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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


3.2 Wissensebene: allgemeine Bedingungen oder allgemeine Kriterien des Wissens

   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
Schaubilder
Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

Wissenschaftler haben den Anspruch, Wissen zu generieren. Seit der Antike stehen innerhalb der Wissenschaftsphilosophie die Fragen, wie man Wissen begründen und wie man Wissen von Meinungen oder Pseudowissen abgrenzen kann, im Zentrum des Interesses. Kurz gesagt geht es darum, eine Demarkationslinie zwischen Wissen, das wissenschaftlichen Kriterien genügt, und anderen Erkenntnisformen oder anders ausgedrückt Bedingungen und Kriterien zu formulieren, mit deren Hilfe man zwischen rationalem Wissen und anderen Erkenntnisformen unterscheiden kann. Popper spricht in diesem Zusammenhang von einem Fundamentalproblem der Wissenschaft. Szientisten sprechen oft von Pseudowissen.

Die Klassifizierung von Erkenntnissen, die keine wissenschaftliche Autorität haben, von vornherein als „Pseudowissen“ oder „Nicht-Wissen“ ist nicht legitim. Genauer wäre von Wissen, das aufgrund von wissenschaftlicher Autorität generiert wurde, und sonst wie legitimiertem Wissen zu sprechen. Dies ist aber sprachlich sehr umständlich und dürfte auch zu Missverständnissen führen, daher werde ich einige Male von Pseudowissen sprechen und damit das Wissen meinen, das nicht mit wissenschaftlicher Methodologie begründet werden kann. Viertens werde ich dann in diesem Unterkapitel die Kritik der Perestroikans an dem Wissensverständnis der Szientisten erläutern.

Zuerst werde ich mich mit der Position der Szientisten auseinandersetzen. Diese wollen in der Regel mit Hilfe von (Rationalitäts)Kriterien die oben genannte Demarkationslinie begründen (3.2.1). Die Perestroikans vertreten in dieser Frage eine skeptische Haltung, sie bestreiten, dass man überhaupt solch eine Linie ziehen kann. Während die Szientisten auch mit Hilfe von Bedingungen oder Kriterien wissenschaftliche Autorität für die eigenen Ergebnisse begründen, weisen die Perestroikans gerne auf die Problemorientierung eigener Forschung hin.

Zweitens werde ich zeigen, dass die Suche nach Kriterien keine moderne Beschäftigung ist, sondern antike Vorläufer hat (3.2.2). Auf dieser methodologischen Ebene findet man nämlich einen wichtigen Grund, warum die Rede von einer platonisch-galileischen Tradition sinnvoll ist: Es ist die Suche nach einer Demarkationslinie zwischen Wissen und Meinung, die bei Platon mit der Erörterung von Bedingungen des Wissens beginnt. Der zweite wesentliche Grund liegt in der Bedeutung, die dem Modelldenken mittlerweile zukommt, und ebenfalls auf Platon zurückgeführt werden kann, dies sei hier nebenbei angemerkt (Kapitel 3.10).

Drittens soll das praktische Wissen genauer untersucht werden (3.2.3), daher steht hier die praktische Methodologie innerhalb der Politischen Philosophie und der Politikwissenschaft im Fokus.

Danach werde ich eine von mir rekonstruierte und weiterentwickelte Wissenskonzeption erläutern (3.2.4), die zwischen einem empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) Wissen auf der einen und einem praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Wissen auf der anderen Seite unterscheidet, eine Unterscheidung zwischen Wissen und Können sowie eine zwischen Theorie und Praxis vornimmt (Lauer 2013).

Die methodischen Auswirkungen dieser Wissenskonzeption auf die wissenschaftlichen Operationen und wissenschaftliche Diskurse soll dann am Beispiel der Politikwissenschaft dargelegt werden (3.2.5). Abschließend wird die Kritik der Perestroikans an der szientistischen Wissenskonzeption erläutert (3.2.6).


3.2.1 Die szientistische Sicht: Bedingungen oder Kriterien des Wissens Seitenanfang

Empirie und Rationalität sind die übergeordneten Prinzipien, denen wissenschaftliche Forschung genügen muss, da wissenschaftliche Theorien aus einem logisch-mathematischen Formalismus und einer empirischen Interpretation der (politischen) Realität bestehen. Wissenschaft erfordert sowohl eine rationale Formalisierung und eine ebensolche Vorgehensweise als auch eine empirische Verankerung. Nicht nur bei der Erkenntnis des Seins, sondern auch bei der Legitimierung eines Sollens sind diese Prinzipien grundlegend.

Kriterien haben den Sinn zu bewerten, inwieweit beides gelungen ist. Mit Hilfe von Rationalitätspostulaten werden allgemeine Kriterien wissenschaftlicher Forschung formuliert, damit methodologische (argumentative, logische, methodische und sprachliche) Präzision gewährleistet werden kann.

Aristoteles  hat verschiedene wissenschaftliche Werkzeuge nach Werkzeugtypen in seinem Organon (Werkzeug) klassifiziert, mit deren Hilfe man Wissen generieren sowie zwischen Wissen und Pseudowissen unterscheiden kann:

  • A. Erster Teil: Die Kategorien (griechisch peri ton kategorion, lateinisch categoriae) – Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen.
  • B. Zweiter Teil: Lehre vom Satz (peri hermeneias, de interpretatione) – Hermeneutika oder Lehre vom Urtheil.
  • C. Dritter Teil: Lehre vom Schluss (Erste Analytik, analytika protera, analytica
    priora
    ) – Erste Analytiken oder Lehre vom Schluss.
  • D. Vierter Teil: Lehre vom Beweis (Zweite Analytik, analytika hystera, analytica posteriora) – Zweite Analytiken oder Lehre vom Erkennen.
  • E. Fünfter Teil: Topik (topoi, topica) – Die Topik.
  • F. Sechster Teil: Sophistische Widerlegungen (peri ton sophistikon elenchon, de
    sophisticis elenchis
    ) – Ueber die sophistischen Widerlegungen.
  • Quellen: Aristoteles 1920 [4. Jahrhundert v. Chr.]. Im Internet auf „Meine Bibliothek - zeno.org“ (Permalink: http://www.zeno.org/nid/20011779470) gibt es eine andere Übersetzung, der Übersetzer wird nicht genannt, vgl. auch Aristoteles: Organon, Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009145680-

Der Verifikationismus, der innerhalb des logischen Empirismus entwickelt wurde (Wittgenstein 1984b [1922], Carnap 1998 [1928], Reichenbach 1983 [1938], Stegmüller 1989), strebt eine genaue Verifikation aller Erkenntnisse an. Er geht mit der Bild- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit einher (Kapitel 3.3). Weiterhin setzt er einen unabhängigen Beobachter voraus, der die Welt, so wie sie ist, und unser Wissen darüber eins zu eins vergleichen kann. Diese Position wurde zu Recht von den Konstruktivisten unter Berufung auf Immanuel Kant kritisiert. Auch die meisten Naturalisten haben diese Position längst abgelehnt und vertreten heute diesbezüglich eine Position, wie sie insbesondere von Karl Raimund Popper erarbeitet wurde. Die Perestroikans genauso wie einige Konstruktivisten verabschieden mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit und dem Konzept eines unabhängigen Beobachters gleich auch das Ideal der Wahrheit, vertreten also gleich eine skeptische, antiveritative Haltung (Kapitel 3.3). Weiterhin lehnen sie auch die Objektivität als sinnvolles Kriterium ab. Beides ist nicht gerechtfertigt, wie ich in diesem und dem nächsten Unterkapitel zeigen werde.

Das wohl bekannteste und in der Politikwissenschaft unter den Szientisten verbreiteste Abgrenzungskriterium, mit dessen Hilfe man zwischen Wissen und Pseudowissen oder Wissenschaft und Pseudowissenschaft unterscheiden kann, ist die von Karl Raimund Popper vorgeschlagene Falsifizierbarkeit. Dieses Abgrenzungskriterium soll empirische Wissenschaft sowie Aussagen der Logik, der Mathematik auf der einen und Metaphysik, Mythen oder Pseudowissenschaft auf der anderen Seite trennen: „Wir müssen zwischen Falsifizierbarkeit und Falsifikation deutlich unterscheiden. Die Falsifizierbarkeit führen wir lediglich als Kriterium des empirischen Charakters von Satzsystemen ein; wann ein System als falsifiziert anzusehen ist, muß durch eigene Regeln bestimmt werden. Wir nennen eine Theorie nur dann falsifiziert, wenn wir Basissätze anerkannt haben, die ihr widersprechen (vgl. 11, Regel 2). Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend, […] widersprechen der Theorie nur einzelne Basissätze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert betrachten. Das tun wir vielmehr erst dann [hinreichende Bedingung], wenn ein die Theorie widerlegender Effekt aufgefunden wird; anders ausgedrückt: wenn eine (diesen Effekt beschreibende) empirische Hypothese von niedriger Allgemeinheitsstufe, die der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich bewährt. Eine solche Hypothese nennen wir falsifizierende Hypothese“ (Popper 2005 [1934]: 62, vgl. insbesondere IV. Kapitel Falsifizierbarkeit, 54-68).

Ein anderes Abgrenzungskriterium hat Paul Lorenzen vorgeschlagen: „Es läßt sich das Prinzip angeben, nach dem die ‚kritische Prüfung‘ der Rekonstruktionsschritte zu erfolgen hat: alle Vorschläge sind ‚ohne Ansehen der Person‘ zu prüfen. Die subjektiven Interessen sind bei der Prüfung – nach bestem Können – auszuschließen. Dieses negative Prinzip der Kritik, daß die Subjektivität ‚überwunden‘, transzendiert werden soll, dieses Prinzip der ‚Transsubjektivität‘ ist das einzige, das ich für die Unterscheidung von ‚vernünftig‘ und ‚unvernünftig‘ zugrunde lege“ (Lorenzen 1978: 157).

Holm Tetens spricht in seiner Einführung in die Wissenschaftstheorie nicht von Kriterien, sondern von Idealen, die innerhalb der Wissenschaft angestrebt werden: „In einem anspruchsvollen Sinne ist eine Idee ein Ideal, das Dinge in der Welt besser oder schlechter erfüllen und an dem man sie misst oder bewertet. Das gilt allemal für die Idee der Wissenschaft“ (Tetens 2013: 17). Das Ideal der Wissenschaft kann Tetens zufolge unterteilt werden oder anders ausgedrückt man kann folgende Kriterien zur Bewertung von wissenschaftlichen Ergebnissen aufstellen:

  • A. Ideal der Wahrheit
  • B. Ideal der Begründung
  • C. Ideal der Erklärung und des Verstehens
  • D. Ideal der Intersubjektivität
  • E. Ideal der Selbstreflexion

Folgende allgemeinen Kriterien werden von den Szientisten und von allen Wissenschaftlern anerkannt, die eine logisch-mathematische Forschungsmethodologie bevorzugen:/p>

A. Intersubjektivität (Transsubjektivität):: Wissenschaft sucht nach Wegen, auf denen sie Begründungen findet, die jeder vernünftige und sachkundige Mensch nachvollziehen kann.

B. Objektivität: Subjektive Wünsche oder Vorurteile dürfen nicht in die Arbeit einfließen, sondern nur intersubjektive Gründe.

C. Reliabilität: (Verlässlichkeit, auditability): Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen sollten unter den gleichen Bedingungen reproduzierbar sein.

D. Validität: Ein wissenschaftliches Ergebnis muss ein argumentatives Gewicht besitzen und methodisch-logische Qualitätskriterien erfüllen. Argumentative, logische, methodische und sprachliche Präzision sind erforderlich (Druwe 1995: 21-24). Dabei wird zwischen interner Validität (Glaubwürdigkeit und Authentizität) und externer Validität (Transferierbarkeit oder Passung) unterschieden.

Auch die Autoren des Handbuches „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/ Brady/Collier 2010a [2008]), d.h. die szientistischen Politikwissenschaftler oder das szientistische Establishment, stellen diese Kriterien nicht in Frage, sondern versuchen diesen zu entsprechen, indem sie nach Wegen suchen, diese mit Hilfe von wissenschaftlichen Werkzeugen zu erfüllen.

Die Perestroikans stellen sich in eine lange Tradition von Wissenschaftlern, die qualitative oder problemorientierte Forschung betreiben und die oben genannten Kriterien, insbesondere die Objektivität wissenschaftlicher Ergebnisse bezweifeln, ja sogar die Möglichkeit eines objektiven Vorgehens in Frage stellen.

Ines Steinke, die sich der qualitativen und nicht der quantitativen Forschung verbunden fühlt, weist in ihrem Beitrag über „Gütekriterien qualitativer Forschung“ (Steinke 2015 [2000]) zu Recht darauf hin, dass eine totale Ablehnung von Kriterien, wie sie insbesondere in der Postmoderne üblich ist, nicht überzeugt und der qualitativen Forschung einen Bärendienst erweist. „Auch die Tendenz, qualitative Forschung zunehmend als Kunstlehre (vgl. Denzin 1994) oder ‚Forschungsstil‘ (Strauss 1987, 1985) und weniger als formalisierbare Vorgehensweise aufzufassen, entbindet nicht von der Anwendung von Bewertungskriterien“ (Steinke 2015 [2000]: 322).

