Die Realität sieht anders aus: Beweglichkeit in den Köpfen
und Standfestigkeit im Rückgrat, Kennzeichen der Bonner Republik,
wurden in der Berliner Republik durch Stillstand in den Köpfen
und Beweglichkeit im Rückgrat ersetzt. Dies ist das Ergebnis der
Anfang der 80er Jahren eingeleiteten geistig-moralischen Wende. Derzeit
belohnen die Institutionen vor allem Bequemlichkeit, Rücksichtslosigkeit
und Völlerei: "Der Ehrliche ist der Dumme" (Ulrich Wickert).Das Motto der CDU "Weiter so, Deutschland" von 1987 gibt die vorherrschende
geistige Einstellung der 80er Jahre treffend wieder. Der Zusammenbruch
des Sozialismus hat dann diese Überheblichkeit und Ignoranz in allen
Parteien weiter verstärkt. Ändern brauchten sich nur die Anderen.
Es dämmert nur langsam, daß man die besseren Handlungsstrategien
für die 50er bis 70er Jahre hatte. Für die 90er Jahre aber fast
mit leeren Händen dasteht.
"Nichts kann ohne die Initiative vorausschauender Männer beginnen,
nichts aber ohne Institutionen bestand haben und funktionieren" (Jean Monnet).
Institutionen müssen Kontinuität garantieren, Politiker sind
für den Wandel verantwortlich. "Demokratie ist nicht, sondern
wird ständig" (Klaus von Beyme). Zu Zeiten Monnets mußten
noch viele Institutionen geschaffen werden. Mittlerweile gibt es genügend
Institutionen. Es fehlt an vorausschauenden Politikern, die diese Institutionen
an die neuen Verhältnisse anpassen. Nicht Deregulierung, sondern Reregulierung
ist notwendig. Es gibt kein zurück mehr zu archaischen Zuständen,
die Komplexität und damit die Regulierungserfordernisse werden auch
in Zukunft steigen.
Heute ist erkennbar, daß die meisten der hochgelobten Strategen
der 80er Jahre doch nur kleinkarierte Verwalter waren. Alle Reformen, mit
Ausnahme der Entscheidungen auf Europäischer Ebene (Binnenmarkt, Maastricht),
sind danebengegangen. Die notwendigen Weichenstellungen wurden in den 80er
Jahren versäumt. Leider sitzen die dafür verantwortlichen Politiker
fast alle noch immer in Rang und Würde. Schlimmer: Es hat den Anschein,
daß sich dies erst im nächsten Jahrtausend ändert.
In der Berliner Republik haben sich die Parteien zu Dachverbänden
von verschiedenen Interessengruppen entwickelt. Die FDP hat dies vorexerziert
und die anderen sind bereitwillig nachgezogen. Im Laufe dieses Prozesses
ist die Gemeinwohlorientierung verloren gegangen. Auf der Strecke
geblieben sind erstens Minderheiten, die von keinem "Dachverband" zur Mehrheitsbeschaffung
gebraucht werden. Gravierender: Die schwächsten Glieder der Gesellschaft
müssen als Sündenböcke für die Fehlentwicklungen herhalten.
Die entscheidenden politischen Parteien und deren Politiker werden zwar
von ca. zwei Drittel der wahlberechtigten Bürger gewählt, sie
sind aber Repräsentanten aller Bürger, aber auch aller zukünftigen
Generationen. Dieser Verantwortung werden sie nicht mehr gerecht. In der
Bonner Republik stand nicht zur Diskussion, ob man sich Solidarität
leisten kann, sondern nur wie dies zu geschehen hat. Dies geschah zu einem
Zeitpunkt, in dem die Gesellschaft über weit weniger Recourcen als
in den 90er Jahren verfügte.
Der Verlust der moralischen Dimension des Politischen trifft
nicht nur Minderheiten. Eine kurzsichtige Orientierung an den Interessen
der wahlberechtigten Klientel zerstört auf Dauer die Fundamente dieser
Gesellschaft und läuft langfristig auch gegen die derzeitig Begünstigten.
Politik, Moral, Recht und Wirtschaft bilden keine unabhängigen
Subsysteme, die jeweils einem eigenen Code gehorchen und nicht aufeinander
wirken (Niklas Luhmann), sondern sind verschiedene Dimensionen ein und
derselben Sache.
