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Tradition und Fortschritt verbinden

 



Die moralische Dimension von Politik

Dinos und Toskanos ruinieren die Berliner Republik

Gerechtigkeit, Gemeinsinn und Solidarität sind Werte, die Parteien verfolgen bzw. jetzt im Wahlkampf zumindest rhetorisch wiederbeleben. So sollte es sein. Schließlich spricht Ihnen das Grundgesetz im Gegensatz zu allen anderen Interessengruppen eine hervorgehobene Rolle zu.

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Die Realität sieht anders aus: Beweglichkeit in den Köpfen und Standfestigkeit im Rückgrat, Kennzeichen der Bonner Republik, wurden in der Berliner Republik durch Stillstand in den Köpfen und Beweglichkeit im Rückgrat ersetzt. Dies ist das Ergebnis der Anfang der 80er Jahren eingeleiteten geistig-moralischen Wende. Derzeit belohnen die Institutionen vor allem Bequemlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Völlerei: "Der Ehrliche ist der Dumme" (Ulrich Wickert).

Das Motto der CDU "Weiter so, Deutschland" von 1987 gibt die vorherrschende geistige Einstellung der 80er Jahre treffend wieder. Der Zusammenbruch des Sozialismus hat dann diese Überheblichkeit und Ignoranz in allen Parteien weiter verstärkt. Ändern brauchten sich nur die Anderen. Es dämmert nur langsam, daß man die besseren Handlungsstrategien für die 50er bis 70er Jahre hatte. Für die 90er Jahre aber fast mit leeren Händen dasteht.

"Nichts kann ohne die Initiative vorausschauender Männer beginnen, nichts aber ohne Institutionen bestand haben und funktionieren" (Jean Monnet). Institutionen müssen Kontinuität garantieren, Politiker sind für den Wandel verantwortlich. "Demokratie ist nicht, sondern wird ständig" (Klaus von Beyme). Zu Zeiten Monnets mußten noch viele Institutionen geschaffen werden. Mittlerweile gibt es genügend Institutionen. Es fehlt an vorausschauenden Politikern, die diese Institutionen an die neuen Verhältnisse anpassen. Nicht Deregulierung, sondern Reregulierung ist notwendig. Es gibt kein zurück mehr zu archaischen Zuständen, die Komplexität und damit die Regulierungserfordernisse werden auch in Zukunft steigen.

Heute ist erkennbar, daß die meisten der hochgelobten Strategen der 80er Jahre doch nur kleinkarierte Verwalter waren. Alle Reformen, mit Ausnahme der Entscheidungen auf Europäischer Ebene (Binnenmarkt, Maastricht), sind danebengegangen. Die notwendigen Weichenstellungen wurden in den 80er Jahren versäumt. Leider sitzen die dafür verantwortlichen Politiker fast alle noch immer in Rang und Würde. Schlimmer: Es hat den Anschein, daß sich dies erst im nächsten Jahrtausend ändert.

In der Berliner Republik haben sich die Parteien zu Dachverbänden von verschiedenen Interessengruppen entwickelt. Die FDP hat dies vorexerziert und die anderen sind bereitwillig nachgezogen. Im Laufe dieses Prozesses ist die Gemeinwohlorientierung verloren gegangen. Auf der Strecke geblieben sind erstens Minderheiten, die von keinem "Dachverband" zur Mehrheitsbeschaffung gebraucht werden. Gravierender: Die schwächsten Glieder der Gesellschaft müssen als Sündenböcke für die Fehlentwicklungen herhalten.

Die entscheidenden politischen Parteien und deren Politiker werden zwar von ca. zwei Drittel der wahlberechtigten Bürger gewählt, sie sind aber Repräsentanten aller Bürger, aber auch aller zukünftigen Generationen. Dieser Verantwortung werden sie nicht mehr gerecht. In der Bonner Republik stand nicht zur Diskussion, ob man sich Solidarität leisten kann, sondern nur wie dies zu geschehen hat. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, in dem die Gesellschaft über weit weniger Recourcen als in den 90er Jahren verfügte.