Wenn man eine Kunstlehre zur Erkundung und Verbalisierung von subjektiven Erfahrungen konstruieren will, dann müsste man sich auch mit dem Privatsprachenargument (Kapitel 3.1.3, H) auseinandersetzen. Man müsste zeigen, wie eine subjektive Methodologie oder subjektive Kunstlehre konkret funktioniert und sich mit den Einwänden gegen eine Privatsprache auseinandersetzen. Bisher nutzen auch Interpretivisten und Perestroikans zur Verbalisierung von subjektiven Äußerungen ein intersubjektives Werkzeug, nämlich die Sprache.

Steinke widerspricht, wie die meisten Interpretivisten (Schwartz-Shea 2014 [2006]), der Tendenz, „[q]uantitative Kriterien für qualitative Forschung“ einzuführen, so wie dies etwa von Forschern getan wird, die sich für die Entwicklung von qualitativ-mathematischen Methoden einsetzen (King/Keohane/Verba 1994 und Brady/Collier 2010 [2004], Kapitel 3.9). Sie fordert aber „Kernkriterien zur Bewertung von qualitativer Forschung. […] Dabei geht es weniger darum, einzelne Kriterien zu formulieren, wie dies häufig der Fall ist. Vielmehr ist ein System von Kriterien, das möglichst viele Aspekte der Bewertung qualitativer Forschung abdeckt, notwendig. Dieses muss auch Wege der Operationalisierung der Kriterien beinhalten, die deren konkrete Prüfung ermöglichen“ (Steinke 2015 [2000]: 322-323).

Steinke lehnt für die qualitative Forschung die Kriterien „Objektivität“, „Reliabilität“ und „Validität“ ab, da diese für quantitative Forschung erstellt wurden. Auch unterscheidet sie zwischen „intersubjektiver Überprüfbarkeit“ und „intersubjektiver Nachvollziehbarkeit“, Ersteres sei für die quantitative, Zweites für die qualitative Forschung relevant (Steinke 2015 [2000]: 323 und 324). Dass man bei der Verwendung von logisch-mathematischen Werkzeugen von Überprüfung spricht und bei sprachlich-interpretativen von Nachvollziehbarkeit, ist meiner Meinung nach nicht entscheidend. Wichtiger ist hier das Adjektiv und damit geht es um Intersubjektivität, die in beiden Methodologien erforderlich ist. Auch bei interpretativer Forschung sind darüber hinaus neben der Intersubjektivität auch die weiteren oben genannten Kriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) wichtig, sofern diese so allgemein, wie oben dargestellt, aufgefasst werden.

Es ist sicherlich richtig, dass je nach Gegenstand der Forschung und verwendeter Forschungsmethodologie auch spezielle Kriterien benötigt werden. Meiner Meinung nach ist es aber sinnvoll allgemeine Kriterien oder nach Steinke „Kernkriterien“ (Steinke 2015 [2000]) für alle Forschungsmethodologien zu formulieren. Welche speziellen Kriterien für die konkrete Operationalisierung innerhalb der quantitativen oder qualitativen Forschung notwendig sind, sollte davon unabhängig erörtert werden.

Die oben genannten vier Kriterien (Intersubjektivität (Transsubjektivität), Objektivität, Reliabilität und Validität) gelten daher meiner Ansicht nach sowohl für die mathematische (quantitative und qualitativ-mathematische) als auch für die sprachliche (qualitative-interpretative) Forschungsmethodologie. Nicht in dem Sinne, dass man aus diesen Postulaten irgendein individuelles Kriterium ableiten oder eine Einzelaussage begründen kann. Es sind Ideale, an denen sich sowohl quantitative als auch qualitative Forscher orientieren können.

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine völlige Ablehnung von Kriterien nicht überzeugt, wichtig ist vielmehr, dass das existierende „System von Kriterien“ (Steinke 2015 [2000]) weiterentwickelt werden sollte. Insbesondere die speziellen Kriterien bedürfen einer ständigen Verbesserung, sowohl innerhalb der logisch-mathematischen als auch der sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie, während die allgemeinen Kriterien von Veränderungen oder Ergänzungen weniger betroffen sein werden.

Der Unterschied zwischen Wissen (Wissenschaft), z.B. wissenschaftlicher Politikberatung, auf der einen und Pseudowissen (Pseudowissenschaft), z.B. subjektiven Ideologien, Utopien, Stammtischparolen oder Wünschen, auf der anderen Seite kann daher nicht mit einem Abgrenzungskriterium, wie dies Popper oder Lorenzen behaupten, herausgearbeitet werden. Auch die vier oben angeführten allgemeinen Kriterien oder Kernkriterien reichen alleine nicht aus. Für eine Evaluation oder eine Rechtfertigung von Wissen bedarf es nach meiner Auffassung sowohl allgemeiner als auch spezieller Kriterien auf zehn methodologischen Ebenen, dies wurde an anderer Stelle detaillierter ausgearbeitet (Lauer 2013, 1. Schaubild). Daher bilden in dieser Arbeit die zehn vertikalen und drei horizontalen Ebenen die systematische Grundlegung, nach dem Wissen methodologisch evaluiert wird (2. Schaubild).


3.2.2 Allgemeine und spezielle Bedingungen des Wissens Seitenanfang

A. Allgemeine Bedingungen des Wissens

Die Wissensphilosophie ist einer der wichtigsten Bereiche der Philosophie und hat eine lange Tradition. Im Theaitetos stellt Platon drei verschiedene Konzepte des Wissens zur Diskussion, ohne dabei eine definitive Antwort zu finden. In Platons Dialogen werden an einigen Stellen (Platon 1983d [4. Jahrhundert vor Christus]: 169-172 [Theaitetos: 200d-201e], Platon 1983b [4. Jahrhundert vor Christus]: 38-40 [Menon: 97a-99a], siehe Hintikka 1974 und Wieland 1999b [1982]) zwei allgemeine Bedingungen des Wissens (Rechtfertigung und Wahrheit) formuliert, die auch heute noch in jeder wissenschaftlichen Definition von Wissen oder in modernen Theorien des Wissens nicht fehlen. Hingegen ist umstritten, mit Hilfe welcher spezifischer Bedingungen Wahrheit und Rechtfertigung nachgewiesen werden können.

„Dies [gemeint ist Menon 97e ff., Platon 1983b [4. Jahrhundert vor Christus]] ist die klassische Stelle für alle, die bei Platon das Wissen als eine durch bestimmte Merkmale qualifizierte Meinung verstehen und es damit im strikt propositionalen Sinne deuten. Doch Sokrates will sich auch im Zusammenhang dieser Erörterung für eine solche Art der Abgrenzung zwischen Wissen und Meinung keineswegs stark machen. Der Gewißheitsgrad, den er für diese Abgrenzung selbst in Anspruch nimmt, ist nicht der des Wissens, sondern der der Vermutung. Stark machen will er sich aber dafür, daß Wissen etwas anderes ist als richtige Meinung. […] In diesem Dialog [gemeint ist Theaitetos, Platon 1983d [4. Jahrhundert vor Christus]] wird die kategoriale Differenz zwischen Wissen und Meinung besonders stark betont. In einem Durchgang wird der Versuch, Wissen als Wahrnehmung zu deuten, zurückgewiesen. Ein zweiter Durchgang versucht, Wissen als wahre Meinung zu deuten. Auch dieser Ansatz kann einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Ein dritter Durchgang will das Wissen als mit Begründung versehene richtige Meinung verstehen. Sokrates zeigt indessen, daß auch diese Deutung unhaltbar ist. Durch Qualifikation oder Spezifikation der Meinung gelangt man offenbar niemals zum gesuchten Wissen. Das ist eine der Lehren, die man aus dem ‚Theaitetos‘ ziehen kann, auch wenn der Dialog diese Lehre nicht in dieser Formulierung selbst vorträgt“ (Wieland 1999b [1982]: 306).

Edmund Gettier (1987 [1963]) hat 1963 in einem Aufsatz von lediglich zwei Seiten gezeigt, dass Wahrheit und Rechtfertigung allein nicht ausreichen. Er formuliert zwei Einwände, denen zufolge könnte eine Meinung erstens auch durch Zufall oder zweitens gar aufgrund von falschen Voraussetzungen wahr sein. Damit reichen Wahrheit und Rechtfertigung nicht, um Wissen zu begründen. Damit, in der Literatur auch unter Gettier-Problem bekannt, hat er eine Flut an Publikationen angestoßen, die heute nur noch von Spezialisten überblickt werden können. Ich konzentriere mich auf wichtige Werke (Lehrer 1990, Enskat 2005, Kornwachs 2012), um kurz die Zielsetzung und Vorgehensweise darzustellen, wenn es darum geht, mit Hilfe von allgemeinen Bedingungen Wissen zu begründen.

Keith Lehrer (1990) kommt in einer „Final Analysis of Knowledge“ zu folgendem Ergebnis, oder ihm zufolge muss Wissen folgende Bedingungen erfüllen:

„S knows that p if and only if
(i) it is true that p,
(ii) S accepts that p,
(iii) S is completely justified in accepting that p, and
(iv) S is completely justified in accepting that p in some way that does not depend on any false statement“ (Lehrer 1990: 18. Letzte Bedingung zur Vermeidung des Gettier-Problems, Gettier 1987 [1963]).

Lehrer (1990) liefert nur im ersten Kapitel eine Analyse des Wissens (The Analysis of Knowledge, Lehrer 1990: 1-19) und damit der zweiten, dritten und vierten Bedingung. Die anderen acht Kapitel widmet er der Analyse von Wahrheit und Wahrheitstheorien und formuliert eine Kohärenztheorie der Wahrheit und setzt sich damit in diesen acht Kapiteln mit seiner ersten Bedingung auseinander.

Sowohl bei Keith Lehrer als auch bei Rainer Enskat steht das erkennende Subjekt im Zentrum der Wissenstheorie. Enskat (2005) formuliert folgende Bedingungen für ein authentisches Wissen:

„Die Person N.N. weiß, daß-p, dann und nur dann, wenn:
1.) N.N. weiß, wie man in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p, oder ob-nicht-p;
2.) N.N. hat so, wie man in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p, oder, ob-nicht-p, oft genug selbst, also in authentischer Weise, untersucht, ob-p, oder ob-nicht-p;
3.) N.N. hat oft genug selbst fehlerlos untersucht, ob-p, oder ob-nicht-p;
4.) N.N. ist oft genug selbst, also in authentischer Weise, zu dem Urteil gelangt, daß-p;
5.) N.N. hat oft genug selbst erkannt, daß-p;
6.) es ist wahr, daß-p“ (Enskat 2005: 124, vgl. auch 76, 95, 111, 116 und 324).

 „Die Konzeption des authentischen Wissens verbindet die propositionalistische Bedingung, daß ein Wissen, das diesen Namen verdient, in wahren Sätzen muß formuliert, mitgeteilt und dokumentiert werden können, mit einer speziellen nicht-propositionalistischen Bedingung: Das propositionale Wissen verdient den Namen eines Wissens nur dann, wenn es von Haus aus auch durch eine Authentizität geprägt ist, mit der es von einer konkreten, leibhaftigen Person selbst, eben in authentischer Weise erworben wird“ (Enskat 2005: 14).

Rainer Enskat (2005) konzentriert sich in seiner Analyse nur auf seine ersten fünf Bedingungen und damit auf eine leibhaftige Person, den Wissenden oder das erkennende Subjekt. Die personale Verankerung von Wissen steht also im Vordergrund. Die Wörter „Wahrheit“ oder „Wahrheitstheorien“ tauchen noch nicht einmal in dem umfangreichen Sachregister auf, das Wort „Wahrnehmung“ indes recht häufig.

Auch Klaus Kornwachs (2012: 237, siehe auch 223-278) stützt seine diesbezüglichen Überlegungen auf die seit Platon formulierten Wissenstheorien. Dabei unterscheidet er folgende Wissensarten:

  • a. faktuales Wissen (Bericht über Fakten), i>
  • b. prognostisches Wissen (zeitabhängige Aussage),
  • c. explanatives Wissen (kausal, deduktiv-nomologische Erklärung),
  • d. explanatives Wissen (praktisch, praktischer Syllogismus),
  • e. normatives Wissen (Ziele, Metamotivationen),
  • f. logisches Wissen (Kalküle, Theoreme),
  • g. definitorisches Wissen (Definitionen, Konventionen über Begriffsbildungen) und
  • h. h. instrumentelles Wissen (Regeln der Methodik).

Hinzu kommt eine weitere Unterscheidung und zwar zwischen explizitem und implizitem Wissen: „Explizit ist das Wissen, wenn es sich in Form von Richtlinien, Normen, Leistungsheften und Protokollen ausdrücken lässt, implizit hingegen, wenn es um Können und Fähigkeiten geht, die das dazu fähige Subjekt selbst nicht explizit beschreiben kann“ (Kornwachs 2008: 138, Kornwachs 2012: 237 ff.).

