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Tradition und Fortschritt verbinden

„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft

Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans


 


3.3 Ebene der Ideale und Eigenschaften wissenschaftlicher Forschung

 

   

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Vorwort

Inhaltsverzeichnis
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Literaturverzeichnis

Inhalte

Einleitung
2. Kapitel
3. Kapitel

Zusammenfassung
Ausblick

 

 

Auf der zweiten methodologischen Ebene, der Wissensebene, habe ich gezeigt, dass die Demarkationslinie zwischen rationalem Wissen und Pseudowissen seit Platon damit begründet wurde, dass Wissen erstens der Rechtfertigung bedarf und dass zweitens Wissen Wahrheitskriterien genügen muss oder dass innerhalb der Wissenschaft Wahrheit angestrebt wird. Dabei wurden nur die Bedingungen oder Kriterien des Wissens und damit die Art und Weise behandelt, wie Wissen gerechtfertigt wird.

Missverständnisse innerhalb von methodologischen Auseinandersetzungen beruhen auch auf den Differenzen, die auf der Ebene der Ideale und der Eigenschaften wissenschaftlicher Forschung existieren. Auf dieser Ebene, der dritten methodologischen Ebene, geht es darum zu zeigen, welche Prädikate wissenschaftliche Sätze (Aussagen, Normen oder Regeln) haben oder mit welchen Eigenschaften wissenschaftliche Sätze bewertet werden können. Im Endeffekt geht es um die Frage, welche Ideale innerhalb des Wissenschaftssystems zumindest angestrebt werden sollten.

Die Szientisten streben Wahrheit trotz aller Schwierigkeiten an oder akzeptieren zumindest das Ideal der Wahrheit als regulative Idee, d.h., dass alle wissenschaftlichen Aussagen wahrheitsdefinit (entweder wahr oder falsch) sind. Die Perestroikans unterstellen, wie ich zeigen werde, völlig zu Unrecht, dass die Szientisten nach univer­sellen Wahrheiten (universal truth) suchen, und vertreten im Anschluss an die Postmoderne eine antiveritative, skeptische Position. Dies sind aber nicht die einzig möglichen Positionen.

Im Folgenden möchte ich nicht nur diese beiden Positionen darstellen, sondern Argumente anführen, die zwar die szientistische Position unterstützen, den damit verbundenen Reduktionismus aber ablehnen. Ich werde zeigen, dass es in praktischen Diskursen auch andere Ideale (Richtigkeit, Gerechtigkeit, Klugheit und Effektivität) gibt und dass es auch daher nicht möglich ist, praktische Diskurse auf empirische Diskurse zu reduzieren. Weiterhin werde ich Gründe aufführen, warum man für Normen und Regeln wahrheitsanaloge Prädikate braucht oder Normen und Regeln nicht auf normative Aussagen reduzieren kann (Kapitel 3.7).


3.3.1 Ideal der Wahrheit in den Wissenschaften: veritative und antiveritative Positionen Seitenanfang

Das Ideal der Wahrheit prägt die Wissenschaft seit der Antike, trotzdem gab und gibt es immer wieder skeptische und antiveritative Tendenzen, die die Suche nach Wahrheit oder die Möglichkeit zu deren Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellen.

Szientisten innerhalb der Politikwissenschaft sind dem Ideal der Wahrheit nach wie vor verpflichtet. Wissenschaft begründet demzufolge nur wahrheitsdefinite Aussagen, d.h., dass Aussagen entweder wahr oder falsch sind. Auch was die Eigenschaften des Wissens anbelangt, findet man eine reduktionistische Vorgehensweise, die mit Äquivalenzen arbeitet: Normen und Regeln werden äquivalent mit empirischen Aussagen gesetzt, d.h., dass sogar Normen und Regeln auf normative Aussagen reduziert werden, damit die Bivalenz wahr/falsch angewendet werden kann. Diesbezügliche logische und sprachliche Analysen und Begründungen werden in der Regel schlicht als begründet vorausgesetzt. Während die Szientisten innerhalb der Politikwissenschaft auch dieses Äquivalent einfach voraussetzen, wird dies bei Bacon thematisiert bzw. findet man hierzu bei ihm eine Begründung: „Daher wird man von einem wahren und vollständigen Grundsatz des Wissens folgende Aussage machen und zu ihm folgende Vorschrift erlassen müssen: man entdecke eine andere Eigenschaft, welche mit einer gegebenen Eigenschaft vertauschbar und dennoch ein Sonderfall der bekannteren Eigenschaft ist, also gleichwohl ein treues Abbild der wahren Gattung darstellt. Beide Aussagen, die für das Handeln wie die für das Betrachten, sind ein und dieselbe Sache und was im Tätigsein am nützlichsten, ist im Wissen reine Wahrheit“ (Bacon 1990 [1620]: 285-286, 4. Aphorismus, Teilband 2).

