). Damit unterscheidet sich diese Bewegung terminologisch von den Interpretivisten, sie wollen nicht nur eine Wende zu einer deskriptiv-interpretativen Politikwissenschaft, sondern zu einer phronetischen sowie echten (real) Politikwissenschaft oder Sozialwissenschaft, obwohl sie viele wissenschaftstheoretische Annahmen mit den Interpretivisten teilen und auch ausdrücklich Bezug auf die interpretative Forschung nehmen.

Die kreative Nutzung von verschiedenen philosophischen Positionen von Aristoteles bis Foucault wird von Schram wie folgt zusammengefast: „Flyvbjerg’s book is such a breath of fresh air; he creatively uses Aristoteles, Nietzsche, Foucault, Bourdieu, and others to make many of the same points as Toulmin, but in his own distinctive way. He fuses an Aristotelian concern for phronesis with a Marxist concern for praxis, adding a Foucauldian critique of Habermas’s preoccupation with consensus to demonstrate that a phronetic social science that can offer a praxis worth pursuing is one that would work within any contextualised setting to challenge power, especially as it is articulated in discourse. Flyvbjerg’s phronetic social science would be open to using a plurality of research methods to help people challenge power more effectively“ (Schram 2006: 27).

Die Heterogenität der Kritiker ist nicht nur durch die Methodologie, sondern schon aufgrund der Ziele gegeben, die wissenschaftliche Arbeiten erbringen müssen, einmal wie eine empirische Welterkenntnis ermittelt wird (A) und zum Zweiten wie Weltveränderungen zu begründen sind (B).

B. Welterkennung, Weltinterpretation, Weltdeutung, speziell die Erkenntnis der politischen Realität anhand von Spannungspunkten (Tension Points)

Die Gegner der Naturalisten oder Szientisten, egal ob unter der Bezeichnung „Konstruktivisten“ oder „Interpretivisten“, also alle qualitativen Forscher, die sich den Geistes- oder Kulturwissenschaften (Humanities) zugehörig fühlen, definieren sich in Abgrenzung zu den Sozialwissenschaftlern, die sich an den Naturwissenschaften orientieren: „One of the most commonly held family features in the constructivist camp is a deep scepticism of the naturalist approach to social science. This takes aim at the core ontological, epistemological and methodological claims of the naturalist tradition. As this scepticism is broadly shared, residents of the constructivist camp might be construed as a collective Self by virtue of their common opposition to a naturalist Order“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 198).

Während die methodologischen Reduktionisten ausschließlich kausale Relationen zwischen Ereignissen identifizieren wollen, spielen Kausalanalysen bei den Interpretivisten eine eher marginale Rolle. Im Vordergrund stehen in erster Linie Deutungs- und Sinnzusammenhänge (sense making, meaning making, context of meaning) und Strukturen, damit geht es um Bedeutungen und Netzwerke, es geht vor allem um Beschreibungen, um Verstehen und weniger um Erklärungen. Beschreibungen sollen Bedeutungen und Sinnzusammenhänge erfassen. Im Zentrum stehen Textanalysen, wobei Bilder, Fotos, Audios und Videos auch wie Texte behandelt werden. Textanalysen werden vor allem mit rekonstruierenden Verfahren, abduktiven und induktiven Argumentationsweisen sowie qualitativ-interpretativen Werkzeugen (Begriffen, Methoden und methodischen Ansätzen) durchgeführt (Flick/von Kardorff/Steinke 2015 [2000], Creswell 2013 [1998], Yanow/Schwartz-Shea 2014 [2006] und Bevir/Rhodes 2016a).

Daneben gibt es auch Beschreibungen von sichtbaren Phänomenen (Erscheinungen); erst wenn man das Sichtbare, die Ereignisse, beschreiben kann, kann man danach dazu übergehen, Unsichtbares (Kausalität) zu erklären. Von Wright spricht davon, dass man zuerst etwas verstehen muss, bevor man es erklären kann, oder ein Verstehen dem Erklären vorausgeht (von Wright 1974 [1971]). Phänomenologische Beschreibungen und kausale Erklärungen ergänzen sich oder sind komplementär zueinander.

Hinzu kommt, dass innerhalb dieser Tradition nicht nur politische Phänomene, sondern auch der Forscher selbst in den Fokus der Untersuchungen kommt und damit vor allem diesbezügliche erkenntnistheoretische Fragestellungen: „Thus the focus of their inquiry is just as often the inquirer (and her context) as it is the particular object of inquiry - because it is here that the roots of these patterns lie buried“ (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 201).