Beide Theorien des Wissens, sowohl die von Keith Lehrer (1990) als auch die von Rainer Enskat (2005), bedürfen eines allgemeinen Wahrheitskriteriums oder mehrerer allgemeiner Wahrheitskriterien, weil Wahrheit als Eigenschaft wissenschaftlicher Diskurse gefordert wird. Damit wird aber auch ein methodologischer Reduktionismus vertreten, weil alles Wissen wahrheitsdefinit sein muss. Dies gilt auch für Popper, obwohl bei ihm Wahrheit nur eine regulative Idee ist oder genauer gesagt das Ziel wissenschaftlicher Diskurse die Annäherung an die Wahrheit sei. Hier wird nur die Wahrheit als eine Bedingung oder ein Kriterium für Wissen behandelt, im nächsten Unterabschnitt geht es dann um Wahrheitstheorien und Wahrheitsprädikate als Eigenschaften von Aussagen (Kapitel 3.3).

Klaus Kornwachs (2012) formuliert allgemeine Kriterien, mit deren Hilfe er die Klassifizierung in unterschiedliche Wissensarten vornimmt. Weiterhin sind ebensolche Kriterien auch für propositionales Wissen notwendig. Allerdings vertritt er keinen methodologischen Reduktionismus, sondern einen methodologischen Pluralismus, weil ihm zufolge technische Regeln nicht wahrheitsdefinit sind, sondern effizient oder uneffizient (Kornwachs 2012: 172, siehe Kapitel 3.3).

B. Kritik an einem allgemeinen Wahrheitskriterium oder an mehreren allgemeinen Kriterien

Wenn man das erkennende Subjekt außen vorlässt, dann bleibt, wie man aus den oben erörterten Erkenntnistheorien gesehen hat, Wahrheit als alleiniges Kriterium, mit dessen Hilfe man zwischen Wissen und Pseudowissen unterscheiden kann. Daraus ergibt sich auch die überragende Bedeutung des Wahrheitsbegriffs innerhalb der Wissenschaften.

Würde nun ein allgemeines Wahrheitskriterium ausreichen, um Wissen zu begründen? Nach Immanuel Kant kann es kein allgemeines Wahrheitskriterium geben, weil man immer auch spezifische Kriterien braucht: „Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmal der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne“ (Kant 1956 [1781 und 1787]: 101 [A 58-A 59/B 83]).

Diese Stelle bei Kant wird von Karen Gloy völlig zu Recht wie folgt bewertet: „Hier [Gloy bezieht sich auf die eben zitierte Stelle bei Kant] wird nicht nur aufgezeigt, daß, sondern warum es sich bei der Frage nach dem Wahrheitskriterium um eine unsinnige handelt, nämlich, weil die Frage nach dem Wahrheitskriterium überhaupt auf die Nennung eines allgemeinen Kriteriums zielt, der Ausweis konkreter, spezieller wahrer Sätze aber stets ein spezifisches Kriterium verlangt“ (Gloy 2004: 43).

Auch Popper lehnt ein allgemeines Wahrheitskriterium ab: „Es gibt zwar kein Wahrheitskriterium, und wir können uns nicht einmal der Falschheit einer Theorie ganz sicher sein, aber immerhin können wir leichter feststellen, daß eine Theorie falsch ist, als daß sie wahr ist“ (Popper 1984 [1972]:  331).

Das Ideal der Wahrheit wird von ihm und auch bis heute von den Szientisten aber nicht verworfen: „Der Wahrheitsbegriff spielt also im Wesentlichen die Rolle einer regulativen Idee. Er hilft uns bei unserer Suche nach der Wahrheit, daß es so etwas wie Wahrheit oder Übereinstimmung gibt. Sie gibt uns aber keine Methode an die Hand, die Wahrheit zu finden oder uns dessen zu versichern, daß wir sie gefunden haben, auch wenn wir sie gefunden haben. Es gibt also kein Wahrheitskriterium, und wir dürfen nicht nach einem solchen fragen“ (Popper 1984 [1972]: 330, siehe auch 323-353).

Als Alternative zu einem Wahrheitskriterium bietet Popper ein Abgrenzungskriterium an, das das Abgrenzungs- oder Fundamentalproblem der Wissenschaft lösen soll (Kapitel 3.3.3). Damit verweist er dann auf das Falsifikationsprinzip, mit dessen Hilfe man eine Theorie widerlegen kann (Popper 2005 [1934]).

C. Allgemeine und spezielle Bedingungen auf zehn vertikalen und drei horizontalen Ebenen

Die Untersuchungen von Enskat (2005), Lehrer (1990) und Kornwachs (2012), die modernen Wahrheitstheorien (Skirbekk 1977, Gloy 2004) sowie generelle wissenschaftstheoretische Analysen (Carrier 2006, Poser 2012 [2001]) liefern sehr gute wissenschaftstheoretische Grundlagen für den Wissensbegriff. Es handelt sich dabei um allgemeine Kriterien, die zwar Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften des Wissens festlegen können, weil die wissenschaftstheoretischen Grundlagen die Aufgaben, Bedingungen, Kriterien und Eigenschaften des generierten Wissens bestimmen (Kant 1956 [1781 und 1787]: 101 [A 58-A 59/B 83]).

Für die Identifizierung von konkreten und speziellen Sätzen (Aussagen, Normen, Regeln) sowohl für Einzelaussagen auf der einen Seite als auch für einzelne moralische oder technische Handlungsanweisungen sowie Gesetzesaussagen oder Normen und Regeln auf der anderen Seite bedarf es indes spezieller Werkzeuge, da nur mit Hilfe von speziellen wissenschaftlichen Werkzeugen konkretes Wissen begründet, generiert, identifiziert oder evaluiert werden kann. Dies gilt für alle Sätze, unabhängig davon, welche Prädikate (wahr/falsch, richtig/falsch, gerecht/ungerecht, klug/unklug, wünschenswert/unerwünscht oder effektiv/uneffektiv) diese Sätze haben. Weitere Kritikpunkte meinerseits an Lehrer (1990) und Enskat (2005) sowie generell an einer Wissenstheorie, die im Anschluss an Platon mit Bedingungen arbeitet, lauten:

  • a. Eine oder mehrere Wahrheitsbedingungen allein reichen nicht aus Wissen zu rechtfertigen. Zur Identifikation von konkretem Wissen bedarf es aller wissenschaftstheoretischen Ebenen, allgemeine (notwendige) und spezielle (hinreichende) Bedingungen findet man auf allen diesen Ebenen (2. Schaubild).
  • b. Praktische (normative, pragmatische und technische) Diskurse werden schlicht aus dem Wissenschaftsdiskurs aufgrund einer reduktionistischen Methodologie ausgeschlossen, da praktische Sätze (Normen und Regeln) nicht wahrheits- definit sind, sondern andere Eigenschaften (Prädikate) haben (Kapitel 3.3).

Innerhalb des wissenschaftstheoretischen Reduktionismus geht es darum, einen archimedischen Punkt, genauer gesagt ein absolutes Fundament für Wissen oder Wissenschaft zu finden, sei es nun im Anschluss an Platons Dialog Theaitetos (Platon 1983d) Bedingungen des Wissens formuliert werden (Lehrer 1990, Enskat 2005) oder strenge methodische Vorgehensweisen (more geometrico) bei Descartes (Descartes 2001 [1637], Descartes 1994 [1641], Descartes 2005 [1644]), aber auch im logischen Empirismus (Carnap 1998 [1928]) sowie im Erlanger Konstruktivismus (Kamlah/Lorenzen 1967, Lorenzen/Schwemmer 1975, Lorenzen 1978, Lorenzen 1985). Dies gilt auch für den Kritischen Rationalismus (Popper 2005 [1934]), obwohl man im Gegensatz zu den anderen Positionen nur ein negatives Kriterium begründet.

Otto Neurath hat mit Hilfe einer Metapher sowohl die Unmöglichkeit einer solchen reduktionistischen Vorgehensweise als auch die Komplexität aller methodologischen Aufgaben wie folgt beschrieben: „Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine Tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. Nur die Metaphysik kann restlos verschwinden. Die unpräzisen ‚Ballungen‘ sind immer irgendwie Bestandteil des Schiffes. Wird die Unpräzision an einer Stelle verringert, kann sie wohl gar an anderer Stelle verstärkt wieder auftreten“ (Neurath 2006a [1932]: 401, Neurath 2006b [1935]).

Diese Überlegungen gelten für Wissen allgemein. Bevor ich nun verschiedene Wissensformen voneinander unterscheide, sollen vor allem methodische Ansätze erläutert werden, die für praktisches Wissen wichtig sind.


3.2.3 Methodische Ansätze praktischer oder problemorientierter Sozialwissenschaften: die drei Stufen praktischer Analysen und die drei praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Diskurse Seitenanfang

„Im Gegensatz zwischen den normativen Theorien und den neupositivistischen empirisch-analytischen Theorien lebt der alte Konflikt zwischen der aristotelischen Politik als praktischer Philosophie und den rationalistischen und empirischen Theorien der Neuzeit seit Machiavelli, Bacon und Hobbes fort, die sich vornehmlich an einem technisch-rationalen Begriff des Politischen orientieren“ (von Beyme 2000 [1972]: 39).

Dieser Konflikt wird im 21. Jahrhundert dadurch fortgeführt, dass die Szientisten die normative Rationalwahltheorie (ormative rational choice theory) al) als Krönung oder derzeitigen Sieger im ewigen Revolutionskampf normativer Theorien präsentieren (Kapitel 3.10). Die Perestroikans aktivieren hingegen aus der aristotelischen Tradition die angewandte Klugheit (applied phronesis). Dies ist eine Engführung, die der aristotelischen Tradition nicht gerecht wird. Die aristotelische Tradition bietet für eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie weitaus wichtigere Anknüpfungspunkte. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden (8. Schaubild).

In der aristotelischen Tradition stehen praktische Wissenschaften gleichberechtigt neben theoretischen (empirischen) Wissenschaften. Innerhalb der praktischen Wissenschaften kann man meiner Meinung nach idealtypisch drei verschiedene Diskurse unterscheiden: normative Wertdiskurse, pragmatische Zieldiskurse und technische Mitteldiskurse. Hierbei geht es um die Generierung von praktischem (normativem, pragmatischem und technischem) Wissen mit Hilfe einer praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Methodologie (Lauer 2013).

Bei der platonisch-galileischen Tradition geht es aber um die Ermittlung von empirischem (deskriptivem, explanativem und prognostischem) Wissen. Die Suche nach Kausalitäten
ermöglicht, wie oben beschrieben (Kapitel 3.1.2), erstmals das Erkennen und durch die
Umkehrung von Kausalitäten die Veränderung der politischen Realität. Innerhalb der
Politikfeldanalyse sowie der Governance-Forschung werden nicht nur von Forschern, die der platonisch-galileischen Tradition zugehören, ebenfalls drei Ebenen unterschieden.

Auch Weber ist sich bewusst, dass es normative Diskurse gibt, er kann also nicht für die Reduzierung von praktischen Diskursen auf rein technische Diskurse verantwortlich gemacht werden: „Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, dass es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus erledigt ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allgemeinen Kulturfragen hineinragt“ (Weber 1973c [1904]: 153).
Im Folgenden werden diese drei praktisch-methodologischen Ebenen innerhalb der Ethik und praktischen Philosophie vorgestellt und mit den verschiedenen Ansätzen innerhalb der empirischen Politikwissenschaft verglichen (2. Schaubild und 8. Schaubild). Damit werden einige Grundlagen einer praktischen Methodologie beschrieben, wie diese an anderer Stelle zurzeit als Entwurf (work in progress) vorliegen (Lauer 2013, 1997 und 1998).

A. Technische Mitteldiskurse

„Auf der untersten Stufe bewertet man Mittel und Wege auf ihre Tauglichkeit für beliebige Absichten oder Ziele“ (Höffe 2009 [2007]: 23). Mittels technischer Rationalität werden innerhalb dieser Diskurse technische Imperative generiert, seien es nun technische Individualregeln oder sozialtechnologische Regulierungen (z.B. Grundsicherung im Alter in Deutschland).

Die empirische Politikfeldanalyse hat innerhalb verschiedener methodischer Ansätze (Institutional Analysis and Development Framework, Advocacy-Koalitionen-Ansatz, Akteurszentrierter Institutionalismus, Governance-Perspektive) eine andere Begrifflichkeit hervorgebracht.

Die erste Ebene ist die „Ebene einer operativen Praxis der direkten Bearbeitung von Problemen“ (Haus 2010: 109), in der Governance-Perspektive das „first order governing“ oder die „opportunity creation“ (Kooiman 2003: 135 ff.), im Akteurs-zentrierten Institutionalismus wird diese Ebene Leistungsstruktur (industry structure, Mayntz/Scharpf 1995) genannt.

Die unterste Ebene des Advocacy-Koalitionen-Ansatzes wird als „instrumental decisions“ (Sabatier/Jenkins-Smith 1999: 133) oder „secondary aspects of a coalition belief system“ bezeichnet. Auf dieser Ebene werden diesem Ansatz zufolge z.B. „policy preferences regarding desirable regulations“ sowie „design of specific institutions“ (Sabatier/Jenkins-Smith 1999: 122) untersucht.

