Tradition und Fortschritt verbinden |
„Methodenstreit“ und Politikwissenschaft
Der methodologische Glaubenskrieg
am Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen
szientistischem Establishment und phronetischen Perestroikans
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Der Analyse einzelner Sätze, seien es nun z.B. Aussagen oder
Normen, wird seit der sprachlichen Wende (linguistic turn,
Rorty 1967b)
innerhalb der Philosophie im 20. Jahrhundert eine große Aufmerksamkeit
geschenkt, dies gilt leider nicht für die Politikwissenschaft,
erstaunlicherweise auch nicht innerhalb des „Methodenstreits“.
Im Folgenden sollen einige wichtige Unterscheidungen auf Satzebene
kurz vorgestellt werden: Da geht es einmal um die Unterscheidung zwischen
Behauptungssätzen oder Aussagen auf der einen sowie Forderungssätzen,
Imperativen, Normen, Präskriptionen oder Regeln auf der anderen Seite (3.5.1).
Danach soll ein Problem, das Jørgensen-Dilemma (Jørgensen 1937/1938),
geschildert werden, das man erst aufgrund der oben erläuterten Unterscheidung
adressieren kann (3.5.2). Zum Schluss gehe ich noch auf
eine von John R. Searle (1971 [1969]: 54 ff.) eingeführte Unterscheidung ein,
die eine Differenzierung zwischen Normen und Regeln vornimmt und zwar zwischen
regulativen (präskriptiven, imperativistischen) sowie konstitutiven (nicht-imperativistischen)
Normen und Regeln (3.5.3).
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3.5.1 Behauptungssätze oder Aussagen
versus Forderungssätze, Imperative oder Präskriptionen |
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Die Szientisten gehen davon aus, dass Wissenschaftler Aussagen oder
normative Aussagen generieren und dass beide wahrheitsdefinit sind,
auch wenn dies nicht explizit thematisiert wird. Die Perestroikans bestreiten
aufgrund von antiveritativen Vorstellungen, dass weder Aussagen oder normative
Aussagen wahrheitsdefinit seien (Kapitel 3.3).
Im Folgenden werden die Argumente angeführt, die einer Reduktion von Normen
und Regeln auf normative Aussagen entgegenstehen. „Normative Aussage“ ist zwar
keine contradictio in adjecto, da nicht zwei widersprüchliche Tatsachen
behauptet werden. Es sind aber trotzdem ganz unterschiedliche Sachverhalte.
Normen genau wie Regeln sind Forderungssätze oder Präskriptionen, Aussagen sind
hingegen Behauptungssätze. Letztere sind wahrheitsdefinit, Erstere hingegen
nicht. Empirische Aussagen (Behauptungssätze) auf der einen und Normen
(Forderungssätze, Präskriptionen oder Regeln) auf der anderen Seite können
daher, wie Walter Dubislav zu Recht festhält, nicht gleich behandelt werden:
„Damit ist das wichtigste Ergebnis gewonnen: wenn man Forderungssätze wie
Behauptungssätze behandelt und annimmt, dass auch die Forderungssätze der
Alternative wahr-falsch im üblichen Sinne unterstellt sind, obwohl man zunächst
keine Charakterisierung der wahren im Unterschied zu den falschen
Forderungssätzen finden kann, so gibt es keine Begründung und keine Widerlegung
von Forderungssätzen, die mehr zeigt als Widerspruchsfreiheit bezw.
Widerspruchserfülltheit derselben. Es muss als der entscheidende Mangel aller
wissenschaftlich sein wollenden Ethik bezeichnet werden, daß sie diesen
fundamentalen Unterschied zwischen Behauptungs- und Forderungssätzen nicht
erkannt hat und auch die Forderungssätze der von den Behauptungssätzen her
bekannten Alternative wahr-falsch ‚naiv‘ unterstellt, obwohl die Forderungssätze
dieser Alternative so wenig unterstellt sind wie etwa die Zahlen der Alternative
gesund-krank“ (Dubislav 1937: 339).
