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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


3.4 Begriffsebene

 

 

   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
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Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

Begriffe (concepts) und Kategorien (categories) sind genauso wie Methoden und methodische Ansätze wichtige wissenschaftliche Werkzeuge; sie bilden zwar die einfachsten wissenschaftlichen Werkzeuge, deren Verwendung aber sehr weitreichende Folgen haben kann. Je nachdem, wie mit diesen umgegangen wird, können verschiedene Missverständnisse entstehen. So können Begrifflichkeiten als unhinterfragte Annahmen, oft sogar als versteckte Voraussetzungen (hidden assumptions) für begründet und unproblematisch erachtet werden, so dass sie wissenschaftliche Ergebnisse entscheidend beeinflussen, dies wird zuerst kurz dargestellt (3.4.1). Zweitens, nomen est omen, werden durch die Subsumtion unter Begrifflichkeiten Klassifizierungen vorgenommen, die einer näheren Untersuchung nicht standhalten (3.4.2). Drittens kann derselbe Begriff ganz Unterschiedliches meinen, dies wird weiter unten diskutiert, wenn es darum geht auf der Methodenebene zwei verschiedene „qualitative“ Methoden auseinanderzuhalten (Kapitel 3.9). In diesem Kapitel werden auch noch Begriffe vorgestellt, die ich in dieser Arbeit verwende und auf die ich anderswo näher eingehe (3.4.3).

3.4.1 Bürgerliche Begrifflichkeit und normativ-liberale Theorie: „Lockean liberalism’s universalism Seitenanfang

Die Begrifflichkeiten der platonisch-galileischen Tradition wurden im 17. Jahrhundert begründet. Viele davon werden teilweise sehr unkritisch angewendet oder eine reflexive Auseinandersetzung mit ihnen fehlt oft (Bevir 2010 [2008], Hay 2011 [2009]), mehr noch, diese werden auch auf andere als westliche politische Systeme angewandt, so dass Susanne Hoeber Rudolph von einem „Imperialism of Categories“ (Rudolph 2005a) spricht: „America’s hegemonic Lockean liberalism, would shape the very concepts and methods we used to acquire knowledge about an unfamiliar society and its politics“ (Rudolph 2005a: 5).

Der Liberalismus liefert sowohl positive als auch normative Konzepte, die zwar im Gegensatz zu den Annahmen des Kausalismus nicht versteckt (Hardin (2011 [2009]), Kapitel 3.10), sondern offen sind, aber selten hinterfragt werden: „Lockean universalism that thought that the self and the others were the same because they shared a common human nature. The assumption that all persons share a common humanity is one of the normative glories of liberalism“ (Rudolph 2005a: 6).

Nicht nur John Lockes (Locke 1989 [1690]) politische Schriften, sondern auch sein „Essay Concerning Human Understanding“ (Locke 1975 [1690]) ist diesbezüglich nach wie vor sehr einflussreich: „That burden was a Lockean universalism that taught that the self and the other were the same because they shared a common human nature. The assumption that all persons share a common humanity is one of the normative glories of liberalism. It asserts the equal worth and common reason of all humans. But the presumption of sameness obliterates difference when it erases the markers that distinguish cultures and peoples and create identity and meaning. Survey research concepts and methods in 1957 took for granted that other cultures too were constituted by Lockean individuals“ (Rudolph 2005a: 6).


3.4.2 Sozialwissenschaften (Social Sciences) versus Geistes- und Kulturwissenschaften (Humanities) Seitenanfang

Die Einteilung der Wissenschaften nach Gegenstandsbereichen – Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kultur- und Geisteswissenschaften – ist im Deutschen neutral und führt zu keinen Konfusionen. Ganz anders sieht die Situation vor allem im amerikanischen Kontext aus, wo Politikwissenschaftler einmal in die Sozialwissenschaften (social sciences) sowie zweitens in die Humanities eingeordnet werden. Im ersten Fall sprechen vor allem diejenigen, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, von Wissenschaftlern (disciplined scientists), im zweiten Fall von undisziplinierten Theoretikern (undisciplined theorists).

Dies ist auf den macht- und geldorientierten Ressourcenkampf (money- and power-driveness) zwischen den einzelnen Wissenschaftlern und Wissenschaftsschulen zurückzuführen. Die Kuhn’sche Metaphorik befeuert diesen Kampf noch. Schon die einfachen sprachlichen Benennungen deuten darauf hin, dass die Forscher innerhalb der Humanities noch im Mittelalter weilen, während die Forscher, die sich als Sozialwissenschaftler sehen und bezeichnen, längst in der Moderne angekommen sind.

So nehmen Politikforscher, sofern sie eine naturalistische Methodologie innerhalb der Sozialwissenschaften verwenden, für sich in Anspruch, (Sozial)Wissenschaftler zu sein, während sie die Kollegen aus den Humanities zu den Theoretikern zählen. Kerstin Monroe, die sich der Perestroika-Bewegung nahe fühlt, schlägt vor, dass die Politikwissenschaft sowohl „a humanistic as well as a scientific discipline“ (Monroe 2015: 423) sein solle.