Auch auf der untersten Ebene des Institutional Analysis and Development Frameworks werden instrumentelle Entscheidungen analysiert, die hier „Operational Rules-in-Use“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 285) heißen: „Operational rules directly affect day-to-day decisions made by the participants in any setting“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 284, 8. Schaubild).

B. Pragmatische Zieldiskurse

Eine Ableitung von technischen Regulierungen oder einzelnen Handlungsanweisungen aus pragmatischen Zielen und Zwecken (Handlungsstrategien) oder aus ethisch-moralischen Normen (Handlungsmaximen) oder gar eine Subsumtion unter Handlungsstrategien oder Handlungsmaximen wird zwar von normativ-ontologischen Wissenschaftlern gefordert, ist aber nicht möglich (Kapitel 3.1.3 und Kapitel 3.4). Daher bedarf es noch zwei weiterer Diskurse.

Im pragmatischem Zieldiskurs werden mit Hilfe der pragmatischen Rationalität pragmatische Imperative generiert, sei es nun individualpragmatische Regeln oder sozialpragmatische Regulierungen (z.B. das deutsche Sozialversicherungssystem zur Überwindung von Armut): „Auf der zweiten Bewertungsstufe wird, was man auf der untersten Stufe bloß voraussetzt, das Ziel seinerseits bewertet“ (Höffe 2009 [2007]: 24-25). Mit Hilfe der pragmatischen Rationalität werden individualpragmatische Regeln oder sozialpragmatische Regulierungen begründet.

Diese „Ebene der Strukturierung der Praktiken der Problembearbeitung durch ‚institution building‘“ (Haus 2010: 109) wird in der Governance-Forschung „second order governing“ oder „institutionbuilding“ (Kooiman 2003: 153 ff.) genannt, während man im Akteurszentrierten Institutionalismus von „Regelungsstruktur“ (gouvernance structure, Mayntz/Scharpf  1995: 16) spricht.

Die mittlere Ebene des Advocacy-Koalitionen-Ansatzes wird „policy core belief systems“ genannt und besteht aus Policy-Strategien, mit denen zentrale Wertvorstellungen umgesetzt werden, „normative commitments and causal perceptions across an entire policy domain or subsystem“ (Sabatier/Jenkins-Smith 1999: 121, vgl. 133).

Die zweite Stufe des Institutional Analysis and Development Frameworks heißt „Collective Choice Rules-in-Use“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 285): „Collective-choice-rules affect operational activities and results through their effects in determining who is eligible and the specific rules to be used in changing operational rules“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 284, 8. Schaubild).

C. Normative Wertdiskurse

Die dritte und höchste Stufe in der praktischen Philosophie oder Politischen Philosophie bildet der normative Wertdiskurs. Hier kommt die ethisch-moralische Rationalität zum Einsatz. Otfried Höffe unterscheidet zwischen Tugendmoral und ethisch-moralischen Normen einerseits sowie Rechtsmoral, (politischer) Gerechtigkeit und Rechtsnormen andererseits (Höffe 2009 [2007]: 23-26, ich übernehme die Einteilung von Höffe, verwende aber teilweise andere Begrifflichkeiten, siehe Lauer 2013). So könnte man z.B. mit dem kategorischen Imperativ ethisch-moralische Normen begründen. Die Rechtsmoral ist für die Politikwissenschaft am wichtigsten. Mit Hilfe von Wertdiskursen könnten Handlungsmaximen wie z.B. Gerechtigkeitsprinzipien formuliert werden, so wie dies etwa John Rawls (1979 [1971]) tut. Aus Gerechtigkeitsprinzipien kann man keine Regeln, erst recht nicht konkrete Handlungsanweisungen ableiten, man kann aber politische Ziele (Handlungsstrategien) und politische Mittel (Handlungsinstrumente) dahingehend bewerten, inwieweit diese gerecht oder ungerecht sind.

Innerhalb von normativen Diskursen werden also Handlungsmaximen (normative Leitlinien) begründet, diese bilden dann eine Folie für die kritische Bewertung von Handlungsstrategien, Handlungsinstrumenten oder einzelnen Handlungsanweisungen – so wie die Moral eine Folie zur Bewertung des Rechtssystems bildet.

Auf Auf dieser Ebene werden keine Werte, Prinzipien etc. (letzt)begründet, aus denen man dann konkrete Handlungsanweisungen ableitet, wie dies etwa Hans Albert allen Normativisten unterstellt: „Der Normativist dagegen braucht Wertprämissen zur Ableitung innerhalb seines Systems“ (Albert 1967b [1965]: 197). Die Handlungs-maximen dienen dazu, z.B. die in einem politischen System konkret umgesetzten Handlungsstrategien und Handlungsinstrumente kritisch zu hinterfragen (Lauer 1998).

Auf der höchsten Stufe spricht man im Akteurszentrierten Institutionalismus von einer „Design-Perspektive“ (Haus 2010: 109), die Governance-Perspektive kennt das „third order governing“, den „Metagovernor“, „meta governance“, „who or what – ultimately – governs the governors“ (Kooiman 2003: 170 ff.).

Die höchste und umfassendste Ebene des Advocacy-Koalitionen-Ansatzes existiert im „deep core belief system“ bestehend aus normativen und ontologischen Axiomen, „basic onological and normative beliefs, such as the relative valuation of individual freedom versus social equality“ (Sabatier/Jenkins-Smith1999: 121, vgl. 133).

Die höchste Stufe des Institutional Analysis and Development Framework bilden die „Constitutional Rules-in-Use“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 285): „Constitutional-choice rule affect operational activities and their effects in determining who is eligible and the rules to be used in crafting the set of collective-choice rules that in turn affect the set of operational rules“ (Ostrom/Cox/Schlager 2014: 284, 8. Schaubild).

D. Evaluation der drei praktischen Analyseebenen oder Diskurse

Die von Höffe (2009 [2007]) rekonstruierte Unterteilung ist eindeutig in der aristotelisch-kantischen Tradition anzusiedeln, weil hier praktische Analysen prinzi-piell von theoretischen (empirischen) Analysen getrennt sind. Ganz anders sieht die Situation in der empirischen Politikfeldanalyse oder der Governance-Forschung aus, dort wird die Sein-Sollen-Trennung von vielen Ansätzen abgelehnt. In der platonisch-galileischen Tradition werden praktische Diskurse, die früher aus drei getrennten Diskursen bestanden, auf rein technische Mitteldiskurse reduziert, mittels Kausalsätzen kann man erstens die Welt erkennen und zweitens die Welt verändern; durch die Anwendung von Kausalitäten, d.h. Umkehrung von Kausalsätzen, entstehen angewandte, technische Regulierungen. Der platonisch-galileischen Tradition reichen ein methodologischer, insbesondere kausaler und empirischer Reduktionismus sowie eine logisch-mathematische Forschungsmethodologie aus, um die Welt sowohl zu erkennen als auch zu verändern. Demgegenüber steht innerhalb der aristotelischen Tradition ein methodologischer Pluralismus. Die Suche nach Kausalitäten wird nicht abgelehnt, sondern ergänzt durch ein Verstehen von Sinnzusammenhängen mittels insbesondere einer sprachlich-interpretativen Forschungsmethodologie. Hinzu kommt eine praktische (normative, pragmatische und technische) Methodologie zur Weltveränderung, da eine angewandte, rein technische Vorgehensweise (Sozial-technologie), wie ich gezeigt habe (Kapitel 3.1.2, E), nicht ausreicht.

Die in der Politikfeldanalyse und der Governance-Forschung entwickelten Analyseebenen führen zu einer angebrachten Differenzierung. Eine Differenzierung fällt bei einigen Autoren leider unter den Tisch: Es ist die Trennung zwischen Sein und Sollen. Die Annahme einer Äquivalenz zwischen Erkennen und Handeln, die dem kausalen Reduktionismus zugrunde liegt, hebt diese Differenzierung auf, sie wird aber nie thematisiert.

Otfried Höffe (2009 [2007]) hat durch die Rekonstruktion der drei Bewertungs-stufen, die vor allem auf Aristoteles und Kant zurückgehen, gezeigt, dass Politische Philosophie möglich ist, ohne dass man auf ontologisch-normativistische oder neomarxistische Ableitungsschemata zurückgreifen muss. Aus den in der dritten Bewertungsstufe begründeten ethisch-moralischen Normen oder Rechtsnormen kann man weder individualpragmatische Regeln oder sozialpragmatische Regulierungen noch technische Individualregeln oder sozialtechnologische Regulierungen ableiten.

Handlungsmaximen, die in normativen Wertdiskursen begründet wurden, und Handlungsstrategien, die in pragmatischen Zieldiskursen begründet wurden, werden bei der Erstellung von Handlungsinstrumenten in technischen Mitteldiskursen dadurch berücksichtigt, dass sie als präskriptive Normen die Ziele für die Mittel darstellen. Weiterhin dienen sie zur Bewertung von Handlungsinstrumenten (technischen Regulierungen) und Handlungsanweisungen.

Ganz anders geht etwa John Rawls (1979 [1971]) vor: „Die von John Rawls wieder belebte Philosophenrolle ist die des universalistischen Nomotheten, des Verfassungsgebers, der von einem archimedischen, gesellschafts- und geschichtsjenseitigen Standort aus eine allgemeingültige Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen versucht. Dabei bedient er sich virtuos aus dem Fundus der kategorialen Muster und Reflexionsformen der klassischen neuzeitlichen politischen Philosophie“ (Kersting 2007 [1985]: 21).

Eine praktische Politikwissenschaft, wie sie hier angedacht wird, unterscheidet sich damit entscheidend nicht nur von den normativ-ontologischen Ansätzen und den kritisch-dialektischen Ansätzen, sondern auch von der normativen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Die Suche nach einem archimedischen Punkt, von dem aus eine gerechte politische Ordnung formuliert wird, wird aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Forschung (Kapitel 3.1.3) abgelehnt und als undurchführbar angesehen.


3.2.4 Wissen versus Können, Theorie versus Praxis Seitenanfang

A. Definition des Wissens

Wenn man die bisherigen Erörterungen über die Bedingungen oder Kriterien von Wissen berücksichtigt, kann man folgende Definition des Wissens formulieren: Wissen besteht aus empirischen und praktischen Theorien, aus wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie aus wissenschaftlichen Werkzeugen und hat einen hypothetischen Charakter.

Für die Identifizierung von konkreten und speziellen Sätzen (Aussagen, Normen, Regeln) sowohl für Einzelaussagen auf der einen Seite als auch für einzelne moralische oder technische Handlungsanweisungen sowie Gesetzesaussagen oder Normen und Regeln auf der anderen Seite bedarf es wissenschaftlicher Werkzeuge, da nur mit Hilfe von wissenschaftlichen Werkzeugen konkretes Wissen begründet, generiert und identifiziert werden kann. Dies gilt für alle Sätze (Aussagen, Normen oder Regeln), unabhängig davon, welche Prädikate (wahr/falsch, richtig/falsch, gerecht/ungerecht, klug/unklug, wünschenswert/unerwünscht oder effektiv/uneffektiv) diese Sätze haben.

B. Wissen versus Können

Die von Gilbert Ryle (2009 [1949]) gemachte Unterscheidung von „knowing that“ und „knowing how“, die in der Wissenschaft oft verwendet wird, wird in meinen methodologischen Untersuchungen nicht übernommen (10. Schaubild), da der Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis, insbesondere Technikwissenschaft und Technik nicht berücksichtigt wird, d.h., praktisches Wissen und praktisches Können werden gleichgesetzt. Dies basiert aber lediglich auf zweideutigen Aussagen im Englischen, wie Kurt Baier, der Übersetzer von Gilbert Ryle, zu Recht hervorhebt.

Die Benutzung der englischen Wörter „knowing how“ und „knowing that“ führt nicht zu genaueren Erläuterungen, sondern zu sprachlichen Verwirrungen. Die genaue deutsche Übersetzung zeigt, dass diese Begriffe extrem ungenau sind und daher keineswegs zu einer Klärung der logischen Geographie des Wissens führen, wie Ryle glaubte.