Nicht nur auf dieser methodologischen Ebene gibt es Argumente gegen eine
Reduktion von Normen und Regeln auf „normative Aussagen“, wie Szientisten in der
Reg4l Normen und Regeln bezeichnen, sondern auch auf anderen Ebenen (Kapitel 3.4
und Kapitel 3.7). Mehr noch: Es gibt gute Gründe, um auch zwischen
unterschiedlichen Normen zu unterscheiden. Dies soll im Folgenden nun geschehen.
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3.5.2 Regulative (präskriptive,
imperativistische) versus konstitutive (nicht-imperativistische) Normen und
Regeln |
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Nun soll der Unterschied zwischen regulativen (präskriptiven,
imperativistischen) Normen und Regeln auf der einen Seite und konstitutiven (nicht-imperativistischen)
Normen und Regeln auf der anderen Seite erörtert werden. Erstere sind vor allem
in praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Diskursen von
Bedeutung, Letztere sind vor allem dann wichtig, wenn es um Interpretationen
oder Beschreibungen geht. Erstmals hat John Searle diese Trennung vorgenommen.
„Die regulativen Regeln können wir zunächst als Regeln charakterisieren, die
bereits bestehende und unabhängig von ihnen existierende Verhaltensformen regeln
– zum Beispiel regeln viele Anstandsregeln zwischenmenschliche Beziehungen, die
unabhängig von jenen Regeln existieren. Konstitutive Regeln dagegen regeln nicht
nur, sondern erzeugen oder prägen auch neue Formen des Verhaltens. Die Regeln
für Fußball oder Schach zum Beispiel regeln nicht bloß Fußball- oder
Schachspiele, sondern sie schaffen überhaupt erst die Möglichkeit, solche Spiele
zu spielen“ (Searle 1971 [1969]: 54). Regulative Regeln haben eine
imperativistische Form, während konstituierende Regeln eine
nicht-imperativistische Form annehmen und tautologisch oder analytisch seien (Searle 1971 [1969]: 55). Mit Hilfe von regulativen Regeln kann man
Bewertungen
vornehmen, während konstituierende Regeln sich als Spezifikation eignen (Searle 1971 [1969]: 58).
Politische Normen und Regeln sind in der Regel alle präskriptiv oder
regulativ und werden auch in imperativistischer Form formuliert, d.h., dass sie
etwas für alle Mitglieder eines politischen Systems oder Staates fordern oder
vorschreiben. In der Regel haben Menschen eine Alternative, sich diesen Geboten
oder Verboten adäquat zu verhalten oder sie zu verletzen.
Searle interessiert sich aber für die konstituierenden Regeln, weil er damit
seine Sprechakttheorie spezifizieren kann, wonach „eine Sprache zu sprechen
bedeutet, in Übereinstimmung mit Regeln Akte zu vollziehen […]. Die semantische
Struktur einer Sprache läßt sich als eine auf Konventionen beruhende
Realisierung einer Serie von Gruppen zugrundeliegender konstitutiver Regeln
begreifen; Sprechakte sind Akte, für die charakteristisch ist, daß sie dadurch
vollzogen werden, daß in Übereinstimmung mit solchen Gruppen konstitutiver
Regeln Ausdrücke geäußert werden“ (Searle 1971 [1969]: 59).
Es ist sicherlich eine lohnende Aufgabe, in den Arbeiten der Interpretivisten
nachzuweisen, inwieweit sie an konstituierende Normen und Regeln denken, wenn
sie eine Trennung zwischen Sein und Sollen ablehnen (Kapitel 3.1.2).
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3.5.3 Das Jørgensen-Dilemma |
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In der Logik wird mit Wahrheitswerten gearbeitet. Normative, präskriptive
Sätze (Forderungssätze, z.B. Normen oder Regeln) können aber nicht
wahrheitsfähig sein, darauf weist Jørgen Jørgensen hin und damit sind wir beim
Jørgensen-Dilemma: „By the word ‘imperative’ I understand imperative sentences
which I define as sentences in which the main verb is in the imperative mood.