Die moralische Dimension des Politischen muß wieder den Stellenwert
einnehmen, die sie in der Bonner Republik einmal hatte: Standfestigkeit
im Rückgrat sowie Beweglichkeit in den Köpfen sind gefragt.
Politik, Moral, Recht und Wirtschaft müssen erneut in Einklang gebracht
werden. Erst dadurch können wieder Positivsummenstrategien
für die anstehenden Probleme gefunden werden. Nur so kann eine Kooperation
zwischen unterschiedlichen Interessengruppen produktiv für die Gesellschaft
wirken. Nullsummenspiele führen im Endeffekt zu suboptimalen Lösungen
und aktivieren nur destruktive Kämpfe. Gleichzeitig müssen
die Institutionen und Konzepte, die den Erfolg der Bonner Republik begründeten,
grundlegend reformiert werden.
"Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten
seine Vorteile bezog" (Machiavelli). Dies bestätigen auch die Erfahrungen
der Bonner Republik in den 50er und 70er Jahren: Nur Menschen, die den
Marsch durch die Institutionen noch vor sich hatten, waren bereit und fähig
umfassende Reformen durchzuführen.
Wahrscheinlich wird der Anstoß zu Reformen eher aus Karlsruhe
als von der Politik kommen. Die wichtigsten Änderungen des Steuerrechts
fielen in der Berliner Republik erst nach entsprechenden Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts über das Existenzminimum, die Zinsbesteuerung,
das Kindergeld und die Einheitswerte. Das Familienurteil und zukünftige
Urteile, etwa über die Zusatzreduzierungen bei der Fremdrente, könnten
endlich in der Renten- und Sozialpolitik wirkliche "Jahrhundertwerke" entstehen
lassen. Solange die Politik auf Sündenböcke zurückgreifen
und durch unberechtigte Kürzung von Ansprüchen notwendige Entscheidungen
verschieben kann, sind keine entscheidenden Änderungen zu erwarten.
1. Stillstand in den Köpfen
Globalisierung, ein Angstgespenst, das einfallslose Politiker und Manager
als Freibrief verwenden. Sie muß für jede Fehlleistung als Entschuldigung
herhalten. Der Sozialstaat ist mit der Globalisierung hinfällig, so
mittlerweile die allgemeine Einschätzung. Wissenschaftliche Untersuchungen
(Gosta Esping-Anderson (ed.) Welfare States in Transition 1996, um nur
eine von vielen Untersuchungen zu nennen) zeigen genau das Gegenteil: Die
Staaten mit den offensten Ökonomien – Deutschland, Niederlande, Schweden
etc. – hatten nach dem Zweiten Weltkrieg auch die am besten ausgebauten
Sozialen Sicherungssysteme entwickelt.
Die Soziale Sicherung in Deutschland ist ein Schönwettersystem.
Bei geringer Arbeitslosigkeit können die systembedingten Nachteile
kaschiert werden (z.B. Lohnbasiertes Systeme, nicht alle personengebundenen
Einkommen und Vermögen werden zur Alterssicherung herangezogen. Keine
gerechte Lastenverteilung. Kausal- statt Finalprinzip bei der Vergabe von
Leistungen.). Geht nun in Zeiten der Globalisierung die Arbeit aus? Ist
jobless growth eine Naturnotwendigkeit oder selbstverschuldet?
Globalisierung bedeutet, daß Kapital und Güter in nationalen
Märkten frei zugänglich sind und daß alle Standorte miteinander
in Konkurrenz treten. Inwieweit sind dies für den Standort Deutschland
neue Bedingungen? Im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Italien gibt es
in Deutschland schon seit Ende der 50er Jahren die Kapitalfreiheit, in
den anderen Länder erst seit 1990. Der deutsche Markt ist auch im
Unterschied zu anderen nationalen Märkten seit Jahrzehnten mit einigen
Ausnahmen (Landwirtschaft, Kohle, Stahl, Textil) offen für alle Produzenten
dieser Welt. In Frankreich und Italien wird z.B. der Automobilmarkt erst
1999 vollständig liberalisiert.