Viele dieser Fragestellungen der pluralistischen (aristotelischen) Tradition stehen bei den Perestroikans nicht im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Sie wollten, zumindest in den ersten Beiträgen, sich nicht einmal mit der Welterkennung aufhalten, sondern gleich eine revolutionäre Weltveränderung in Gang setzen. Erst im letzten Band (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a) wird nach Spannungspunkten (tension points) gesucht, die es dann zu verändern gilt. Die Erkennung dieser Spannungspunkte wurde damit zum zentralen Ziel empirischer Forschung.

C. Weltveränderung, speziell Veränderung der politischen Realität mittels
angewandter Klugheit (Applied Phronesis)

Die Heterogenität zeigt sich auch in den politischen Inhalten. Die gesamte Breite des politischen Spektrums wird vertreten, insbesondere linke und konservative, aber auch liberale Positionen findet man innerhalb der aristotelischen Tradition. Auch hier gehen, wie bei den Szientisten, oft Methodologie und Politische Philosophie Hand in Hand.

Kritik am methodologischen Reduktionismus kommt einmal von linken Bewegungen, der Frankfurter Schule, weiterhin von Hermeneutikern und Phänomenologen innerhalb der Geistes- oder Kulturwissenschaften, der Sprachphilosophie, amerikanischem Pragmatismus und französischem (Post)Strukturalismus innerhalb der Philosophie und des Perestroika-Bewegung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auch der Caucus for a New Political Science innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts war vor allem neomarxistisch geprägt.

Neben der Vorliebe für die sprachlich-interpretative Forschungsmethodologie eint die aristotelische Tradition der Glaube an den Vorrang der Praxis. Alle heben den Vorrang der Praxis gegenüber der Theorie hervor. Der platonisch-galileischen Tradition werden, wie ich zeigen werde, teilweise völlig zu Unrecht mangelnde Praxisfähigkeit und nutzloses Theoretisieren vorgeworfen. Die Perestroikans weisen auf dieses angebliche Manko schon in den Titeln ihrer Werke hin: „Making Social Science Matter“ (Flyvbjerg 2001), „Return to Politics“ (Schram 2005), „Real Social Science. Applied Phronesis“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).

Kritisiert wird nicht nur die quantitative Methodologie, sondern darüber hinaus auch die ideologisch-normativen sowie die axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Grundpositionen, die das bürgerlich-liberale Establishment vertritt. John Gunnell fasst die Position der Perestroikans wie folgt zusammen: „Although the critics were philosophically and ideologically diverse, they coalesced around their mutual opposition to the basic values embedded in American political science such as liberalism. individualism, interest-group pluralism, scientism and unity of science, the logical disjunction between fact and value, and pragmatic relativism, which were all, in various respects and degrees, elements of what had become a general vision of historical progress in both politics and political inquiry“ (Gunnell 2015a: 410-411). Auch hier werden nur die wichtigsten Differenzen aufgeführt und diese lediglich in einer sehr reduzierten Form. Damit die ganze Bandbreite der Differenzen sowie die Missverständnisse ausgeräumt werden, werde ich beide Positionen nochmals detailliert im dritten Kapitel erläutern.

D. Die Sicht der Perestroikans auf die Szientisten der platonisch-galileischen
Tradition

Die methodologischen Bestrebungen der platonisch-galileischen Tradition werden von den Perestroikans sehr verkürzt und missverständlich zusammengefasst und wie folgt wiedergegeben. Wissen wird in einem kumulativen Prozess generiert, wobei Wissen aus Erklärungen, Prognosen und kontextfreien Theorien besteht: „In this interpretation advances in natural science research and technological progress are founded upon a relatively cumulative production of knowledge, the key concepts being explanation and prediction based on context-independent theories“ (Flyvbjerg 2001: 26).