Der Verlust der moralischen Dimension des Politischen trifft nicht nur Minderheiten. Eine kurzsichtige Orientierung an den Interessen der wahlberechtigten Klientel zerstört auf Dauer die Fundamente dieser Gesellschaft und läuft langfristig auch gegen die derzeitig Begünstigten.

Politik, Moral, Recht und Wirtschaft bilden keine unabhängigen Subsysteme, die jeweils einem eigenen Code gehorchen und nicht aufeinander wirken (Niklas Luhmann), sondern sind verschiedene Dimensionen ein und derselben Sache.

Die moralische Dimension des Politischen muß wieder den Stellenwert einnehmen, die sie in der Bonner Republik einmal hatte: Standfestigkeit im Rückgrat sowie Beweglichkeit in den Köpfen sind gefragt. Politik, Moral, Recht und Wirtschaft müssen erneut in Einklang gebracht werden. Erst dadurch können wieder Positivsummenstrategien für die anstehenden Probleme gefunden werden. Nur so kann eine Kooperation zwischen unterschiedlichen Interessengruppen produktiv für die Gesellschaft wirken. Nullsummenspiele führen im Endeffekt zu suboptimalen Lösungen und aktivieren nur destruktive Kämpfe. Gleichzeitig müssen die Institutionen und Konzepte, die den Erfolg der Bonner Republik begründeten, grundlegend reformiert werden.

"Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile bezog" (Machiavelli). Dies bestätigen auch die Erfahrungen der Bonner Republik in den 50er und 70er Jahren: Nur Menschen, die den Marsch durch die Institutionen noch vor sich hatten, waren bereit und fähig umfassende Reformen durchzuführen.

Wahrscheinlich wird der Anstoß zu Reformen eher aus Karlsruhe als von der Politik kommen. Die wichtigsten Änderungen des Steuerrechts fielen in der Berliner Republik erst nach entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über das Existenzminimum, die Zinsbesteuerung, das Kindergeld und die Einheitswerte. Das Familienurteil und zukünftige Urteile, etwa über die Zusatzreduzierungen bei der Fremdrente, könnten endlich in der Renten- und Sozialpolitik wirkliche "Jahrhundertwerke" entstehen lassen. Solange die Politik auf Sündenböcke zurückgreifen und durch unberechtigte Kürzung von Ansprüchen notwendige Entscheidungen verschieben kann, sind keine entscheidenden Änderungen zu erwarten.

1. Stillstand in den Köpfen

Globalisierung, ein Angstgespenst, das einfallslose Politiker und Manager als Freibrief verwenden. Sie muß für jede Fehlleistung als Entschuldigung herhalten. Der Sozialstaat ist mit der Globalisierung hinfällig, so mittlerweile die allgemeine Einschätzung. Wissenschaftliche Untersuchungen (Gosta Esping-Anderson (ed.) Welfare States in Transition 1996, um nur eine von vielen Untersuchungen zu nennen) zeigen genau das Gegenteil: Die Staaten mit den offensten Ökonomien – Deutschland, Niederlande, Schweden etc. – hatten nach dem Zweiten Weltkrieg auch die am besten ausgebauten Sozialen Sicherungssysteme entwickelt.

Die Soziale Sicherung in Deutschland ist ein Schönwettersystem. Bei geringer Arbeitslosigkeit können die systembedingten Nachteile kaschiert werden (z.B. Lohnbasiertes Systeme, nicht alle personengebundenen Einkommen und Vermögen werden zur Alterssicherung herangezogen. Keine gerechte Lastenverteilung. Kausal- statt Finalprinzip bei der Vergabe von Leistungen.). Geht nun in Zeiten der Globalisierung die Arbeit aus? Ist jobless growth eine Naturnotwendigkeit oder selbstverschuldet?