Auch in der Bonner Republik wurden jährlich durch Rationalisierung
und Verlagerung von einfachen Tätigkeiten in andere Länder Arbeitsplätze
zerstört. So sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft,
bei Kohle, Stahl und der Textilindustrie verloren gegangen. Im gewerblichen
Bereich wurden viele neue Arbeitsplätze geschaffen, daß es zu
einer Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern kam. Für
den Standort Deutschland ist die Globalisierung mithin nichts Neues. Der
deutsche Markt ist seit Jahrzehnten dem harten internationalen Wettbewerb
ausgesetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Verluste von Arbeitsplätzen
in der Landwirtschaft und der Textilindustrie durch neue in der gewerblichen
Wirtschaft ersetzt. Daß der technologische Wandel von der gewerblichen
Wirtschaft halt macht, war nicht zu erwarten. Dies gilt ebenso für
den Trend zur Verlagerung von einfachen Tätigkeiten ins Ausland. Kapital
hat Arbeit ersetzt und wird dies auch in Zukunft tun. Der technologische
Fortschritt besteht geradezu darin, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. In
den konkurrenzfähigsten Standorten wird weiterhin Kapital Arbeit substituieren.
Billige und einfache Tätigkeiten werden in die Peripherie und damit
in schwächere Standorte verlagert. Viele Strategien zielen in die
Richtung, diese Prozesse zu verlangsamen oder geradezu aufzuhalten. Dies
ist grundfalsch.
Der Erhalt von unproduktiven Arbeitsplätzen ist nur ein Scheinsieg.
Unrentable Arbeitsplätze wurden auch in der Vergangenheit immer ins
Ausland verlagert: Dies ist nicht das Problem. Neue und produktive Arbeitsplätze
müssen geschaffen werden, vor allem bei personengebundenen Dienstleistungen
(Bildung, Gesundheit, Pflege). Hier helfen alte Strategien nicht weiter.
Verlagerung von Arbeitsplätzen aus dem produzierenden Bereich ins
Ausland und Sozialabbau bewirken eine Verstärkung der Rezession. Neuere
Forschungen zeigen, daß nicht die Unternehmen erfolgreich waren,
die in erster Linie Arbeitsplätze abgebaut haben, sondern die die
auf Innovation und Wachstum gesetzt haben (siehe J. Gaulke: Schlank und
krank. Die Woche, 1. März, 1996, S. 13). Auch auf volkswirtschaftlicher
Ebene sind Konzepte gefragt, die neue innovative und produktive Arbeitsplätze
schaffen. Der Sozialstaat muß auch in Zukunft bestand haben. Dafür
Bedarf es eine Steigerung der Produktivität in allen Bereichen.
Die Herausforderung der 80er Jahre bestand darin, neue Arbeitsplätze
in anderen Bereichen zu schaffen. Die Informationsgesellschaft, die
Globalisierung der Märkte und politische Umwälzungen waren in
den 80ern Jahren am Horizont sichtbar. In den 90ern Jahren sind genau dies
Realitäten, die Politiker bewältigen müssen. Die verantwortlichen
in Politik glänzen selten mit Lösungsvorschlägen, in der
Regel werden alte Rezepte in neuen Verpackungen verkauft.
Der Anschluß an die technologische Entwicklung wurde einmal
aus Arroganz und Bequemlichkeit, andererseits aus ideologischer Voreingenommenheit
verpaßt. So wurde der Stillstandort Deutschland etabliert. Gentechnologie
und Umwelttechnologie wurden durch jeweils rivalisierende politische Lager
blockiert. Schwerwiegender sind die Versäumnisse beim Übergang
von der Industrie- zur Informations- bzw. Wissensgesellschaft.
Bildung ist mittlerweile das wichtigste Wirtschaftsgut. Der Produktionsfaktor
Wissen hat die anderen Faktoren (Boden, Arbeit und Kapital) mit einem Anteil
von 60 bis 80 Prozent in der Gesamtwertschöpfung längst überholt.
Daher ist der größte Vorteil eines Standortes in der Informationsgesellschaft
das Humanvermögen. Menschen sind wichtiger wie Maschinen. Dieses kann
aber ohne eine aktive staatliche Aktivität in der Bildungspolitik,
sozialen Sicherung und Gesundheitspolitik nicht genügend erzeugt,
erhalten und weiterentwickelt werden.
Die Bildungsexplosion der 70er Jahre bot für den Übergang
zur Wissensgesellschaft geradezu ideale Bedingungen. Vor allem von konservativer
Seite wird Bildung wie ein Luxus- und nicht wie ein Wirtschaftsgut behandelt.