  • „Ista autem duo pronuntiata, activum et contemplativum, res eadem sunt; et quod in Operando utilissimum, id in Sciendo verissimum“ (Bacon1990 [1620]: 286, 4. Aphorismus, Teilband 2).
  • „The two pronouncements, the active and the contemplative, are one and the same; and what is most useful in operating is truest in knowing“ (Bacon 2000 [1620]: 104).

Damit wird in der platonisch-galileischen Tradition eine Äquivalenz zwischen Effizienz (Wirksamkeit) und Wahrheit formuliert. Auch im Pragmatismus wird diese Äquivalenz formuliert. So greift Schram erstaunlicherweise auf die Unterscheidung von Jacqueline Stevens zwischen „science as use“ und „science as truth“ zurück (zitiert nach Schram 2003: 850) und nicht auf die pragmatische Wahrheitstheorie, obwohl er generell auf den amerikanischen Pragmatismus verweist. Eine andere Referenz für die Phronetiker ist Machiavelli: „Real social science is when studying the world has the effect of changing it, by means of what Machiavelli calls verita effectuale (effective truth)“ (Flyvbjerg/Landman/Schram 2012a: 4).

Im amerikanischen Pragmatismus wird eine ähnliche Wahrheitstheorie vertreten. William James (1977 [1907]) verteidigt in seinem Aufsatz über den „Wahrheitsbegriff des Pragmatismus“ die, wie er sagt, „Schiller-Deweysche Theorie der Wahrheit“ […] „Schiller sagt: Wahr ist das, was „wirkt““. […] „Dewey sagt: Wahr ist das, was Befriedigung bewährt“ (James 1977 [1907]: 56). Anders ausgedrückt, alles, was funktional nützlich ist, ist auch wahr. Hier gibt es auch wie bei Bacon eine Äquivalenz zwischen Effizienz (Wirksamkeit) und Wahrheit sowie Kausalität und Handlung (Bacon 1990 [1620]). Es sollte hervorgehoben werden, dass James genau wie Bacon über keine ausgearbeitete Wahrheitstheorie verfügen.

Demgegenüber waren antiveritative oder skeptische Positionen seit der Antike weit verbreitet und werden auch heute noch vertreten: „Freilich gibt es in der Tradition auch antiveritative Tendenzen, die nicht nur das Faktum und die Erkennbarkeit von Wahrheit leugnen, sondern auch deren Relevanz für die Orientierung des menschlichen Lebens bestreiten und an die Stelle von Wahrheit Begriffe wie Praxis, Existenz, Wille oder Interesse setzen und diese zu Grundlagen des menschlichen Lebens erklären. Bezweifelte die antike Skepsis und ähnlich die frühzeitliche nur, ob Wahrheit erkannt werden könne, so wird seit Nietzsche und der auf ihm basierenden Postmoderne aufgrund eines radikalen Relativismus und Perspektivismus schon der Sinn von Wahrheit und die Möglichkeit der Ausrichtung auf Wahrheit bestritten. Nietzsche hat den Anspruch gefällt: ‚Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte‘“ (Gloy 2004: 3).

Die phronetischen Perestroikans folgen mit ihrer Kritik am Ideal der Wahrheit teilweise diesen antiveritativen und skeptischen Traditionen insbesondere der Postmoderne. Auf der anderen Seite steht das Bekenntnis zum amerikanischen Pragmatismus.