„Für das im englischen Titel dieses ‚Kapitels verwendete Ausdruckspaar ‚Knowing how - knowing that‘ konnte der Übersetzer kein gleichbedeutendes deutsches Gegenstück finden. Ryle will hier sagen ‚being able to do something‘ bedeute dasselbe wie ‚knowing how to do it‘. Im Deutschen kann man das aber durch keinen der beiden dem englischen ‚knowing how‘ ähnlichen Ausdrücke wiedergeben. Der erste dieser Ausdrücke, ‚Wissen, wie man etwas macht‘, heißt nicht dasselbe wie ‚etwas machen können‘. Denn es kann einer wohl wissen, wie man einen Autoreifen wechselt (so daß er es einem anderen sogar beschreiben oder zeigen kann), ohne es jedoch selber zu können, vielleicht weil er nicht stark oder geschickt genug ist oder weil er schlechte Augen hat. Wissen wie … ist eine Form des theoretischen Wissens, also nicht dasselbe wie das englische ‚Knowing how to do …‘. Der zweite ähnliche deutsche Ausdruck ‚Er weiß zu …‘ ist auch unpassend, weil er nicht allgemein an Stelle von ‚können‘ anwendbar ist. Man kann zwar unter Umständen von jemandem sagen: ‚Er weiß zu schmeicheln‘, aber man wird kaum die Frage, ob einer chauffieren kann, mit den Worten: ‚Weiß er zu chauffieren?‘ stellen wollen. Der Übersetzer mußte sich daher damit begnügen, das englische Paar ‚Knowing how - knowing that‘ mit dem deutschen Paar ‚Können – Wissen‘ wiederzugeben, das nicht wie das englische Paar sprachliche Bestätigung für Ryles These liefert, das Können sei eine Art des praktischen Wissens“ (Anmerkung von Kurt Baier, des Übersetzers von Ryles Werk, in Ryle 1969 [1949]: 26).

Kurt Baier liefert ein gelungenes Beispiel, wie man mit sprachlicher Analyse philosophische Probleme lösen kann, d.h. auf sprachliche Verwirrungen zurückführen kann (Wittgenstein 1984c [1953], Lauer 1987).

Analog soll hier zwischen Wissen und Können unterschieden werden: Wissen (knowing that) als theoretisches (analytisches und empirisches) Wissen betrachtet, ist ein Wissen, dass etwas der Fall ist, bestehend aus Aussagen, auch Aussagen über Normen und Regeln. Hingegen ist praktisches Wissen ein Wissen, wie man etwas macht, bestehend aus Aussagen, Normen und Regeln. Es handelt sich bei beiden um explizites, propositionales Wissen. Auch praktisches Wissen zähle ich zum propositionalen Wissen, weil Normen und Regeln auch Sätze sind genauso wie Aussagen, allerdings andere Eigenschaften haben (Kapitel 3.3).

Das Können besteht aus Dispositionen, Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, wie man etwas macht. Hier handelt es sich um den Bereich, der oft unter dem Label implizites, nicht-propositionales Wissen behandelt wird. Es handelt sich nur um einen Teilbereich des Know-hows, dem des praktischen Könnens. Davon kann man ein praktisches Wissen unterscheiden, das in propositionaler Form (Normen oder Regeln) explizit formuliert werden kann.

Damit soll aber nicht bestritten werden, dass es ein nichtpropositionales Wissen (meiner Meinung nach handelt es sich um ein Können) gibt oder einen Bereich, der nicht expliziert werden kann. Dieses wird seit der Antike thematisiert. Wolfgang Wieland hat in seiner Platon-Interpretation vor allem großen Wert auf das nichtpropositionale Wissen gelegt. „Man kann von demjenigen, der über nichtpropositionales Wissen verfügt, gewiß nicht erwarten, daß er dieses Wissen in Gestalt von Sätzen präsentiert, wohl aber, daß er mit Hilfe von Sätzen von ihm Rechenschaft geben kann. Sokrates weiß jedenfalls, daß er das Wissen, durch das er sich auszeichnet, nicht in Gestalt von Sätzen mitteilen kann. Doch er beruft sich auf dieses Wissen nicht wie auf ein Orakel. Er bewährt es darin, daß er im Umgang mit Sätzen niemals die Orientierung verliert. Auch verliert er niemals den Kontakt zum Bereich der Sätze. Doch er behält ihnen gegenüber immer die Distanz, die ihn davor bewahrt, diesem Bereich zu verfallen. Man wird Platons Philosophieren schwerlich gerecht, wenn man die Spannung übersieht, die zwischen den im geschriebenen Werk überlieferten Sätzen und dem besteht, was nur mit Hilfe dieser Sätze ausgedrückt und gezeigt wird, ohne daß es hingegen von ihnen als semantisches Korrelat auf thematische Weise intendiert würde. Jede Rede von einer platonischen Lehre bleibt unklar und zweideutig, wenn sie diese Zusammenhänge nicht beachtet“ (Wieland 1999b [1982]: 324).

In praktischen Diskursen geht es vor allem um explizites, praktisches Wissen insbesondere über Können und Könnerschaft, das in propositionaler Form vorliegt. Bei Propositionen innerhalb praktischer Diskurse kann es sich erstens um empirisches (deskriptives, explanatives oder prognostisches) Wissen handeln in Form von Aussagen über Sachverhalte, aber auch Aussagen über Normen, Werte, Normierungen oder Regulierungen. Zweitens über praktisches (normatives, pragmatisches oder technisches) Wissen in Form von Normen und Regeln. Normen und Regeln sind auch Sätze (Propositionen), die sich aber nicht auf Aussagen reduzieren.

Daher kann man die Diskussion über nichtpropositionales Wissen, die seit dem 20. Jahrhundert vor allem unter dem Begriff des implizites Wissens (tacit knowledge) geführt wird, hier auf sich beruhen lassen (Polanyi 1958 und 1985 [1967], Mannheim 1980, Loenhoff 2012b, Schützeichel 2012). Zumal der Ausdruck und das Konzept „implizites Wissen“ eventuell durch „traditionell etablierte Ausdrücke und Konzepte besser erbracht“ (Kogge 2012: 31) werden können, und zwar von Erfahrung (Empeiría), sofern damit nicht ein Können gemeint ist. „Ein Wissen lässt sich weitergeben, eine Erfahrung muss man ‚am eigenen Leibe‘ gemacht haben“ (Schneider 2012: 77). Damit lässt sich meiner Meinung nach auch eine gute Trennlinie zwischen einer Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt, die explizites Wissen thematisiert, und einer Erkenntnistheorie mit erkennendem Subjekt begründen, die vor allem das erkennende Subjekt und dessen Möglichkeiten und Grenzen untersucht. Letztere erörtert die Voraussetzungen von Erkenntnis, dem Zustandekommen von Wissen sowie die Entstehung von Erfahrung. Bei der Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt geht es vor allem um den Rechtfertigungszusammenhang (context of justification) von Wissen, bei der Erkenntnistheorie, in der das erkennende Subjekt im Zentrum steht, um den Entstehungszusammenhang (context of discovery) (Reichenbach 1983 [1938]: 3). Weder auf eine eventuelle Unterscheidung zwischen Erfahrung und Können noch auf das Verhältnis beider kann hier genauer eingegangen werden.

Wenn man diese Unterscheidungen im Hinterkopf hat, kann man sehen, warum es zwischen Szientisten und Perestroikans in dieser Frage zu Missverständnissen kommt. Während Szientisten vor allem an sozialtechnologischem Wissen in Form von propositionellen Sätzen (Aussagen und Regeln sowie Aussagensysteme und Regulierungen) arbeiten, interessieren sich die Perestroikans vor allem für implizites, nicht-propositionales Wissen. Sie wollen Bürgern mittels angewandter Klugheit (applied phronesis) zu einer Könnerschaft verhelfen, die es ihnen ermöglicht Spannungspunkte (tension points) zu identifizieren und die politische Welt in ihrem Sinne zu beeinflussen. Eins schließt das andere nicht aus, auch diese beiden Konzepte lassen sich komplementär zueinander denken und behandeln.

C. Wissensformen

Aufgrund der oben erläuterten strukturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Werkzeugtypen ergeben sich folgende Wissensformen sowie Unterscheidungen zwischen Wissen versus Können sowie Theorie versus Praxis (10. Schaubild):

  • a. Analytisches Wissen: Begriffliche und logische Wahrheiten in Form von nichtempirischen, wahrheitsfähigen Aussagen.
  • b. Empirisches Wissen in Form von natur- oder sozialwissenschaftlichen Aussagen oder Aussagensystemen, auch Aussagen über Normen und Regeln. Es gibt drei Kategorien von empirischem Wissen:
    • I. Deskriptives Wissen in Form von wahrheitsdefiniten Beschreibungen.
    • II. Explanatives Wissen in Form von wahrheitsdefiniten Erklärungen.
    • III. Prognostisches Wissen in Form von wahrheitsdefiniten Voraussagen.
  • c. Praktisches Wissen in Form von begründeten Normierungen und Regulierungen. Es gibt drei Kategorien von praktischem Wissen:
    • I. Normatives Wissen in Form von Handlungsmaximen und normativen Urteilen, die richtig oder falsch sind.
    • II. Pragmatisches Wissen in Form von Handlungsstrategien und pragmatischen Urteilen bestehend z.B. aus verschiedenen methodischen Ansätzen, ein und dieselbe Krankheit zu heilen. Pragmatische Regeln sind klug/unklug oder wünschenswert/unerwünscht.
    • III. Technisches Wissen in Form von Handlungsinstrumenten und technischen Urteilen bestehend z.B. aus Methoden, die konkrete technische Regeln enthalten, eine Krankheit zu heilen. Technische Regeln sind effektiv oder uneffektiv.

Praktisches Wissen ist nicht nur ein „Wissen, wie man etwas macht“ (Kurt Baier in: Ryle 1969 [1949]: 26), sondern besteht aus drei verschiedenen Komponenten:

  • I. Warum oder normative Komponente, bestehend aus ethisch-moralischen und politisch-normativen Wertungen, Handlungsmaximen,
  • II. wieso oder pragmatische Komponente, Ziele und Zwecke, Handlungsstrategien,
  • III. und wie (technische Komponente, Mittel, hier Handlungsinstrumente) etwas gemacht werden soll.

Ein Können enthält die praktische Kompetenz, empirisches und praktisches Wissen umzusetzen, „etwas machen können“ (Kurt Baier in: Ryle 1969 [1949]: 26), die Kunst des Arztes, Bürgers, Handwerkers, Ingenieurs, Lehrers, Managers, Politikers, Wissenschaftlers etc. auf seinem Gebiet Leistungen zu erbringen.

Die personale Verankerung des (authentischen) Wissens kann anhand der ersten fünf von Rainer Enskat (2005: 124) formulierten Bedingungen für authentisches Wissen verifiziert oder schlicht und einfach festgestellt werden, ob jemand in der Praxis erfolgreich ist.

Empirische (theoretische) Wissenschaften erarbeiten und begründen empirisches Wissen. Beispiele: Naturwissenschaften, empirische Sozialwissenschaften. Beim analytischen und empirischen Wissen handelt es sich auch um propositionales Wissen, weil beides in Aussageform formuliert wird.

Akteure sind Wissenschaftler, z.B. Politikwissenschaftler generieren empirisches und/oder praktisches Wissen. Naturwissenschaftler generieren empirisches Wissen, Technikwissenschaften praktisches Wissen.

Praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften erarbeiten und begründen praktisches Wissen. Beispiele: Medizinwissenschaften, Technik-wissenschaften, praktische Sozialwissenschaften.

Folgende politischen Akteure verfügen über ein Können und damit über praktische Kompetenz: Bürger, Politiker, Beamte, Verwalter, Unternehmer. Sie alle sind Prakti-ker, agieren in der Praxis und können auch politische Entscheidungen bewirken.

D. Wissen (Theorie) versus Praxis (Handeln)

a. Wissen: Sphäre der Erkenntnis

Ein Wissenschaftler ist immer ein Theoretiker, egal ob er mit einer empirischen Methodologie empirische Aussagen über die politische Realität trifft oder ob er mit einer praktischen Methodologie auch Normierungen oder Regulierungen begründet. Im ersten Fall generiert er ein empirisches Wissen oder empirische Theorien, im zweiten ein praktisches Wissen oder praktische Theorien.
Wenn man die oben gemachten Unterscheidungen akzeptiert, gibt es keine angewandten Wissenschaften, sondern nur praktische Wissenschaften sowie wissenschaftlich ausgebildete Praktiker, die die oben geschilderten Wissensformen anwenden, und Wissenschaftler, die Wissen generieren.

b. Praxis: Sphäre des Handelns

Ein Praktiker (Bürger, Politiker, Beamter, Verwalter, Unternehmer) verändert die (politische) Realität, sei es nun, dass er auf wissenschaftlich begründetes empirisches und praktisches Wissen rekurriert und rationale Entscheidungen fällt oder subjektive Bauchentscheidungen trifft (11. Schaubild).

Wissen (Theorie) und Praxis (Handeln) werden komplementär und nicht hierarchisch gedacht. Auch eine Äquivalenz zwischen beiden, wie im Bacon-Programm üblich, kann nicht begründet werden (Lauer 2013, Kapitel 3.1).

E. Verhältnis Wissenschaft und Politik. Ein komplementäres Modell der Politikberatung

Ein weiteres axiologische Problem bildet das Verhältnis, das es zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und praktischer Politik (Staat und Gesellschaft) auf der anderen Seite geben sollte. Welchen Stellenwert sollten wissenschaftliche Erkenntnisse haben? Welchen Wert sollte Wissenschaft für die praktische Politik haben?