Trotz der vielen Sonntagsrede, in denen vom Rohstoff "Wissen", Informationsgesellschaft
etc. geredet wird. War in der Industriegesellschaft das duale Berufsbildungssystem
das Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung, so wird es in der Informationsgesellschaft
die Universitäts- und Hochschulausbildung, ergänzt durch die
Weiterbildung sein. Die in den 80er Jahren gefeierten Strategen wurden
nicht müde, das Duale System, was den Erfolg der 50er bis 70er Jahre
begründete, in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Durch kleinkarierte
Prüfungsordnungen wurden die Universitäten fast zu Verwaltungshochschulen
umgewandelt. Eine kurzsichtige Sparpolitik hat dazu geführt, daß
sich zwei Studenten einen Studienplatz teilen. Wichtig ist nur noch, daß
man mit Hilfe von vielen Scheinen Faktenwissen nachweist. Es gibt weder
Zeit noch Raum sich mit Theorien und Methoden, den Werkzeugen der Wissenserzeugung,
auseinanderzusetzen.
Deutschland war in den 80er Jahren auch Vorreiter in wichtigen Bereichen
der Informationstechnologie: ISDN und Glasfasern. Mit Milliarden Steuermittel
entstand das modernste Netz. Dank überforderter Politiker und raffgieriger
Manager kann auch diese Infrastruktur bis heute nicht richtig genutzt werden.
Der Zugang zum Netzt der Netze, dem Internet, ist in Deutschland über
800% teurer wie in den USA. Studenten, Schüler und Existenzgründer,
die in diesen Bereichen die innovative Speerspitze bilden, werden so von
den neuen Entwicklungen ferngehalten.
Auch Manager sehen sich gerne als große Strategen. In Wirklichkeit
sieht die Situation auch nicht besser aus wie bei den Politiker. Die meisten
können nur abzocken, Kosten senken und Personal entlassen. Neue Dienstleistungen
zu vermarkten, ist nicht gerade die Stärke von Managern. Sie glänzen
eher durch kleinkarierte Verwaltung: "Nieten in Nadelstreifen" (Günter
Ogger). Kosten werden der Allgemeinheit aufgebürdet (Externalisierung
von Kosten), die Gewinne werden privatisiert. Die Telekom hat dies mit
Hilfe der politischen Klasse mustergültig vorgemacht.
Die Gewinner der Globalisierung und der Informationsgesellschaft sind
diejenigen, die einen festen Arbeitsplatz, Normalarbeitzplatzverhältnis
besitzen: Staatsdiener (Beamte und öffentlicher Dienst sowie Angestellte
von großen international operierenden Konzernen. Weiterhin die gut
ausgebildeten, geringe Qualifikation ist schlecht.
Globalisierung und Europäische Integration sind also nur Entschuldigungen,
die zum Abbau des Sozialstaates vorgebracht werden. Sowohl die Kapitalfreiheit
als auch die Standortkonkurrenz sind nicht neue Gegebenheiten. Die Kapitalfreiheit
gibt es in Deutschland seit 1957. Deutschland war nie ein Billiglohnland,
sondern mußte immer technologisch hochwertige Produkte herstellen.
Die Erosion des Sozialstaates hat hausgemachte Ursachen: Die Probleme
des Sozialstaates sind in erster Linie darauf zurückzuführen,
daß der technologische Wandel hin zur Informationsgesellschaft in
Deutschland nicht gelungen ist und dieser Bereich auch jetzt noch sträflich
vernachlässigt wird.
Von tragfähigen Konzepten zu einer Strukturreform des Sozialstaates
ist wenig sichtbar. Sozialabbau ist das einzig was Politikern aller Couleur
einfällt. Der soziale Frieden ist kein Produkt, das beliebig substituierbar
ist, sondern ein Grundpfeiler einer zivilisierten Gesellschaft. Besonders
die Entwicklung in der SPD ist erschreckend. Die Toskana-Fraktion kennt
luxuriöse Boutiquen und Restaurants besser als die Sorgen und Nöte
der einfachen Leute. Die SPD ist durch die Dominanz dieser Gruppe zu einer
Plattform von Egozentrikern und Selbstdarstellern degeneriert. Völlerei
trägt zur Erhaltung einiger Arbeitsplätze bei, auch ein Paar
Unternehmer können sich dabei goldene Nasen verdienen. Volkswirtschaftlich
gesehen sind die Arbeitsplätze, die der Sozialstaat sichert (Wohlfahrt,
Pflege, Medizin) weitaus bedeutender.