3.4.3 Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe Seitenanfang

In dieser Arbeit verwende ich Begriffe, die anderswo entwickelt wurden. Im Folgenden werden nur die Begriffe vorgestellt, auf die Hintergründe wird hier nicht eingegangen (Lauer 2013 und Lauer 1997). Die verwendete Vorgehensweise der Explikation habe ich oben erläutert (Kapitel 2.2).

A. Politik

Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie über die Kompetenz-Kompetenz verfügt: In diesem Bereich wird erstens festgelegt, welche Probleme öffentlich, welche privat gelöst werden müssen, zweitens werden hier Handlungsmaximen, Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente und Handlungsanweisungen entschieden, d.h. es werden politische Entscheidungen getroffen. Weiterhin wird bestimmt, innerhalb welcher Subsysteme, welcher Institutionen mit welchen Handlungsstrategien und Mitteln die öffentlich festgelegten und von der Gemeinschaft wahrzunehmenden Aufgaben erledigt werden (z.B. konkrete Ausgestaltung der sozialen Sicherung, Lauer 1998).

B. Politische Handlungsmaximen

Zu den politischen Handlungsmaximen (Leitlinien, Maximen, Normen, Prinzipien und Werte), kantisch gesprochen Maximen des Handelns, gehören alle Normen, die nur Sollens-Sätze enthalten (politische, nicht ethisch-moralische Normen). Handlungsmaximen sind normative Normierungen, die das Wertesystem einer Gesellschaft abbilden. Sie stiften die Identität eines politischen Systems und schaffen den normativen Rahmen für soziale Abläufe, wodurch eine politische Gemeinschaft an Stabilität gewinnt. Dies gilt sowohl für Handlungsmaximen im weiteren Sinne wie z.B. „Gerechtigkeit“, „Gleichheit“ oder „Fairness“ als auch für sachbereichsspezifische und konkretisierbare Handlungsmaximen für die soziale Sicherheit.

Die politischen Handlungsmaximen werden in politisch-normativen Wertdiskursen ermittelt, es handelt sich um Kriterien, mit denen man politisch-pragmatische Handlungsstrategien, politisch-technische Handlungsinstrumente und einzelne politische Handlungsanweisungen mit den Prädikaten gerecht oder ungerecht bewerten kann, die Gerechtigkeit von politischen Maßnahmen wird damit ermittelt.

Bei diesen Handlungsmaximen handelt es sich nicht um letztendliche Normen oder Werte, die religiös oder politisch-philosophisch begründet werden, wie dies innerhalb der Politikwissenschaft in normativ-ontologischen Ansätzen z.B. prominent von Eric Voegelin (2004 [1952]) oder Leo Strauss (1977 [1953]) vertreten wurde. Es sind keine Normen oder Werte, aus denen man gar politisch-pragmatische Handlungsstrategien, politisch-technische Handlungsinstrumente oder Handlungsanweisungen ableiten kann. Wichtig ist, dass alle Handlungsmaximen, wie David Ross dies für ethische Normen festgehalten hat (Ross 1967 [1930]), Prima-facie-Normen sind, d.h., man muss sich bewusst sein, dass man aus politischen genauso wie aus ethisch-moralischen Normen nicht direkt konkrete Handlungsanweisungen ableiten kann.
Die Kodifizierung der politischen Handlungsmaximen findet man in Deutschland im Grundgesetz, genauer in den ersten 20 Artikeln. Änderungen werden sehr selten vorgenommen, hingegen steht die Auslegung und Interpretation dieser Handlungsmaximen täglich auf der Tagesordnung und wird von der Judikative insgesamt, nicht nur vom Bundesverfassungsgericht vorgenommen. Weiterhin trägt auch die Exekutive durch deren tägliche Anwendung zu einer Weiterentwicklung bei, indem sie den Interpretationsspielraum nutzt, die eigentlich jede Regulierung den Ausführenden offenlässt, ja aus prinzipiellen Gründen sogar offenlassen muss (vgl. Aporien der praktischen Vernunft, Kapitel 3.1.3, E).

Für den Bereich der Sozialpolitik unterscheide ich zwischen einer Kultur der Solidarität und einer Kultur der Eigenverantwortlichkeit. Es ist wichtig, dass diese komplementär zueinander entwickelt werden (Lauer 1998).

C. Politische Handlungsstrategien

Unter politischen Handlungsstrategien sind Möglichkeiten des Handelns zu verstehen, die noch nicht konkret ausgeformt sind. Diese Strategien geben den Weg vor, der beschritten werden kann, um mit Hilfe von konkreten Handlungsinstrumenten in das soziale Gefüge der Gesellschaft einzugreifen. Dabei handelt es sich immer um Optionen, die je nach Situation gewählt werden können. Handlungssubjekte sind Vereine, Familien, Unternehmen, vor allem aber der Staat. Es handelt sich bei den Handlungsstrategien um pragmatische Regelungen (Seins- und Sollens-Sätze). Politische Handlungsstrategien sollten erstens auf einer rationalen Analyse aufbauen, zweitens langfristige, klare Ziele vorgeben und drittens erklären, mit welchen politischen Handlungsinstrumenten die für ein Politikfeld geltenden Handlungsmaximen unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel und Möglichkeiten zu erreichen wären.