Zu den genannten Charakteristika kommen noch das Streben nach Wahrheit und Objektivität, universelle Generalisierungen und falsifizierbare kausale Hypothesen, wobei das Ganze mit Hilfe von Large-N-Studien ermittelt wird. Das so generierte kausale Wissen wird dann der Gesellschaft für praktische Veränderungen zur Verfügung gestellt: „From the vantage point of many Perestroikans, the dominant paradigm in the field operates to the following hierarchy of assumptions: (1) political science exists to help promote understanding of the truth about politics; (2) political science research contributes to this quest by adding to the accumulation of an expanding base of objective knowledge about politics; (3) the growth of this knowledge base is contingent upon building of theory that offers explanations of politics; (4) the building of theory is depending on universal generalisations regarding the behavior of political actors; (5) the development of a growing body of generalisations occurs by testing falsifiable, causal hypotheses that demonstrate their success in making predictions; (6) the accumulation of a growing body of predictions about political behavior comes from the study of variables in samples involving large numbers of cases; (7) this growing body of objective, causal knowledge can be put in service of society, particularly by influencing public policy makers and the stewards of the state“ (Schram 2003: 836, Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a).

Diese sicherlich idealtypisch intendierten Zusammenfassungen der platonisch-galileischen Tradition von Flyvbjerg, Landman und Schram (ähnliche Ansichten findet man auch bei vielen anderen Autoren) bieten keine adäquate Reduktion von Komplexität. Im Gegenteil tragen sie zu den vielen Missverständnissen erheblich bei, weil zentrale Aspekte der naturalistischen oder szientistischen Methodologie überhaupt nicht in den Blickpunkt kommen, und wenn, dann sind sie oft einfach falsch oder überholt. Nicht zuletzt daher sollen die methodologischen Differenzen im nächsten Kapitel auf zehn Ebenen erarbeitet werden. Im dritten Schaubild habe ich das liberal-szientistische Narrativ und dessen axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Annahmen zusammengestellt (3. Schaubild).

Es handelt sich dabei um einen positivistischen oder naturalistischen Pappkameraden, ähnliche Narrative werden auch von anderen Interpretivisten erst ausgebreitet, damit man die Unangemessenheit der positivistischen Tradition aufzeigt und eine Wende zu einem interpretativen Paradigma begründet (Bevir/Blakely 2016, Yanow/Schwartz-Shea 2014b [2006]) oder das naturalistische dem konstruktivistischen Paradigma gegenüberstellt (Moses/Knutsen 2012 [2007]).

Im Folgenden werde ich kurz (Details in den Kapiteln 3.2 und 3.3) auf Annahmen eingehen, die die szientistische Position verzerren und eine prinzipielle Differenz vorgaukeln, die es so nicht gibt.

Naturalisten würden sich von Konstruktivisten (Moses/Knutsen 2012 [2007]) dadurch unterscheiden, dass erstere von der ontologischen Voraussetzung ausgehen, die externe Realität gegeben sei und letztere, dass sie von Akteuren konstruiert sei. Die Behavioralisten hatten in der Tat die Akteure aus ihren Analysen verbannt, die Rational-Choice-Revolution hat diese aber wieder eingeführt: „‚Bringing men back‘ war ein Verdienst des Rational Choice-Ansatzes“ (von Beyme 2000 [1972]: 145).

Zu den epistemischen Annahmen der Szientisten würde die Suche nach universellen Wahrheiten zählen. Der hypothetische Charakter der Wahrheit sowie deren Wenn-dann-Struktur gehören zu den impliziten Annahmen, die selten ausdrücklich behandelt werden. Die Suche nach „der“ Wahrheit ist eine Vorstellung, die spätestens seit dem Kritischen Rationalismus kaum mehr vertreten wird. Popper spricht sogar in dem Titel eines erkenntnistheoretischen Buches von Vermutungen (conjectures), verzichtet aber nicht auf das Ideal der Wahrheit und spricht von einer Annäherung an die Wahrheit (Popper 1972, Kapitel 3.2).

Auch die Korrespondenztheorie oder die Bildtheorie der Wahrheit (Wittgenstein 1984b [1922]) wird, nicht zuletzt aufgrund der Theoriegeladenheit der Beobachtung und der Unmöglichkeit, die Position eines unabhängigen Beobachters einzunehmen, von vielen Szientisten verworfen. Die Kohärenztheorie der Wahrheit dürfte in beiden Traditionen mittlerweile die meisten Unterstützer erhalten (Skirbekk 1977, Gloy 2004), zumal mittlerweile auch Habermas, einer der wichtigsten Vertreter der Konsenstheorie der Wahrheit, inzwischen zur Kohärenztheorie steht (Habermas 2009b [1999]: 400).