2. Beweglichkeit im Rückgrat
Das deutsche Steuersystem ist die perfekte Tarnung für eine Umverteilung
von unten nach oben. Die Besserverdienenden und deren Steuerberater (allesamt
mittlerweile fast einzige FDP-Klientiell) sind die wichtigsten Nutznießer
dieses Dschungels. Dies ist bekannt. Hingegen unbekannt ist, daß
es sich beim Sozialbudget, zwar nicht so extrem, aber immerhin ähnlich
verhält. Gerechtigkeit ist im Sozialstaat Deutschland für viele
Gruppen ein Fremdwort.
Obdachlose, die Solidarität am nötigsten haben, werden
aus der Portokasse abgefertigt. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger,
die Hilfe notwendig brauchen, müssen sich mit den geringsten Leistungen
begnügen. Diejenigen, die darauf verzichten könnten, erhalten
am meisten und diejenigen, die finanzielle Solidarität überhaupt
nicht nötig haben (FDP-Klientel), werden auch nicht vernachlässigt.
Die Leistungen des Systems sozialer Sicherung betrug (1994) 1 106 186
Millionen DM, 33,3 % des Bruttoinlandsproduktes. In einem vom Bundesministerium
für Arbeit erstellten Überblick über die Leistungen des
Sozialbudgets sucht man die Hilfen für Obdachlose vergebens. Die Arbeitslosenversicherung
beträgt 11,5 %, Sozialhilfe 5,2 % des Sozialbudgets. Der größte
Brocken bildet die Rentenversicherung mit 37,9 % und die Krankenversicherung
mit 20,6 %. Von der Rentenversicherung können die bedürftigsten
Gruppen wegen geringen Beschäftigungszeiten am wenigsten profitieren,
dasselbe gilt erst recht für Arbeitgeberleistungen (7,9 %) und Indirekte
Leistungen mit 6,6 % des Sozialbudgets. Daß Steuerermäßigungen
(67,2 Milliarden), Vermögensbildung (11,6 Milliarden) und Wohnungsbauförderung
(5,4 Milliarden, zusammen 84,2 Milliarden, 7,4 %) über 26,2 Milliarden
höher liegen als die Sozialhilfe (57,9 Milliarden, 5,2 % des Sozialbudgets),
ist erstens ein guter Erfolg der Partei der Besserverdienenden und zweitens
schlicht ein Skandal. Diese Ausgabenstruktur zeigt besonders kraß,
daß die Parteien sich zu Interessenverbänden entwickelt haben.
Unterschiedliche Institutionen sind für unterschiedliche soziale
Risiken und Personenkreise zuständig. Dies spiegelt die historische
Durchsetzung von Gruppeninteressen in den letzten 100 Jahren wieder. Sowohl
Leistungsüberschneidungen als auch Leistungslücken
(paradox bei den Ausgaben) kennzeichnen das soziale Sicherungssystem. In
der sozialen Hängematte liegen ca. 2/3 der Gesellschaft, Tendenz fallend.
Vor allem diejenigen, die in stabilen Arbeitsverhältnisses arbeiten.
So gibt es auf der einen Seite Leistungsüberschneidungen z.B. für
Beamte eine de Luxe Krankenversicherung (Chefarzt und Einzelzimmer inklusive).
Die Angestellten im Öffentlichen Dienst erhalten eine Zusatzrentenversicherung.
Auf der anderen Seite fallen immer mehr Menschen durch das soziale Netz
(Obdachlose).
Diejenigen, die von den Versäumnissen, Fehlleistungen, technologischem
Wandel und Globalisierung am meisten betroffen sind, werden völlig
zu Unrecht als größte Last des Sozialstaates hingestellt. Schlimmer.
Gekürzt wurde und wird bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger,
bei Obdachlosen lohnt der Aufwand nicht. Diese Gruppen sind für den
Machterhalt und –erwerb irrelevant. Verschont bleiben insbesondere Beamte,
man kann dieser Gruppe nicht einmal zumuten, 0,2 % der zukünftigen
Lohnsteigerungen für ihren eignen Pensionsfond zurückzustellen,
ohne das die angeblich treuesten Diener dieses Staates auf die Barrikaden
gehen.