Politische Handlungsstrategien werden in politisch-pragmatischen Zieldiskursen ermittelt. Mit Hilfe der pragmatischen Handlungsstrategien kann man technische Handlungsinstrumente oder technische Handlungsanweisungen dahingehend bewerten, ob diese klug oder unklug sind, im Fokus steht die Klugheit von politischen Maßnahmen.

Das deutsche soziale Sicherungssystem hat meiner Meinung nach fünf Säulen (Beveridge- und Bismarck-Säule, private und zivilgesellschaftliche Säule sowie die Familien-Säule) und damit fünf unterschiedliche strategische Wege oder Handlungsstrategien, die Risiken „Armut“ und „Krankheit“ zu bewältigen. Diese fünf politischen Handlungsstrategien sollten beibehalten und komplementär weiterentwickelt werden (Lauer 1998).

D. Politische Handlungsinstrumente

Auf der operativen Ebene sind politische Handlungsinstrumente die praktische Umsetzung von Handlungsmaximen und Handlungsstrategien, deren konkrete Form auf Handlungsmaximen und Handlungsstrategien beruht, die ihre Ausgestaltung normativ vorgeben, aus denen sie aber wegen der Prima-facie-Eigenschaft von Normen (Ross 1967 [1930]) nicht abgeleitet werden können. Dabei handelt es sich immer um Optionen, die je nach Situation gewählt werden können. Handlungssubjekte sind auch in diesem Fall Vereine, Familien, Unternehmen, vor allem aber der Staat. Es handelt sich bei den Handlungsinstrumenten um technische Regulierungen (Seins- und Sollens-Sätze).

Politische Handlungsinstrumente werden in politisch-technischen Mitteldiskursen generiert. Politische Handlungsinstrumente oder technische Handlungsanweisungen kann man dahingehend bewerten, ob diese effizient oder uneffizient sind, die Effizienz (Wirksamkeit) von politischen Maßnahmen steht im Zentrum der Untersuchung.

Das deutsche Sozialsystem kennt folgende gesetzlichen Handlungsinstrumente: Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Grundsicherung für Arbeitssuchende (auch Hartz IV oder Arbeitslosengeld II genannt, bis 2005 Arbeitslosenhilfe), Jugendhilfe, Kinder-, Erziehungs- und Wohnungsgeld, Ausbildungs- und Vermögensbildungsförderung, Soziale Entschädigung, Lasten-ausgleich, Wiedergutmachung, gesetzliche Renten-, Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. Es kommt meiner Meinung nach darauf an, die einzelnen politischen Handlungsinstrumente kohärent nach einer politischen Kultur und einer politischen Handlungsstrategie zu reformieren bzw. weiterzuentwickeln und die einzelnen Instrumente komplementär zueinander auszugestalten und nicht nach einem Patentrezept zu suchen (Lauer: 1998).

E. Politische Handlungsanweisungen

Handlungsanweisungen oder -entscheidungen findet man auf der operativen Ebene. Politisch-technische Handlungsinstrumente bestehen in der Regel aus mehreren Handlungsanweisungen, die eine konkrete Handlung vorgeben, z.B. die Festsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre.

F. Praktische Urteile

Praktische Urteile sind Bewertungen der politischen oder sozialen Realität, d.h. von politischen Handlungen und politischen Regulierungen. Genauso wie es drei verschiedene Typen von Diskursen (Wert-, Ziel- und Mitteldiskurse) gibt, müssen auch drei verschiedene praktische Urteilsmöglichkeiten unterschieden werden:

a. Politisch-normative Urteile: Mit Hilfe von politischen Handlungsmaximen wird die politische und soziale Realität innerhalb eines politisch-normativen Wertdiskurses, in dem der normative Ansatz verwendet wird, mit den Prädikaten gerecht oder ungerecht bewertet.

b. Politisch-pragmatische Urteile: Mit Hilfe der Prädikate klug/unklug oder wünschenswert/unerwünscht werden die politische und soziale Realität (Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente und Handlungsanweisungen) innerhalb eines pragmatischen Zieldiskurses, in dem der pragmatischer Ansatz verwendet wird, bewertet.

c. Politisch-technische Urteile: Mit Hilfe der Prädikate effizient/uneffizient werden Handlungsinstrumente innerhalb eines technischen Mitteldiskurses, in dem der technischer Ansatz verwendet wird, bewertet.

Hier geht es weiter zum Kapitel Satzebene (3.5).


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Quelle: lauer.biz/methodenstreit/index.htm
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