Als Nächstes soll das Verhältnis zwischen Wissenschaft auf der einen und Politik auf der anderen Seite geschildert werden. Zwei Legitimationsquellen, die zu Legitimationsdilemmata führen, werden in der wissenschaftlichen Politikberatung besonders hervorgehoben: einmal das demokratische Verfahren und zweitens die sachliche Expertise. Seit Anfang des 20. Jahrhundert ist bei Letzterer in der Regel die wissenschaftliche Expertise gemeint. Daher spricht man auch von einer Technokratisierung oder Verwissenschaftlichung der Politik wie der Lebensverhältnisse überhaupt. Die Legitimation bildet daher das zentrale Problem der Politikberatung: „Es besteht ein grundsätzlicher Konflikt zwischen der Legitimation durch Delegation (Repräsentation) und dem Einfluss von politisch nicht legitimierten wissenschaftlichen Beratern (Experten) auf die Entscheidungsträger“ (Weingart 2006b: 75).

Zur Lösung dieses Legitimationsdilemmas wurden verschiedene Politikberatungsmodelle vorgeschlagen: „Hinter diesem Dilemma liegt der klassische Konflikt zwischen Wissen und Macht. Idealtypisch wird er in der Gegenüberstellung des dezisionistischen und des technokratischen Modells der Politikberatung repräsentiert. Das eine geht auf Hume, das andere auf Bacon zurück. Eine Vermittlung beider Modelle hat Habermas mit seinem pragmatischen Modell vorgeschlagen. Dabei geht es letztlich um die Auflösung des Dilemmas: Wie können gesellschaftliche Werte und wissenschaftliches Wissen aufeinander bezogen werden (Habermas 1966, Weingart 2001)?“ (Weingart 2006b: 76).

Diese drei Politikberatungsmodelle bestimmen, wie dies eine Vielzahl von Wissenschaftlern sieht, nach wie vor die Diskussion: „Die Unterscheidung in technokratische, dezisionistische und pragmatische Politikberatung, wobei die ersten beiden Modelle eher vorhandene Politikberatung deutend beschreiben, während das letztgenannte eine deutlich normative Seite hat, ist nach wie vor treffend, um das Feld in demokratie-theoretischer Hinsicht zu charakterisieren“ (Grunwald 2008b: 373, siehe Beiträge in verschiedenen Handbüchern der Politikberatung: Falk/Rehfeld/Römmele/Thunert 2006, Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2006, Bröchler/Schützeichel 2008).

Das technokratische Politikberatungsmodell wird zu Recht immer in eine Verbindung mit dem szientistischen Establishment gebracht, obwohl in den in dieser Arbeit analysierten szientistischen Methodologiebüchern (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]), King/Keohane/Verba 1994, Brady/Collier 2010 [2004]) diese Fragen nicht erörtert werden. Das technokratische wird im Folgenden als eine gegensätzliche Alternative zum dezisionistischen Modell vorgestellt (a.).

Das pragmatische Modell der Politikberatung, das auf Jürgen Habermas (1968b [1963]) zurückgeht, dürfte den Vorstellungen der phronetischen Perestroikans am ehesten entsprechen, obwohl ich in den entsprechenden Arbeiten keine ausdrückliche Bezugnahme darauf gefunden habe (b.). Weiterhin soll ein viertes Modell erörtert werden, das von mir aufgrund der oben aufgeführten Wissensanalysen erstellte komplementäre Modell der Politikberatung (c.).

a. Dezisionistisches versus technokratisches Modell der Politikberatung

Das dezisionistische Modell der Politikberatung löst das Legitimationsdilemma auf, indem es dafür plädiert, dass den politischen, demokratischen Institutionen die endgültige und damit letzte Endscheidungsmacht zukommen sollte. Die politischen Institutionen oder der Staat müssen ja auch die Haftung für die Folgen dieser Entscheidungen tragen. Der große Nachteil ist bei diesem Modell die mangelnde sachliche Expertise. Aufgrund der Komplexität moderner Gesellschaften dürften die politischen Repräsentanten kaum adäquate Fachkenntnisse in allen Bereichen aufweisen können. Dieser berechtigte Einwand führt nun zu einem anderen Modell.

Die Vertreter des technokratischen Modells setzen vor allem auf die höhere Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnisse oder bessere sachliche Expertise der Wissenschaft und plädieren für eine Verwissenschaftlichung der Politik. Eine Verschmelzung von Politik und technischer Sachlogik wird propagiert, so dass Helmut Schelsky auf dem Höhepunkt der Planungseuphorie der 60er Jahre die Aufgabe eines Staatsmann in einem technischen Staat wie folgt beschreibt: „Für diesen ‚Staatsmann des technischen Staates‘ ist dieser Staat weder ein Ausdruck des Volkswillens noch die Verkörperung der Nation, weder die Schöpfung Gottes noch das Gefäß einer weltanschaulichen Mission, weder ein Instrument der Menschlichkeit noch das einer Klasse. Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von diesen Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ‚herrscht‘ man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert. Sie bedarf auch keiner anderen Entscheidungen als der nach technischen Prinzipien; dieser Staatsmann ist daher gar nicht ‚Entscheider‘ oder ‚Herrschender‘, sondern Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender“ (Schelsky 1965: 457).

Das technokratische Modell hat nun eindeutig ein demokratisches Legitimationsproblem oder wie Schelsky meint, „moderne Technik bedarf keiner Legitimität“, weil nicht gewählte Wissenschaftler oder gar anonyme wissenschaftliche Institutionen für alle verbindliche Entscheidungen treffen. Es kommt aber noch ein epistemisches Problem hinzu: Wer bestimmt den Stand der Wissenschaft oder wie kann dieser bestimmt werden?

Wie oben gezeigt wurde (Kapitel 3.1.3), kann die Wissenschaft aufgrund prinzipieller Grenzen wissenschaftlicher Methodologie nur hypothetische, aber keine definitiven Antworten geben. Politisches Handeln und Entscheiden erfordert aber definitive Antworten (Wieland 1986). Definitive Antworten können indes mit der Autorität der Wissenschaft nicht begründet werden.

Die Verwissenschaftlichung der Politik, die vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts die Planungseuphorie befeuerte, wich recht schnell einer Ernüchterung. Es kam nämlich neben der prinzipiellen Kritik an den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis noch eine weitere hinzu: Man kann mit wissenschaftlichen Methoden mehrere Alternativen, ja sogar gegensätzliche Alternativen begründen. Gutachten und Gegengutachten führen nach wie vor zu einer Delegitimation der Wissenschaft, weil verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Interessen zu einer Politisierung oder Indienstnahme der Wissenschaft beitragen: „Mit jedem Wissen potenziert sich das Nicht-Wissen, so wie jede Expertise eine Gegen-Expertise provoziert. Der Zuwachs an Experten und die fortschreitende Kolonialisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche durch immer mehr Expertenkreise führt zu einer Delegitimierung und einer ‚Entzauberung‘ nicht der Welt, sondern der Experten selbst“ (Schützeichel 2008: 21).

Während das dezisionistische Modell der Politikberatung die Autonomie des Politischen respektiert, verletzt es die Autonomie der Wissenschaft. Beim technokratischen Modell verhält es sich umgekehrt.

b. Pragmatisches Modell der Politikberatung

Als Ausweg aus dem Dilemma zwischen Dezisionismus und Technokratie wurde von Jürgen Habermas (1968b [1963]) das pragmatische Modell der Politikberatung vorgeschlagen. Dieses Modell will die Vorteile demokratischer Partizipation und wissenschaftlicher Expertise ermöglichen, also Dezisionismus und Technokratie, zusammenführen und gleichzeitig die damit verbundenen Nachteile verhindern: „Dezisionismus und Technokratie sind als Scylla und Charybdis ständige Begleiter und Bedrohung wissenschaftlicher Politikberatung, die sich einem pragmatischen Modell verpflichtet sieht, diese Diagnose ist nach wie vor gültig: ‚Die eigentümliche Dimension, in der eine kontrollierte Übersetzung technischen Wissens in praktisches und damit eine wissenschaftlich angeleitete Rationalisierung der politischen Herrschaft möglich ist, wird verfehlt, wenn die prinzipiell mögliche Aufklärung des politischen Willens im Verhältnis zur Belehrung über sein technisches Können, sei es zugunsten verstockter Dezisionen, für unmöglich, sei es in Ansehung der Technokratie, für überflüssig gehalten wird (Habermas 1968a, S. 144 ff.)‘“ (Grunwald 2008b: 371).

Nicht nur in vielen Handbüchern über Politikberatung (Falk/Rehfeld/Römmele/Thunert 2006, Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2006, Bröchler/ Schützeichel 2008) wird dieses Modell erörtert und von den meisten sogar bevorzugt, sondern auch Politiker präferieren eine pragmatische Politikberatung. Dies gilt auch für die EU-Kommission. Sie greift auf das pragmatische Modell von Jürgen Habermas (1968b [1963]) zurück und plädiert für eine Demokratisierung der Expertise (democratising expertise) und eine Verwissenschaftlichung der Demokratie (expertising democracy) (EU-Kommission 2001a, EU-Kommission 2001b, EU-Kommission 2002, Weingart 2006b: 76).

Peter Weingart unterscheidet für die wissenschaftliche Politikberatung drei nicht notwendig diachrone Phasen (Weingart 2006b: 82): Verwissenschaftlichung der Politik, Politisierung der Wissenschaft und Demokratisierung der Expertise. Eine Lösung des Legitimationsdilemmas kann er völlig zu Recht in keiner Phase erkennen: „Das Spannungsverhältnis der verschiedenen Rationalitäten von Wissenschaft und Politik, die sich in den Legitimationsdilemmata äußern, lässt sich kaum ‚lösen‘“ (Weingart 2006b: 83). Auch das pragmatische Modell der Politikberatung vermag nicht, sowohl der Autonomie der Politik als auch der Autonomie der Wissenschaft gerecht zu werden. Dies kann meiner Meinung nach ein komplementäres Modell der Politikberatung leisten.

c. Komplementäres Modell der Politikberatung

Ein komplementäres Modell der Politikberatung (12. Schaubild) ist meiner Meinung nach besser geeignet, sachliche Expertise und demokratische Legitimation zu vereinen. Wissenschaft und Politik sollten als komplementäre Systeme mit unterschiedlichen Aufgaben, Kompetenzen und Funktionslogiken aufgefasst und verstanden werden. Damit kann sowohl die demokratische als auch die epistemische Legitimation gelingen, da die Autonomie beider Bereiche akzeptiert und nicht durch andere Funktionslogiken in Frage gestellt wird.

Für eine Trennung der verschiedenen Aufgaben setzt sich auch Weber ein: „Aber Politik gehört allerdings auch nicht dahin von Seiten des Dozenten. Gerade dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich mit Politik befaßt, und dann am allerwenigsten. Denn praktisch-politische Stellungnahme und wissenschaftliche Analyse politischer Gebilde und Parteistellung ist zweierlei. […] Verlangen kann man von ihm nur die intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle, – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind. Fragt er dann weiter, warum er nicht beide im Hörsaal behandeln solle, so ist darauf zu antworten: weil der Prophet und der Demagoge nicht auf das Katheder eines Hörsaals gehören. Dem Propheten wie dem Demagogen ist gesagt: ‚Gehe hinaus auf die Gassen und rede öffentlich.‘ Da, heißt das, wo Kritik möglich ist“ (Weber 1973e [1919]: 601-602 [543-544]).

I. Aufgabe der Wissenschaft innerhalb des komplementären Modells der Politikberatung

Aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Diskurse kann Wissenschaft nie definitive, sondern nur hypothetische Auskünfte geben (Kapitel 3.1.3). Wissenschaft kann mit Hilfe wissenschaftlicher Werkzeuge Diskurse führen und hypothetische Antworten auf politisch-praktische Fragen in Form von empirischem (deskriptivem, explanativem und prognostischem) und praktischem (normativem, pragmatischem und technischem) Wissen begründen. Weiterhin kann sie innerhalb von wissenschaftlichen Diskursen Ideologiekritik betreiben, d.h. Ideologien, subjektive Meinungen und Stammtischparolen entlarven. Dabei kann eine Besonderheit festgehalten werden: Eine advokatorische Eigenschaft (Fischer/Forrester 1993b) ist der Wissenschaft inhärent, d.h. dass Argumente für oder gegen eine praktisch-politische Normierung und Regulierung aufgeführt werden können, aber keine definitiven Antworten. Die advokatorische Eigenschaft muss von einer Manipulation durch Interessen sowie durch eine demokratisch legitimierte Auftragsforschung unterschieden werden. Zurückzuweisen ist nur die Manipulation durch Interessen.

II. Aufgabe der Politik oder der politischen Institutionen innerhalb des komplementären Modells der Politikberatung

Die Aufgabe der Politik oder der politischen Institutionen besteht darin, mit Hilfe von politischen Diskursen und politischen Entscheidungsverfahren definitive Antworten in Form von Entscheidungen zu liefern und damit gleichzeitig die Haftung für alle mit einer Regulierung verbundenen Folgen zu übernehmen. Wie Entscheidungsverfahren und damit Legitimität am besten begründet werden kann, ist wiederum eine Aufgabe einer praktischen Politikwissenschaft (Lauer 1997). Ein Überblick über die dafür notwendige praktische Methodologie wird in dieser Arbeit aufgezeigt (2. Schaubild, dritte Spalte, 7. Schaubild und 8. Schaubild).