Die Rentenversicherungen, die bedeutendste Leistung der sozialen Sicherung,
strotzt nur so von Ungleichbehandlungen und fehlender Gerechtigkeit. Die
"Jahrhundertwerke" in der Rentenversicherung sind einerseits durch ein
"Weiter so" gekennzeichnet. Andererseits wird eine schwache Gruppe, die
sich nicht wehren kann und sowieso schon Nettobeiträge leistet, durch
Zusatzreduzierungen belastet. Aussiedler mußten dies schmerzhaft
erfahren, da sie nicht nur wie alle anderen Bundesbürger von Rentenkürzungen
(Rentenreformgesetz von 1992 und das Wachstums- und Förderungsgesetz
von 1996) betroffen sind, sondern auch als einzige Gruppe seit 1992
eine Zusatzreduzierung von 30% und seit 1996 von 40% in Kauf nehmen müssen.
Die Aussiedler leisten erstens einen Solidarbeitrag. Zweitens gehören
sie zu den wirtschaftlich benachteiligten Gruppen dieser Gesellschaft.
Der Sinn öffentlicher Sozialversicherungssysteme liegt gerade darin,
daß auch Bedarfsgesichtspunkte eine Rolle spielen. Das Prinzip der
Beitragsäquivalenz gilt nur bei einer privaten Versicherung. Aussiedler
müßten daher Empfänger von Solidarität sein. Das Gegenteil
ist der Fall: Es findet eine "inverse Solidarität" statt. Der Gipfel
besteht darin, daß Politiker trotz besserem Wissen Aussiedler als
Sündenböcke für die systembedingten Fehlentwicklungen in
der Rentenversicherung beschuldigen. Auch wenn die Aussiedler überhaupt
keine Fremdrente mehr erhalten sollten, so wären damit die Schwierigkeiten
der Rentenversicherung nicht überwunden. "Die Diskussion um `versicherungsfremde
Leistungen´ ist somit nur ein scheinrationaler Nebenkriegsschauplatz"
(Franz Xaver Kaufmann: Herausforderungen des Sozialstaates. 1997, S. 17).
Die Aussiedler sind in der Rentenversicherung nicht auf Solidarität
oder christliche Nächstenliebe angewiesen, sondern sie leisten selber
einen Solidaritätsbeitrag. Als Minderheit sind sie in diesem Fall
nicht auf die Solidarität, hingegen sehr wohl auf den Gerechtigkeitssinn
der Mehrheit angewiesen. Denn im Umgang mit Minderheiten zeigt sich, welche
Bedeutung man seinen eigenen moralischen Ansprüchen zumißt (vgl.
weitere Details im Onlineforum Fremdrente:
http://www.siebenbuergersachsen.de/sachsen/fremdrente/
Nicht nur die Aussiedler werden bei den sozialen Sicherungssystemen
benachteiligt, sondern alle Familien in der Bundesrepublik, die mehr als
ein Kind haben. Weil etwa die Altersvorsorge nahezu vollständig sozialisiert,
die Kindererziehungslast dagegen weiterhin überwiegend privat bleibt.
"Der Unterhalt der alten Generation ist zu fast 100% kollektiviert, derjenige
der nachwachsenden Generation dagegen nur zu ca. 25%" (Kaufmann a.O. S.
78). Aber auch bei der Krankenversicherung und erst recht bei der Pflegeversicherung
fließen Gelder von Mehrkinderfamilien zu kinderlosen und kinderarmen
Familien. "Die Fachwelt spricht hier auch von ´inverser Solidarität´:
Die Schwachen tragen die Starken" (Jürgen Borchert: Schlag gegen die
Familie. In: Die Zeit vom 17.12.1993, S. 21).
Allein "der monetäre Aufwand einer Zwei-Kinder-Familie für
die Erziehung ihrer Kinder (bis 18 Jahre) (wird) auf gut 300.000 DM geschätzt."
"Die unentgeltliche Investitionen der Familie sind also nahezu doppelt
so hoch wie die gesamten Wirtschaftsinvestitionen" (Kaufmann a.O. S. 105
ff). Diese Ergebnisse waren Anfang der 90er Jahre auch für die Fachwelt
verblüffend. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem "Familienurteil"
von 1992 (BVerfGE 87, 1 ff.) dazu fest, daß die Benachteiligung der
Familie im sozialen Sicherungssystem nicht länger hinnehmbar sei.
Sie ist mit dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 3, I) des Grundgesetzes und
dem staatlichen Schutzauftrag gegenüber der Familie (Art. 6, I) unvereinbar.