Imperatives in this sense may so comprise not only commands or orders but also
requests, pleas, appeals and other linguistic expressions of willing or wishing
something to be done or not to be done“ (Jørgensen 1937/1938: 288). […] „‘Be
quiet’ - is it true or false? A meaningless question. ‘Do your duty’ - is it
true or false? Ananswerable. The two commands may be obeyed, accepted and
considered justified or not justified; but to ask whether they are true or false
seems without any sense as well as it seems impossible to indicate a method by
which to test their truth or falsehood“ (Jørgensen 1937/1938: 289).
Ohne die Wahrheitsfähigkeit von Normen kann es keine Logik der Normen geben.
Es gibt nun zwei Auswege aus dem Jørgensen-Dilemma, entweder man verzichtet auf
eine Logik der Normen und Regeln und begnügt sich mit einer deontischen Logik,
die mit Aussagen über Normen und nicht, wie sehr oft fälschlich behauptet wird
(z.B. Ladwig 2006), mit
normativen Aussagen arbeitet. Die zweite Möglichkeit
besteht darin, dass man die Wahrheitsfähigkeit von Forderungssätzen und damit
von Normen und Regeln aufgibt und nach wahrheitsanalogen Prädikaten sucht
(Kapitel 3.7).
Der erste Ausweg würde ja bedeuten, dass man in praktischen (normativen,
pragmatischen und technischen) Diskursen auf logisch-rationale Analysen
verzichten müsste, da eine rationale Auseinandersetzung auf eine Bivalenz
angewiesen ist (siehe oben den Satz vom Widerspruch,
Kapitel 3.1.3, A). Dies
hätte die Konsequenz, dass man sich auf empirische (deskriptive, explanative und
prognostische) Diskurse beschränken müsste, so wie dies sehr viele
Wissenschaftler vor allem mit Verweis auf Weber auch praktizieren (Kapitel 3.1).
Der zweite Ausweg ist meiner Meinung nach wesentlich attraktiver. Einen
Ausweg aus dem Jørgensen-Dilemma auf der rein normativ-präskriptiven Ebene hat
von Wright (1977g [1974]) dadurch gezeigt, dass er eine
deontische Logik, eine
Sein-Sollen-Logik (Aussagen über Normen), von einer Normenlogik, einer
Tun-Sollen-Logik, unterschieden hat (Kapitel 3.7).
Klaus Kornwachs (2008) hat vor allem die technische Ebene im Visier und
unterscheidet im Anschluss an Mario
Bunge (1967b) zwischen Aussagen und Regeln.
Auch Regeln sind nicht wahrheitsdefinit, sondern effektiv oder uneffektiv. Auf
der technischen Ebene bedarf es daher einer Durchführungslogik (Vergleich
zwischen Aussagenlogik und Durchführungslogik in
Kornwachs 2012: 186,
Poser
2001).
Weder Normen noch Regeln sind wahrheitsdefinit. In praktischen (normativen,
pragmatischen und technischen) Diskursen könnten als Alternative
wahrheitsanaloge Prädikate verwendet werden, damit wären wieder bivalente
Unterscheidungen möglich: Im ethisch-moralischen Diskurs sollten richtig und
falsch (Richtigkeit) für den Diskurs innerhalb der Ethik auf der Individualebene
und gerecht oder ungerecht (Gerechtigkeit) für den politisch-normativen Diskurs
(normative Urteile) auf der Kollektivebene, in pragmatischen Diskursen die
Prädikate klug oder unklug (Klugheit) sowie effektiv und uneffektiv
(Effektivität) in technischen Diskursen eingesetzt werden (Kapitel 3.3.3).
Hier geht es weiter zum
Kapitel Theorieebene (3.6).
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