Die Politik kann nicht, wie das pragmatische Modell der Politikberatung meint, die Rationalität von Expertisen verbessern (das Gegenteil wird bewirkt, wenn politische Interessen berücksichtigt werden), sondern lediglich zwischen verschiedenen Regulierungslösungen oder -möglichkeiten eine (demokratische) Wahl treffen: Nur eine beratende Einbindung der Expertise (expertising democracy) in demokratischen Entscheidungsverfahren ist angemessen, nicht dagegen eine Demokratisierung der Expertise (democratising expertise). Letzteres würde nur zur Verletzung von wissenschaftlichen Standards führen.

Politisches Handeln und politische Regulierung kann nicht nur an zwei Kriterien (demokratischer Input und technokratischer Output) gemessen werden. Die Legitimität erfordert noch weitere Handlungsmaximen, allein im Artikel 20 des Grundgesetzes sind drei Prinzipien angegeben: demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Alle damit verbundenen Kriterien müssen berücksichtigt werden. Allein eine Aggregation der Interessen nach demokratischen Kriterien kann rational nicht entschieden werden (Arrow-Paradoxon, Kapitel 3.1.3). Ein politischer Dezisionismus ist daher unvermeidbar.

„Für kurzfristige Entscheidungen bleibt die demokratische Methode, nur die Hände, nicht die Gründe zu zählen, oft als einzige“ (Lorenzen 1978: 163). In allen wissenschaftlichen (deskriptiven, explanativen, prognostischen, normativen, pragmatischen oder technischen) Diskursen werden nur Vernunftgründe gezählt und wird damit empirisches oder praktisches Wissen generiert. Innerhalb von politischen Institutionen werden zwar Gründe und Interessen abgewogen. Sofern es sich um demokratische Systeme handelt, sind bei definitiven Entscheidungen indes die Hände ausschlaggebend.

Es wird immer Expertisen und Gegenexpertisen geben, dies ist auch nicht verwerflich, weil man auch wissenschaftlich verschiedene Regulierungen z.B. im Bereich der Sozialpolitik begründen kann. Wichtig ist aber, dass man zwischen Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Analysen auf der einen Seite und ideologischen Meinungsäußerungen auf der anderen Seite unterscheidet. Dies geht dann am besten, wenn die zentrale Bedeutung wissenschaftlicher Werkzeuge und metatheoretischer Fragestellungen anerkannt wird und alle Regulierungsvorschläge anhand der oben geschilderten Ebenen wissenschaftlicher Analyse evaluiert werden (1. Schaubild und 2. Schaubild).

Wissenschaft kann allen Parteien oder Interessenverbänden praktisches Wissen für deren Interesse und Probleme liefern, allerdings handelt es sich um hypothetische Antworten. Erst staatliche Institutionen können mit den dort etablierten Entscheidungsverfahren definitive Antworten geben. Bei politischen Entscheidungen geht es in erster Linie nicht um die fachliche Angemessenheit einer Entscheidung, sondern um die Übernahme der Haftung für eine Entscheidung.

Ein Arzt verfügt über praktisches Wissen, mit dessen Hilfe er Diagnosen erstellen kann. Weiterhin kann er aufgrund seines praktischen Könnens Operationen oder Therapien durchführen. Er übernimmt aber nicht die Verantwortung für den Erfolg der Operation oder der Therapie, sondern nur über die fachliche Angemessenheit der Diagnose sowie die praktische Durchführung der Operation oder der Therapie. Der Patient übernimmt immer die Haftung, nicht nur die Verantwortung für die Folgen.

Auf das Verhältnis von Politik und Wissenschaft übertragen, sieht es folgendermaßen aus:

Wissenschaftler begründen empirisches und praktisches Wissen, damit übernimmt die Wissenschaft eine beratende Funktion für die wissenschaftliche Angemessenheit des Wissens. Es können aufgrund der prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Forschung für mehrere Regulierungsoptionen rationale Gründe formuliert werden. Definitive Entscheidungen sollten nur innerhalb von politischen Institutionen gefällt werden, weil damit in erster Linie auch die Übernahme der Haftung für die Folgen, positive wie negative, verbunden ist.

Politiker sollten über das praktische Können verfügen, das innerhalb der Wissenschaft erstellte praktische Wissen anzuwenden. Politiker innerhalb der Exekutive und Staatsbeamte sollten über das praktische Können verfügen, die innerhalb der Legislative und der Judikative beschlossenen Entscheidungen auch umzusetzen.

Differenzierung und Spezialisierung erfordern geradezu auch eine differenzierte Aufgabenverteilung. Diese führt zu unterschiedlichen Kompetenzen sowie auch damit verbunden zu verschiedenen Verantwortlichkeiten und viel wichtiger Haftung für die eigenen Entscheidungen.

Ein weiterer Streitpunkt besteht darin, inwieweit dem von den Wissenschaften methodologisch begründeten Wissen eine Vorrangstellung innerhalb der Gesellschaft eingeräumt wird oder ob neben den wissenschaftlichen auch andere Erkenntnisformen als legitim anzusehen ist. Paul Feyerabend (1986 [1975]) bejaht Letzteres. Die Interpretation, dass nach ihm innerhalb der Wissenschaft alles erlaubt (anything goes) sei, ist nur zum Teil richtig. Er kritisiert vor allem eine Verwissenschaftlichung innerhalb der Gesellschaft, die alle anderen Begründungen oder mit anderen Mitteln generiertes Wissen ablehnen oder ins Abseits stellen, und plädiert für eine Trennung von Staat und Wissenschaft (Feyerabend 1986 [1975]: 385 ff.).

Das komplementäre Modell der Politikberatung berücksichtigt die unterschiedlichen Aufgaben von Politik und Wissenschaft und deren verschiedene Leistungsfähigkeit. Ich stimme Paul Feyerabend zu, dass eine Trennung zwischen Staat und Wissenschaft unbedingt erforderlich ist. Eine Verwissenschaftlichung der Politik ist zwar meiner Meinung nach angebracht, trotzdem sollten nicht zuletzt aufgrund der prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Forschung (Kapitel 3.1.3) auch andere Erkenntnisformen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. So wie ein autonomer Patient das Recht hat, selber zu bestimmen, welchem Therapeuten er vertraut, einem Schulmediziner oder einem Medizinmann der Hopi-Indianer, so hat auch der Souverän das Recht, nicht nur auf die Kompetenz der Wissenschaft zu vertrauen, sondern auch andere Erkenntnisquellen einzubeziehen.


3.2.5 Wissenschaftliche Operationen und wissenschaftliche Diskurse am Beispiel der Politikwissenschaft Seitenanfang

„Theorien der Politik umfassen drei Operationen:
- Feststellungen über politische Tatsachen, über das, was ist.
- Feststellungen über kausale Beziehungen, verbunden mit Prognosen über das, was wahrscheinlich in Zukunft sein wird.
- Schlüsse über wünschenswerte Entwicklungen und Reflexionen über das, was sein soll“ (von Beyme 2007 [1991]: 11); so wird dies nicht nur in diesem Standardwerk über politische Theorien festgehalten.

Aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen Werkzeugtypen, Wissensformen und Wissenschaftstypen, wie sie in diesem Kapitel erarbeitet wurden, umfassen Theorien der Politik nach meiner Auffassung sieben Operationen. Einmal geht es um die logisch-analytischen Operation. Drei empirische (deskriptive, explanative und prognostische) Operationen beziehen sich auf das, was ist, und drei praktische (normative, pragmatische und technische) Operationen auf das, was sein soll. Bei jeder dieser Operationen werden andere Ziele verfolgt und andere wissenschaftlichen Werkzeuge (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) eingesetzt (9. Schaubild).

A. Analytische Operation der Politikwissenschaft

Analytische Diskurse umfassen analytische Operationen und generieren analy-tisches Wissen. Dazu gehören vor allem politische Begriffe oder Kategorien aber auch Modelle zur Analyse der politischen Realität. Dabei handelt es sich um begriffliche oder logische Wahrheiten in Form von nichtempirischen, wahrheitsfähigen Aussagen.

B. Empirische Operationen der Politikwissenschaft

Empirische Diskurse umfassen empirische Operationen über das, was ist, oder das, was die politische Realität ausmacht. Hier werden wahrheitsdefinite Aussagen (Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen), auch wahrheitsdefinite Aussagen über geltende Normierungen und Regulierungen eines politischen Systems gemacht. Innerhalb von empirischen Diskursen können drei verschiedene Diskurse oder Operationen unterschieden werden: deskriptive, explanative und prognostische Diskurse oder Operationen.

a. Deskriptive Operation oder deskriptiver Diskurs. Beschreibungen der politischen Realität

Zunächst geht es darum, die politische Realität zu beschreiben. Das, was ist, rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit – mit deskriptiv-interpretativen Methoden könnte ein Bild entstehen, wie sich der politische Alltag in einem politischen System gestaltet: Machtstrukturen, Abhängigkeiten und politische Entscheidungsprozesse werden ins Auge gefasst und näher beleuchtet. Dazu zählen etwa auch Aussagen über Handlungsmaximen (Leitlinien, Normen, Prinzipien und Werte). Diese werden erkannt und beschrieben, so z.B. das Sozialstaatspostulat, Artikel 20 des Grundgesetzes. Aber auch die detaillierte Beschreibung der Handlungsstrategien und Handlungsinstrumente etwa der sozialen Sicherheitssysteme gehört dazu (Lauer 1998).

b. Explanative Operation oder explanativer Diskurs. Erklärungen der politischen Realität

Die politische Realität bedarf aber auch kausaler Erklärungen. Erklärungen gibt es z.B. für demographische Entwicklungen, aber auch dafür, warum sich die Sozialpolitik so und nicht anders entwickelt hat.

c. Prognostische Operation oder prognostischer Diskurs. Voraussagen über die zukünftige politische Entwicklung

Hinzu kommt die Notwendigkeit, Prognosen über zukünftige Entwicklungen abzugeben: Ein Blick in die Zukunft ist sinnvoll, um Entscheidungsträgern in der Gegenwart wichtige Informationen zur Verfügung zu stellen.

C. Praktische Operationen der Politikwissenschaft

Praktische Diskurse bestehen aus praktischen Operationen über das, was sein soll. Hier werden Normierungen oder Regulierungen (Handlungsmaximen, Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente, Handlungsanweisungen und praktische Urteile) begründet. Innerhalb von praktischen Diskursen können auch drei verschiedene Diskurse oder Operationen unterschieden werden. Wichtig ist, dass Normen und Regeln nicht wahrheitsdefinit sind, sondern andere Eigenschaften haben (Kapitel 3.3).

a. Normative Operation oder normativer Wertdiskurs

Im normativen Wertdiskurs sollten die politischen Handlungsmaximen begründet werden, die für die Normierung oder Regulierung des politischen Systems insgesamt oder eines Politikfeldes entscheidend sind. Die normative Ebene oder Dimension der Politik soll vor allem die Handlungsmaximen erarbeiten, mit deren Hilfe man beurteilen kann, ob eine Gesellschaft gerecht oder ungerecht ist. Die wichtigste Handlungsmaxime für die soziale Sicherheit ist das Sozialstaatspostulat, das im Grundgesetz in Artikel 20 festgehalten wurde.

b. Pragmatische Operation oder der pragmatische Zieldiskurs

Innerhalb des pragmatischen Zieldiskurses der pragmatischen oder strategischen Dimension von Politik werden die politischen Handlungsstrategien begründet, die für die Regulierung eines Politikfeldes entscheidend sind.

c. Technische Operation oder der technische Mitteldiskurs

Auf der technischen bzw. operativen Ebene oder Dimension von Politik sollten politischen Handlungsinstrumente sowie einzelne Handlungsanweisungen begründet werden. Wert-, Ziel- und Mitteldiskurs sind unabhängig voneinander (Kapitel 3.2.4).


3.2.6 Die Kritik der Perestroikans an der szientistischen Wissenskonzeption Seitenanfang

Der von Mark Bevir (2010 [2008]: 48-49, Kapitel 3.1.1) kritisierte Mangel an wissenschaftstheoretischen Erörterungen innerhalb der politikwissenschaftlichen Methodologie trifft vor allem auf das Gebiet der Erkenntnistheorie zu. Kein eigener Beitrag beschäftigt sich im Handbuch „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) mit dem Thema, es gibt nur sporadische Anmerkungen dazu. Daraus kann man entnehmen, dass einige moderne im 20. Jahrhundert eingeführte Unterscheidungen wie die von Ryle (1969 [1949]) und von Polanyi (1958, 1985 [1967]) implizit übernommen wurden.
Im Folgenden werde ich erstens die aristotelischen Unterscheidungen zwischen Episteme, Techne und Phronesis darlegen und zwar so, wie Bent Flyvbjerg (2001, 2006) diese interpretiert hat, und auf die weit umfassendere Wissenskonzeption von Aristoteles hinweisen (A.). Weiterhin werde ich erläutern, warum Flyvbjergs Kritik an der szientistischen Wissenskonzeption völlig an der Methodologie der Szientisten am Beginn des 21. Jahrhunderts vorbeigeht. Danach werde ich zeigen, dass die Annahme von verschiedenen Voraussetzungen einfach zu einem Aneinandervorbeireden führt (B.).