Der Sozialabbau wird als Naturnotwendigkeit hingestellt. Für die
Schwierigkeiten des Rentensystems werden nicht tragfähige Reformwerke
in die Wege geleitet, sondern man versucht mit einem "Weiter so" die Schwierigkeiten
der nächsten Generation aufzubürden. Weit schlimmer es müssen
Minderheiten als Sündenböcke herhalten. Bequemlichkeit, Phantasielosigkeit
und Unvermögen auf den höchsten Entscheidungsebenen in Politik,
Wirtschaft und Verwaltung sind natürlich nur Hirngespinste.
Es fehlen Visionen und Konzepte, mit deren Hilfe man in zwanzig bis
dreißig Jahren den Sozialstaat sichern kann. Anstatt Konzepte zu
entwickeln, die für alle Beteiligten einen Mehrwert bringen, inszenieren
viele Politiker nur Nullsummenspiele, Westdeutsche gegen Ostdeutsche und
Aussiedler, Familien mit Kindern gegen Kinderlose, Jung gegen Alt, Arbeitnehmer
gegen Beamte und Selbständige.
3. Dinos und Toskanos oder wer kann die notwendigen
Änderungen durchsetzen?
Es ist kein Geheimnis, daß für den derzeitigen Reformstau
und Rücksichtslosigkeit Dinos und Toscanos verantwortlich sind. Dies
sind mittlerweile die Mehrheit der politischen Eliten in allen Parteien,
in Bund und Land an der Spitze mit Ober-Dino Kohl und Ober-Toskanino Lafontaine.
Stillstand in den Köpfen, Beweglichkeit im Rückgrat sind Kennzeichen
der kohl-lafontaineschen Geisteshaltung.
Zu den Vordenkern des Stillstandortes Deutschland zählt Heiner
Geißler mit seiner Formel "Weiter so, Deutschland". Die Zurückstufung
von Tugenden zu Sekundärtugenden und Erklärung der Völlerei
als gesellschaftsfähiges Lebensziel ("Fressen, saufen und vögeln"
Lafontaine) war der nächste Baustein. Hinzu kommt, daß Rücksichtslosigkeit
als normaler Wettbewerb ausgegeben wurde (FDP). Christliche Parteien wollten
nun das Feld nicht kampflos der FDP und SPD überlassen. Das neue Heilsversprechen
christlicher Art (Biedenkopf und Stoiber) lautet "unternehmerische Wissensgesellschaft".
Doch bevor das neue Paradies eintreten kann, muß man in einer Übergangsperiode
natürlich mit "unerwünschten Nebenfolgen" rechnen: die Kriminalität
steigt, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung der Bevölkerung
sinken, Armenviertel (den Begriff "Slum" wird noch vermieden) entstehen.
Diese geistig-moralische Wende hat sich in unterschiedlicher Intensität
bei der Mehrheit der Politiker festgesetzt.
Es ist geradezu grotesk, daß Kohl und Lafontaine ständig
die Überwindung des Reformstaus lauthals forderten, obwohl sie für
diesen verantwortlich sind. Auch während des Studentenprotestes das
gleiche Bild: Diejenigen, gegen die sich ja der Protest richtet, solidarisierten
sich mit den Studenten. Anstatt zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln
und durchzusetzen, demonstrieren die handelnden Politiker oder halten Reden
á la Herzog, "Es muß ein Ruck durch das Land gehen", "Bildung
muß ein Megathema werden". Das solche Reden einen so großen
Eindruck hinterlassen können, spricht schon Bände. Schließlich
enthalten diese Reden fast nur Standardfloskeln, die jeder Dorf-Prediger
in seinem Repertoire hat. Argumentationen in solchen Höhen sind das
Feld von Politiker a. D., beim Bundespräsidenten kann es gerade noch
durchgehen, obwohl er Roß und Reiter schon deutlicher hätte
nennen können.
Von gewählten Politiker erwartet man mehr: Sie müssen Gestaltungswillen
und –fähigkeit täglich beweisen, nicht nur sich an den Insignien
der Macht ergötzen. Die Zeit des "Weiter so Deutschland" muß
endlich der Vergangenheit angehören. Daher bestand Herzogs größter
Beitrag 1997 darin, eine erneute Kandidatur abzulehnen, verbunden mit dem
Hinweis, daß nicht jeder den gleichen Fehler machen müßte.