Globalisierung bedeutet, daß Kapital und Güter in nationalen Märkten frei zugänglich sind und daß alle Standorte miteinander in Konkurrenz treten. Inwieweit sind dies für den Standort Deutschland neue Bedingungen? Im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Italien gibt es in Deutschland schon seit Ende der 50er Jahren die Kapitalfreiheit, in den anderen Länder erst seit 1990. Der deutsche Markt ist auch im Unterschied zu anderen nationalen Märkten seit Jahrzehnten mit einigen Ausnahmen (Landwirtschaft, Kohle, Stahl, Textil) offen für alle Produzenten dieser Welt. In Frankreich und Italien wird z.B. der Automobilmarkt erst 1999 vollständig liberalisiert.

Auch in der Bonner Republik wurden jährlich durch Rationalisierung und Verlagerung von einfachen Tätigkeiten in andere Länder Arbeitsplätze zerstört. So sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft, bei Kohle, Stahl und der Textilindustrie verloren gegangen. Im gewerblichen Bereich wurden viele neue Arbeitsplätze geschaffen, daß es zu einer Anwerbung von Menschen aus anderen Ländern kam. Für den Standort Deutschland ist die Globalisierung mithin nichts Neues. Der deutsche Markt ist seit Jahrzehnten dem harten internationalen Wettbewerb ausgesetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Verluste von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft und der Textilindustrie durch neue in der gewerblichen Wirtschaft ersetzt. Daß der technologische Wandel von der gewerblichen Wirtschaft halt macht, war nicht zu erwarten. Dies gilt ebenso für den Trend zur Verlagerung von einfachen Tätigkeiten ins Ausland. Kapital hat Arbeit ersetzt und wird dies auch in Zukunft tun. Der technologische Fortschritt besteht geradezu darin, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. In den konkurrenzfähigsten Standorten wird weiterhin Kapital Arbeit substituieren. Billige und einfache Tätigkeiten werden in die Peripherie und damit in schwächere Standorte verlagert. Viele Strategien zielen in die Richtung, diese Prozesse zu verlangsamen oder geradezu aufzuhalten. Dies ist grundfalsch.

Der Erhalt von unproduktiven Arbeitsplätzen ist nur ein Scheinsieg. Unrentable Arbeitsplätze wurden auch in der Vergangenheit immer ins Ausland verlagert: Dies ist nicht das Problem. Neue und produktive Arbeitsplätze müssen geschaffen werden, vor allem bei personengebundenen Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit, Pflege). Hier helfen alte Strategien nicht weiter. Verlagerung von Arbeitsplätzen aus dem produzierenden Bereich ins Ausland und Sozialabbau bewirken eine Verstärkung der Rezession. Neuere Forschungen zeigen, daß nicht die Unternehmen erfolgreich waren, die in erster Linie Arbeitsplätze abgebaut haben, sondern die die auf Innovation und Wachstum gesetzt haben (siehe J. Gaulke: Schlank und krank. Die Woche, 1. März, 1996, S. 13). Auch auf volkswirtschaftlicher Ebene sind Konzepte gefragt, die neue innovative und produktive Arbeitsplätze schaffen. Der Sozialstaat muß auch in Zukunft bestand haben. Dafür Bedarf es eine Steigerung der Produktivität in allen Bereichen.

Die Herausforderung der 80er Jahre bestand darin, neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen zu schaffen. Die Informationsgesellschaft, die Globalisierung der Märkte und politische Umwälzungen waren in den 80ern Jahren am Horizont sichtbar. In den 90ern Jahren sind genau dies Realitäten, die Politiker bewältigen müssen. Die verantwortlichen in Politik glänzen selten mit Lösungsvorschlägen, in der Regel werden alte Rezepte in neuen Verpackungen verkauft.

Der Anschluß an die technologische Entwicklung wurde einmal aus Arroganz und Bequemlichkeit, andererseits aus ideologischer Voreingenommenheit verpaßt. So wurde der Stillstandort Deutschland etabliert. Gentechnologie und Umwelttechnologie wurden durch jeweils rivalisierende politische Lager blockiert. Schwerwiegender sind die Versäumnisse beim Übergang von der Industrie- zur Informations- bzw. Wissensgesellschaft.