Flyvbjerg macht den Szientisten den Vorwurf, dass sie sich an einer überkommenen Vorstellung von Naturwissenschaft orientieren, eine Vorstellung, die im 19. Jahrhundert steckengeblieben sei. Analog kann man ihm, den Perestroikans und vielen Interpretivisten den Vorwurf machen, dass sie die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen der platonisch-galileischen Tradition seit dem logischen Empirismus und der Philosophie der idealen Sprache nicht mehr mitbekommen haben. Dies zeigt sich auch an der Bezeichnung „Positivismus“, die ich nicht benutze, weil die Szientisten weder nach universellen Wahrheiten suchen noch alle die Korrespondenztheorie der Wahrheit vertreten. Insbesondere die Wissenschaftler, die mit (Rationalwahl-)Modellen arbeiten, verwenden vor allem die Kohärenztheorie der Wahrheit, auch wenn dies kaum ausdrücklich festgehalten wird.

Auch konstruktivistische Positionen dürften Wissenschaftlern, die Modelldenken bevorzugen, nicht fremd sein. Popper hat sich schon im Positivismusstreit völlig zu Recht beschwert, dass sein Kritischer Rationalismus mit dem logischen Positivismus verwechselt wurde. Dies ist heute leider auch noch feststellbar. Einen Überblick über das szientistische Narrativ findet man oben (3. Schaubild).

E. Das phronetische Narrativ der Perestroikans

Die wichtigsten ontologischen Voraussetzungen der Phronetiker lauten, dass die Realität konstruiert sei und es sogenannte Spannungspunkte (tension points) gibt. Die Erkundung folgender epistemischer Ziele wird gefordert: Die Beschreibung von Phänomenen sowie der Gebrauch oder die Benennung (naming) von Symbolen (Texte, Bilder, Audios und Videos) werden angestrebt. Wichtig sind weiterhin die Rahmung (framing) und die Beschreibung von Sprachregeln, Interpretationsschemata, Deutungsmustern, Lebensformen und vor allem Machtstrukturen. Es geht sowohl um lokales Wissen als auch um die Kontextbezogenheit des Wissens.

Das quantitativ-qualitative Schisma wird abgelehnt, d.h., sowohl quantitative als auch qualitative Werkzeuge können verwendet werden. Weiterhin wird in diesem Zusammenhang eine Methodenvielfalt propagiert.

Der Schwerpunkt der wissenschaftstheoretischen Themen liegt bei den phronetischen Perestroikans eindeutig auf der Axiologie. Problemstellungen mit lebenspraktischer Relevanz (practical significance) sowie eine Problemorientierung der Forschung generell werden empfohlen, um eine bessere Relevanz und Praxisbezogenheit zu erreichen. Dies alles kann man mit einer angewandten Klugheit (applied phronesis) erreichen. Damit sollen ungerechte Machtverhältnisse verändert werden.

Die Phronetiker bauen künstlich vier Gegensätze zu den Szientisten auf. So wird erstens behauptet, dass die Szientisten nach universellen Wahrheiten streben. Dies stimmt nicht, weil der hypothetische Charakter des Wissens auch bei den Szientisten außer Frage steht (Kapitel 3.2).

Die Interpretivisten genauso wie die Phronetiker heben zweitens die örtliche und zeitliche Kontextbezogenheit des Wissens hervor. Die Szientisten betonen die Wenn-dann-Tiefenstruktur des Wissens, im Wenn-Teil können nicht nur örtliche und zeitliche Kontexte, sondern auch eine unbegrenzte Zahl von Bedingungen angeführt werden. Die Ceteris-paribus-Klausel gilt implizit, sie muss also für jede wissenschaftliche Behauptung berücksichtigt werden (Kapitel 3.1.3).

Die nächsten beiden Gegensätze bestehen nur teilweise. Während die Perestroikans drittens einen radikalen Konstruktivismus vertreten, kann die externe Realität für die Szientisten sowohl sozial konstruiert als auch Natur gegeben sein.

Viertens sind auch vielen Szientisten längst die Probleme der Bildtheorie oder Korrespondenztheorie der Wahrheit bekannt. Wissenschaftler, die bevorzugt mit Modellen arbeiten (Rationalwahltheoretiker), benutzen genauso wie die Interpretivisten die Kohärenztheorie der Wahrheit (Kapitel 3.3).

Einen Überblick über das phronetische Narrativ und dessen axiologische, epistemische, methodologische und ontologische Annahmen findet man oben im vierten Schaubild (4. Schaubild).

Hier geht es weiter zum 3. Kapitel:
Methodologische Differenzen wissenschaftlicher Methodologie
auf zehn vertikalen und drei horizontalen Ebenen
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Quelle: lauer.biz/methodenstreit/index.htm
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