Gemeint war Kohl, gleiches gilt für Lafontaine, hinzu kommen weitere
Legionen von Politiker in Bund und Land, die diese unterstützen und
keine entscheidenden Veränderungen im Amte lang überstehen würden.
Kohl hat den optimalen Zeitpunkt für einen Rückzug aus der
Politik längst verspielt. Dieser verstrich 1992 ungenutzt, nachdem
die deutsche Einheit, der EU-Binnenmarkt und der Maastrichter-Vertrag unter
Dach und Fach waren. Genscher hingegen ist ein optimaler und würdevoller
Abgang gelungen. Für Kohl füllt sich seither fast nur die negative
Seite der Bilanz. 1998 nach der Einführung des Euros ist der letztmögliche
Zeitpunkt, in Würde abzutreten.
Kohl könnte sonst das Schicksal von Blüm ereilen. Dieser verkauft
seinem staunenden Publikum innerhalb von wenigen Jahren mehrere Jahrhundertwerke
in der Rentenversicherung (1992, 1996 und 1997, 1999 ist die nächste
Rentenstrukturreform geplant). Weit mehr glänzt Blüm als Büttenredner,
Clown und Märchenerzähler. Karnevals, Talkshows und Märchenbücher
sind seine Bühnen bzw. Medien der Darstellung. Das brutalste Märchen
lautet: Die Renten sind sicher. Kurz: Blüm wurde von einem freundlichen
und lustigen Politiker zu einer Lachnummer, einen würdevollen Abgang
hat er längst verpaßt.
Die Bestimmung von Schäuble als Kronprinzen deutet daraufhin, daß
Kohl sich Gedanken über einen Rückzug macht, der gar nicht in
allzu großer Ferne liegt. Es könnte ja Eintreten, daß
auch ein SPD-Parteitag zu einer rationalen Entscheidung fähig ist
und Schröder zum Kanzlerkandidaten wählt. Den Lafontaine mit
Solidarität und Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen, bedarf einer
ziemlich dicken parteipolitischen Brille. Das Gleiche gilt, wenn man Kohl
mit Zukunftsfähigkeit assoziieren will. Gegen Schröder allerdings
hätte nur Schäuble eine Chance, solch eine Wahl wäre zumindest
ein Schritt in die richtige Richtung. Ob danach wirklich die notwendigen
Reformen durchgesetzt werden, sei dahingestellt. Einen Wahlkampf Kohl gegen
Lafontaine können nur Feinde und kurzsichtige Egoisten (Toskanos)
diesem Land wünschen.
"Was ist der Unterschied zwischen einem kommunistischen Direktor und
einem kapitalistischen Manager?" lautete die Frage an Radio Eriwan, welches
während der kommunistischen Zeit eine fiktive Instanz war, die die
Wirklichkeit wahrheitsgemäß schilderte. Die Antwort: "Der Manager
sitzt auf dem Stuhl und hat die Augen auf der Produktion. Der Direktor
hat die Augen auf seinen Stuhl und den Hintern zur Produktion gerichtet".
Die vom ehemaligen Bundespräsident von Weizsäcker zu Recht
kritisierte Machtvermessenheit der Parteien in der Bundesrepublik hat also
sehr wohl Vorläufer. Wohin die alleinige Konzentration auf den Machterhalt
führt, hat man im Osten gesehen: Zuerst kam es zum Stilstand, dann
wurden die politischen Eliten auf der horizontalen aus Ihrem Ämtern
herausgetragen. Nur unter äußerstem Druck verließen einige
in vertikaler Haltung Ihr Amt. In der dritten Phase kam das Chaos. Die
Bundesrepublik nähert sich mit großen Schritten der zweiten
Phase.
Dinos und Toskanos sind die Eliten von Gestern, die vergessen haben
zurückzutreten bzw. in diesem Konkordanzsystems nicht in Rente befördert
werden können. Trotz des großen Wahljahres ist es kaum vorstellbar,
daß für eine gute Entwicklung Deutschlands genügend Politiker
an der Spitze mit Kohl und Lafontaine Ihre Ämter in der Vertikalen
verlassen. Dinos und Toskanos können sich ruhig in den Ruhestand
nach Mallorca oder in die Toskana zurückziehen, die Republik wird
nicht untergehen. Im Gegenteil es werden Arbeitsplätze sowohl in Deutschland
als auch am Mittelmeer entstehen, zum Wohle Deutschlands und ganz Europas.