Bildung ist mittlerweile das wichtigste Wirtschaftsgut. Der Produktionsfaktor Wissen hat die anderen Faktoren (Boden, Arbeit und Kapital) mit einem Anteil von 60 bis 80 Prozent in der Gesamtwertschöpfung längst überholt. Daher ist der größte Vorteil eines Standortes in der Informationsgesellschaft das Humanvermögen. Menschen sind wichtiger wie Maschinen. Dieses kann aber ohne eine aktive staatliche Aktivität in der Bildungspolitik, sozialen Sicherung und Gesundheitspolitik nicht genügend erzeugt, erhalten und weiterentwickelt werden.

Die Bildungsexplosion der 70er Jahre bot für den Übergang zur Wissensgesellschaft geradezu ideale Bedingungen. Vor allem von konservativer Seite wird Bildung wie ein Luxus- und nicht wie ein Wirtschaftsgut behandelt. Trotz der vielen Sonntagsrede, in denen vom Rohstoff "Wissen", Informationsgesellschaft etc. geredet wird. War in der Industriegesellschaft das duale Berufsbildungssystem das Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung, so wird es in der Informationsgesellschaft die Universitäts- und Hochschulausbildung, ergänzt durch die Weiterbildung sein. Die in den 80er Jahren gefeierten Strategen wurden nicht müde, das Duale System, was den Erfolg der 50er bis 70er Jahre begründete, in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Durch kleinkarierte Prüfungsordnungen wurden die Universitäten fast zu Verwaltungshochschulen umgewandelt. Eine kurzsichtige Sparpolitik hat dazu geführt, daß sich zwei Studenten einen Studienplatz teilen. Wichtig ist nur noch, daß man mit Hilfe von vielen Scheinen Faktenwissen nachweist. Es gibt weder Zeit noch Raum sich mit Theorien und Methoden, den Werkzeugen der Wissenserzeugung, auseinanderzusetzen.

Deutschland war in den 80er Jahren auch Vorreiter in wichtigen Bereichen der Informationstechnologie: ISDN und Glasfasern. Mit Milliarden Steuermittel entstand das modernste Netz. Dank überforderter Politiker und raffgieriger Manager kann auch diese Infrastruktur bis heute nicht richtig genutzt werden. Der Zugang zum Netzt der Netze, dem Internet, ist in Deutschland über 800% teurer wie in den USA. Studenten, Schüler und Existenzgründer, die in diesen Bereichen die innovative Speerspitze bilden, werden so von den neuen Entwicklungen ferngehalten.

Auch Manager sehen sich gerne als große Strategen. In Wirklichkeit sieht die Situation auch nicht besser aus wie bei den Politiker. Die meisten können nur abzocken, Kosten senken und Personal entlassen. Neue Dienstleistungen zu vermarkten, ist nicht gerade die Stärke von Managern. Sie glänzen eher durch kleinkarierte Verwaltung: "Nieten in Nadelstreifen" (Günter Ogger). Kosten werden der Allgemeinheit aufgebürdet (Externalisierung von Kosten), die Gewinne werden privatisiert. Die Telekom hat dies mit Hilfe der politischen Klasse mustergültig vorgemacht.

Die Gewinner der Globalisierung und der Informationsgesellschaft sind diejenigen, die einen festen Arbeitsplatz, Normalarbeitzplatzverhältnis besitzen: Staatsdiener (Beamte und öffentlicher Dienst sowie Angestellte von großen international operierenden Konzernen. Weiterhin die gut ausgebildeten, geringe Qualifikation ist schlecht.

Globalisierung und Europäische Integration sind also nur Entschuldigungen, die zum Abbau des Sozialstaates vorgebracht werden. Sowohl die Kapitalfreiheit als auch die Standortkonkurrenz sind nicht neue Gegebenheiten. Die Kapitalfreiheit gibt es in Deutschland seit 1957. Deutschland war nie ein Billiglohnland, sondern mußte immer technologisch hochwertige Produkte herstellen.