A. Die drei Wissensarten nach Flyvbjerg und ihre Bedeutung für die Forschung: Episteme, Techne und Phronesis

Flyvbjerg legt großen Wert auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wissensformen. Er verlangt von allen Politikwissenschaftlern, darüber Auskunft zu erteilen, welche Wissensform sie erarbeiten. Daher sollen diese auf Aristoteles zurückgehenden Wissensformen hier so dargestellt werden, wie Flyvbjerg sie interpretiert.

a. Episteme

Die Szientisten vertreten nach Flyvbjerg folgende Wissenskonzeption: „Episteme: Scientific knowledge. Universal, invariable, context independent. Based on general analytical rationality. The original concept is known today by the terms ‘epistemology’ and ‘epistemic’. Political science practised as episteme is concerned with uncovering universal truths or laws about politics“ (Flyvbjerg 2006: 71).

Die Eigenschaften universell, invariabel und kontextunabhängig, die Flyvbjerg dem (naturwissenschaftlichen) Wissen und allen epistemischen Wissenschaften, die sich an diesem Wissen orientieren, attestiert, werden eigentlich kaum von jemandem vertreten. Das Gegenteil wird von den Szientisten vertreten, die Wenn-dann-Struktur des Wissens sowie der hypothetische Charakter desselben widersprechen den von Flyvbjerg als zentral angeführten Eigenschaften geradezu (Kapitel 3.1.1, G).

Auch kein Szientist fordert Kontextfreiheit. Die Wenn-dann-Struktur des Wissens, der hypothetische Charakter desselben wird immer implizit mitgedacht. Bei jedem Wissen muss also die Ceteris-paribus-Klausel mitgedacht werden. Anders ausgedrückt, die formulierte Erkenntnis gilt nur in einem ganz bestimmten Kontext. Dieser Kontext sollte immer im Wenn-Teil offen ausgedrückt werden oder kann auch rekonstruiert werden, sofern der Wenn-Teil nicht ausformuliert wurde.

Die Szientisten suchen nach kausalen Regularitäten auf der Makroebene oder nach kausalen Prozessen auf der Mikroebene, die man verallgemeinern kann. Das Wort „Gesetz“ oder die Wörter „Gesetze über Politik“ (laws about politics) werden in diesem Zusammenhang schon länger nicht mehr benutzt, sondern die Wörter „Regularitäten“ oder „Gesetzmäßigkeiten“, sehr selten „probabilistische Gesetze“. Daher spricht auch nichts dagegen innerhalb der Politikwissenschaft nicht nur nach kausalen Regularitäten auf der Makroebene zu suchen, sondern auch nach kausalen Prozessen oder Mechanismen auf der Mikroebene, genauso wie dies in den Naturwissenschaften auch gemacht wird (Kapitel 3.1.2, B).

Auch nach universalen Wahrheiten (universal truths) suchen weder Naturwissenschaftler noch szientistische Sozialwissenschaftler, sondern Gurus und Priester. Das Ideal der Wahrheit wird von den Szientisten nicht aufgegeben. Sie vertreten das Konzept einer Annäherung an die Wahrheit. Dies besagt, dass Wissenschaft keine universalen Wahrheiten sucht und dass die gefundenen Wahrheiten auch noch in dem Prozess der Wahrheitsfindung veränderbar sind. Hypothesen werden aufgestellt und werden selbstverständlich im Erkenntnisprozess auch verworfen, genauso wie bei den Interpretivisten Interpretationen ständig verändert werden. Ich kann keine prinzipiellen Unterschiede daran erkennen, ob nun im Erkenntnisprozess Hypothesen oder Interpretationen aufgestellt und verworfen werden (Kapitel 3.3).

b. Techne

Neben der Episteme würden die Szientisten auch noch eine weitere Wissensform vertreten und zwar die Techne: „Techne: Craft/art. Pragmatic, variable, context dependent. Oriented toward production. Based on practical instrumental rationality governed by a conscious goal. The original concept appears today in terms such as ‘technique’, ‘technical’, and ‘technology’. Political science practised as techne is consulting aimed at better politics by means of instrumental rationality – a type of social engineering – where ‘better’ is defined in terms of the values and goals of those who employ the consultants, sometimes in negotiation with the latter“ (Flyvbjerg 2006: 71).

Solche sozialtechnologischen Untersuchungen werden Flyvbjerg zufolge von Szientisten gemacht. Um eine angewandte Politikwissenschaft, die Sozialtechnologien begründet, zu betreiben, bedarf es, wie oben gezeigt, einer Politikwissenschaft, die sich an den Naturwissenschaften orientiert und nach Kausalitäten sucht. Die Grenzen und Möglichkeiten dieses Konzepts wurden oben behandelt (Kapitel 3.1.2, E, c).

c. Phronesis

Die beiden Wissensformen Episteme und Techne werden von den phronetischen Perestroikans aussortiert, weil es angeblich einzig auf die Phronesis ankomme. Wäh-rend Sozialtechnologie aus Regeln oder angewandten Kausalitäten besteht, wird die Klugheit (Phronesis) als praktische Könnerschaft, als ein Können oder eine Anzahl von Fähigkeiten (skills) angesehen: „What is applied is not theory, but a philosophy of engagement that recognizes that phronesis is a skill and that having phronesis is iteratively dependent on practising phronesis“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012c: 286).

Phronesis ermöglicht eine Deliberation über Werte für die Praxis. Die Klugheit ist pragmatisch und variabel sowie kontextgebunden. Sehr wichtig für die Perestroikans ist, dass die Klugheit auf Wertrationalität beruht und handlungsanleitend ist. Phronesis hat heute kein Äquivalent. Die Perestroikans setzen sich für eine angewandte Klugheit ein, die eine Deliberation über Interessen, Macht und Werte ermöglicht und problemorientiert eingesetzt werden kann: „Phronesis: Ethics. Deliberation about values with reference to praxis. Pragmatic, variable, context dependent. Oriented toward action. Based on practical value rationality. The original concept has no analogous contemporary term. Political science practiced as phronesis is concerned with deliberation about (including questioning of) values and interests aimed at praxis“ (Flyvbjerg 2006: 71).

B. Kritik an Flyvbjergs Wissenskonzeption

Es bleibt aber festzuhalten, dass es sich bei diesem Bezug auf Aristoteles um eine recht eigenwillige Interpretation von Flyvbjerg handelt. Die phronetischen Perestroikans vertreten in der Erkenntnistheorie geradezu eine prämoderne, besser sophistische Sichtweise, die sogar eine Fülle von Differenzierungen im aristotelischen Werk nicht berücksichtigt.

Im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik (Aristoteles 1983 [4. Jahrhundert vor Christus]: 152-176 [1138b18–1139a1] werden fünf Wissensarten behandelt: Wissen der Wissenschaft (episteme), Wissen der Kunstfertigkeit (techne), Wissen des Handelnden, praktische Vernünftigkeit oder praktische Klugheit (phronesis), Wissen der philosophischen Weisheit (sophia) und Vernunftwissen (nous).

Eine weitere Wissensform findet man in der Metaphysik (Aristoteles 1970 [4. Jahrhundert vor Christus]: I, 1, 980a21–982a2) und zwar das Wissen der Erfahrung (empeiria) (Rese 2011: 126-127, Höffe 2006 [1996]: 42-46). Es bleibt rätselhaft, wieso Flyvbjerg nicht auf alle aristotelischen Wissensformen eingeht oder die dort angelegten Möglichkeiten, etwas des Erfahrungswissens (empeiria), für seine Methodologie nicht weiterverwendet. Hinzu kommen auch noch andere Formen der Rationalität, die ein weiteres Verständnis von Wissenschaft wie das in der platonisch-galileischen Tradition begründen: „Syllogistik, Aristotelische Dialektik, Rhetorik und Poetik scheinen auf den ersten Blick bloß disparate Themen zu sein. Trotz tiefgreifender Unterschiede haben sie aber eine Gemeinsamkeit; es sind Weisen, in denen sich menschliches Wissen darstellt: Formen von Rationalität“ (Höffe 2006: 50).

In der Aristoteles-Literatur wird weiterhin darauf hingewiesen, „daß Aristoteles zwischen der praktischen Philosophie als einer philosophischen Reflexion der Praxis und der praktischen Vernünftigkeit (phronesis) als einer die Praxis leitende Vernunft unterscheidet“ (Rese 2011: 114). Auch diese sehr fruchtbare Differenzierung zwischen praktischem Wissen und Können wird von den Perestroikans leider nicht gewinnbringend weiterentwickelt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Prinzip einer gegenstandsgerechten Genauigkeit: „[I]n der Ethik vertritt er ein Prinzip der gegenstandsgerechten Genauigkeit, das die praktischen Disziplinen aufwertet“ (Höffe 2006 [1996]: 44). Diese Unterscheidung könnten Interpretivisten auch ins Feld führen, wenn es um verschiedene Kriterien von quantitativer oder qualitativer Forschung geht (Kapitel 3.2.2).

„In seinen [Aristoteles’] Abhandlungen tritt etwas zutage, das unter Philosophen, zumal heute, nicht so häufig anzutreffen ist, ein esprit de finesse, der um die Pluralität der epistemischen Möglichkeiten weiß und sie souverän anzuwenden vermag“ (Höffe 2006 [1996]: 41). Flyvbjerg zeigt, dass es auch unter (Sozial)Wissenschaftlern an einem esprit de finesse mangelt, da er die vielfältigen Wissensformen meint auf eine, die Phronesis, reduzieren zu können. Dieser Reduktionismus ist nicht nur falsch, sondern damit beraubt er sich auch der Möglichkeit, eine tragfähige Alternative zu den szientistischen Wissensformen zu entwickeln. Die aristotelische Wissenskonzeption bietet in der Tat eine sehr leistungsfähige und umfassende Alternative zu der engen Wissenskonzeption innerhalb der platonisch-galileischen Tradition.

Die modernen Konzeptionen des Wissens beruhen größtenteils auf der platonisch-galileischen Tradition. Ziel ist dabei immer, ein mit wissenschaftlicher (rationaler) Autorität begründetes oder legitimiertes Wissen von anderen Formen der Erkenntnis wie z.B. Meinungen oder Pseudowissen zu unterscheiden. Allein ein von der Wissenschaft legitimiertes Wissen sollte nach Meinung der Szientisten auch als ein akzeptables Wissen von der Gesellschaft akzeptiert werden, alles andere wird als Pseudowissen diskreditiert; genauso wie jedes Vorgehen, das nicht die axiologischen, epistemischen, methodologischen und ontologischen Grundannahmen der Szientisten teilt, als Pseudowissenschaft abgestempelt wird. Diese Vorstellung war sehr erfolgreich und hat sich durchgesetzt, davon zeugt vor allem die Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche seit dem 20. Jahrhundert. Es gibt kaum eine politische Regulierung, die auf eine wissenschaftliche Begründung verzichtet und damit auf den Stand innerhalb der Wissenschaft verweist.

Während hier ein enger Wissensbegriff zum Tragen kommt, haben die Perestroikans sowie die übrigen Interpretivisten einen viel breiteren Wissensbegriff: „‚Wissen‘ definieren wir als die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“ (Berger/Luckmann 2009 [1966]: 1). Dieser konstruktivistische Wissensbegriff hat eine breite Verbreitung bei den Interpretivisten gefunden und geht weit über den szientistischen Wissensbegriff hinaus: „Er [der Wissensbegriff] bezieht nicht nur die Institutionen und Symbolbegriffe ein, sondern auch alle Formen einer gespeicherten Erfahrung, also bspw. auch das körpergebundene Wissen darüber, wie dieses oder jenes zu tun ist. Berger und Luckmann nehmen damit auch Werte und Normen nicht aus (also Verhaltensmaßregeln und Legitimationen), ebenso wenig wie Gefühle: Zum Wissen über moderne Liebesbeziehungen gehört auch das Erkennen und Empfinden von Gefühlen in diesen Beziehungen“ (Keller 2012: 229).

Aristoteles bietet mit seiner Wissenskonzeption insofern eine Alternative zu der platonisch-galileischen Tradition, als er auch andere Wissensformen berücksichtigt (Höffe 2006 [1996]: 44). Flyvbjerg gelingt es nicht an diese differenzierte Wissenskonzeption, sei es nun bei den Interpretivisten oder Aristoteles, anzuschließen, weil er sich nur auf die Phronesis beruft und sich gegen die Episteme absetzt, dabei hat er die aristotelische Konzeption in einer doch recht einfachen Form weiterentwickelt, indem er noch mit Blick auf Michel Foucault Machtanalysen integriert.

Weiterhin ist ein Aneinandervorbeireden vorprogrammiert, vor allem, weil er den Szientisten ein epistemisches Wissensstreben attestiert, das weit von den Wissensvorstellungen der Szientisten am Beginn des 21. Jahrhunderts entfernt ist.

Hier geht es weiter zum Kapitel
Ebene der Ideale und Eigenschaften wissenschaftlicher Forschung (3.3).


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