Die Suche nach der einen Wahrheit ist sicherlich eine prämoderne Denkweise. „‚Was ist Wahrheit?‘, fragte Pilatus spöttisch und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Pilatus war seiner Zeit voraus. Denn ‚Wahrheit‘ selbst ist ein abstraktes Substantiv, also ein Kamel von einer logischen Konstruktion, das nicht einmal durch das Öhr eines Grammatikers hindurchgehen kann“ (Skirbekk 1977: Klappentext). Die Szientisten vertreten eher das vor allem von Popper erarbeitete Konzept der Wahrheit als regulativer Idee (Kapitel 3.2).


3.3.2 Kritik der Perestroikans am Wahrheitsideal Seitenanfang

Sanford F. Schram (2003 und 2005) vertritt in Anlehnung an Richard Rorty (1981) ebenso eine antiveritative Einstellung. Wichtig ist hervorzuheben, dass er dabei vor allem die Bild- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit kritisiert. Auch Moses und Knutsen behaupten, dass der Naturalismus eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt (Moses/Knutsen 2012 [2007]: 8, 49). Die Korrespondenztheorie wird mittlerweile kaum noch weder von Philosophen noch von Wissenschaftlern vertreten. Sogar innerhalb des logischen Positivismus gab es eine Bewegung weg von der Korrespondenztheorie hin zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit: „Die Wahrheitstheorie des logischen Positivismus entwickelte sich Schritt für Schritt von einer Korrespondenztheorie zu einer Kohärenztheorie“ (Hempel 1977 [1934]: 96), dies hielt Carl Gustav Hempel in einem Beitrag schon 1934 fest. Wittgenstein distanzierte sich wesentlich später in seinen Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein 1984c [1953]) von der im Traktatus (Wittgenstein 1984b [1922]) vertretenen Bild- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit.

Es kann keinen unabhängigen Beobachter geben, der die Welt auf der einen mit deren sprachlicher Beschreibung auf der anderen Seite vergleicht, da Welterkennung nur über Spracherschließung funktioniert oder anders ausgedrückt jede Beobachtung theoriegeladen ist.

Heute steht, wenn überhaupt, nicht die Suche nach „der“ Wahrheit, sondern nur die viel bescheidenere Frage im Mittelpunkt, ob Wissen kohärent oder konsistent ist, daher wird von der Mehrheit der Wissenschaftler die Kohärenztheorie der Wahrheit vertreten (Rescher 1977 [1973]: 337-390, Young 2008, Gloy 2004). Dies gilt nicht nur für die quantitativen, sondern auch für die qualitativ-interpretativen Forscher, beide Gruppen sind bestrebt, in ihren Arbeiten kohärente Modelle oder Theorien zu begründen. Aber auch Vertreter der Kritischen Theorie, auf die sich Schram (2003 und 2005) ebenfalls zustimmend bezieht, sehen dies mittlerweile genauso: „Die Wahrheit einer Aussage scheint nur noch von ihrer Kohärenz mit anderen Aussagen verbürgt werden zu können“ (Habermas 2009a [1999]: 400). Damit wurde nicht nur die Bild- oder Korrespondenztheorie der Wahrheit, sondern auch die Konsenstheorie der Wahrheit, deren bedeutendster Vertreter Habermas selber war, ad acta gelegt.

Die diesbezügliche Kritik der Perestroikans an den Naturalisten beruht meiner Meinung nach vor allem auf Missverständnissen und ist Ausdruck einer mangelnden Auseinandersetzung mit den Wahrheitstheorien (Skirbekk 1977 oder Gloy 2004) sowie mit der hypothetischen Tiefenstruktur wissenschaftlicher Erkenntnisse (Kapitel 3.1.3, G).

Auch wenn über die Eigenschaften von normativen Sätzen in dem 10. Band „Political Methodology“ (Box-Steffensmeier/Brady/Collier 2010a [2008]) nichts gesagt wird, ist es doch offensichtlich, dass man auch hier mit dem Ideal der Wahrheit operiert.

Nicht nur empirische Aussagen, sondern auch „normative Aussagen“ (Ladwig 2006) sind danach wahrheitsdefinit. Eine fundierte Kritik, dass auch Normen wahrheitsdefinit sind, gab es seit Jahrzehnten innerhalb der Logik, seit Neuestem werden diese Auffassungen auch von Technikphilosophen kritisiert (Kapitel 3.7). Diese Diskussion wurde anderswo ausführlich behandelt (Lauer 2013). Dort wird nicht nur erörtert, warum Normen und Regeln nicht wahrheitsdefinit sind, sondern auch warum sie andere Eigenschaften haben und zwar richtig/schlecht (ethisch-moralische Normen), gerecht/ungerecht (normative Handlungsmaximen), klug/unklug oder wünschenswert/unerwünscht (pragmatische Handlungsstrategien/Regeln) oder effizient/uneffizient (technische Handlungsinstrumente oder Handlungsanweisungen).

Im Folgenden wird nur ein Überblick über die Eigenschaften von Aussagen, Normen und Regeln aufgeführt.


3.3.3 Eigenschaften von Sätzen (Aussagen, Normen oder Regeln): veritative Prädikate sowie wahrheitsanaloge Alternativen Seitenanfang

Das Ideal der Wahrheit aufgeben, nur weil man „die“ oder eine universelle Wahrheit nicht ermitteln kann, hieße also das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Szientisten haben Recht, dass sie an Wahrheit als regulativer Idee festhalten, da sonst eine rationale Diskussion nicht möglich ist. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW) muss allem Urteilen und Beurteilen vorangehen (Kapitel 3.1.3, A), dies erfordert aber, dass man bivalente Unterscheidungen vornehmen kann und auch vornehmen muss.

Wahrheit ist nicht die einzige regulative Idee wissenschaftlicher Diskurse. Wahrheitsprädikate können empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) Sätzen, genauer Aussagen zugewiesen werden. Praktische (normative, pragmatische und technische) Sätze haben andere Eigenschaften. Folgende Prädikate können für wissenschaftliche Sätze benutzt werden:

A. Wahrheit

Wahrheit ist die regulative Idee innerhalb analytischer und empirischer (deskriptiver, explanativer und prognostischer) Diskurse. In diesen Diskursen können wahre oder falsche Aussagen über die Welt oder die politische Realität getroffen werden, z.B. Beschreibungen von politischen Phänomenen, politische Kommunikation und Bedeutungen von politischen Begriffen sowie kausale Erklärungen oder kausale Prognosen von politischen Ereignissen. Dazu zählen auch Aussagen über Normen, Regeln, Normierungen oder Regulierungen. Nur Aussagen sind wahrheitsdefinit, hingegen keine Normen oder Regeln (Kapitel 3.7).

B. Ethische Richtigkeit (Gültigkeit) und politische Gerechtigkeit

Ethische Gültigkeit (Richtigkeit) und politische Gerechtigkeit sind regulative Ideen normativer Wertdiskurse. Ethisch-moralische Normen und Normierungen ermöglichen eine Bewertung von Handlungen und sozialen Tatsachen mit dem Prädikat richtig oder falsch bzw. gut schlechthin oder falsch. Politische Handlungsmaximen, politische Handlungen und soziale Tatsachen können mit dem Prädikat gerecht oder ungerecht bewertet werden. Während auf ethisch-moralische Normen in den Regulierungen eines politischen Systems nur indirekt Bezug genommen wird, bilden politische Handlungsmaximen den Kern einer Verfassung, z.B. Artikel 1-20 des Grundgesetzes (Kapitel 3.2.5).

C. Pragmatische Klugheit

Klugheit und Wünschbarkeit sind regulative Ideen pragmatischer Zieldiskurse, es gibt kluge oder unkluge pragmatische Regeln (Handlungsstrategien) bzw. für jemanden gute (zu den Bewertungsstufen „gut schlechthin“, „gut für jemanden“ und „gut für etwas“ Höffe 2009 [2007]: 22-28, Kapitel 3.2.5).

D. Technische Effektivität (Wirksamkeit)

Die technische Effektivität (Wirksamkeit) ist die regulative Idee technischer Mitteldiskurse. Regeln und Regulierungen (Handlungsstrategien, Handlungs-instrumente oder Handlungsanweisungen) sind effektiv oder uneffektiv oder für etwas gut (Kornwachs 2008 und 2012, Kapitel 3.2.5).

Hier geht es weiter zum Kapitel Begriffsebene (3.4).


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Quelle: lauer.biz/methodenstreit/index.htm
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