Die Erosion des Sozialstaates hat hausgemachte Ursachen: Die Probleme des Sozialstaates sind in erster Linie darauf zurückzuführen, daß der technologische Wandel hin zur Informationsgesellschaft in Deutschland nicht gelungen ist und dieser Bereich auch jetzt noch sträflich vernachlässigt wird.

Von tragfähigen Konzepten zu einer Strukturreform des Sozialstaates ist wenig sichtbar. Sozialabbau ist das einzig was Politikern aller Couleur einfällt. Der soziale Frieden ist kein Produkt, das beliebig substituierbar ist, sondern ein Grundpfeiler einer zivilisierten Gesellschaft. Besonders die Entwicklung in der SPD ist erschreckend. Die Toskana-Fraktion kennt luxuriöse Boutiquen und Restaurants besser als die Sorgen und Nöte der einfachen Leute. Die SPD ist durch die Dominanz dieser Gruppe zu einer Plattform von Egozentrikern und Selbstdarstellern degeneriert. Völlerei trägt zur Erhaltung einiger Arbeitsplätze bei, auch ein Paar Unternehmer können sich dabei goldene Nasen verdienen. Volkswirtschaftlich gesehen sind die Arbeitsplätze, die der Sozialstaat sichert (Wohlfahrt, Pflege, Medizin) weitaus bedeutender.

2. Beweglichkeit im Rückgrat

Das deutsche Steuersystem ist die perfekte Tarnung für eine Umverteilung von unten nach oben. Die Besserverdienenden und deren Steuerberater (allesamt mittlerweile fast einzige FDP-Klientiell) sind die wichtigsten Nutznießer dieses Dschungels. Dies ist bekannt. Hingegen unbekannt ist, daß es sich beim Sozialbudget, zwar nicht so extrem, aber immerhin ähnlich verhält. Gerechtigkeit ist im Sozialstaat Deutschland für viele Gruppen ein Fremdwort.

Obdachlose, die Solidarität am nötigsten haben, werden aus der Portokasse abgefertigt. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die Hilfe notwendig brauchen, müssen sich mit den geringsten Leistungen begnügen. Diejenigen, die darauf verzichten könnten, erhalten am meisten und diejenigen, die finanzielle Solidarität überhaupt nicht nötig haben (FDP-Klientel), werden auch nicht vernachlässigt.

Die Leistungen des Systems sozialer Sicherung betrug (1994) 1 106 186 Millionen DM, 33,3 % des Bruttoinlandsproduktes. In einem vom Bundesministerium für Arbeit erstellten Überblick über die Leistungen des Sozialbudgets sucht man die Hilfen für Obdachlose vergebens. Die Arbeitslosenversicherung beträgt 11,5 %, Sozialhilfe 5,2 % des Sozialbudgets. Der größte Brocken bildet die Rentenversicherung mit 37,9 % und die Krankenversicherung mit 20,6 %. Von der Rentenversicherung können die bedürftigsten Gruppen wegen geringen Beschäftigungszeiten am wenigsten profitieren, dasselbe gilt erst recht für Arbeitgeberleistungen (7,9 %) und Indirekte Leistungen mit 6,6 % des Sozialbudgets. Daß Steuerermäßigungen (67,2 Milliarden), Vermögensbildung (11,6 Milliarden) und Wohnungsbauförderung (5,4 Milliarden, zusammen 84,2 Milliarden, 7,4 %) über 26,2 Milliarden höher liegen als die Sozialhilfe (57,9 Milliarden, 5,2 % des Sozialbudgets), ist erstens ein guter Erfolg der Partei der Besserverdienenden und zweitens schlicht ein Skandal. Diese Ausgabenstruktur zeigt besonders kraß, daß die Parteien sich zu Interessenverbänden entwickelt haben.

Unterschiedliche Institutionen sind für unterschiedliche soziale Risiken und Personenkreise zuständig. Dies spiegelt die historische Durchsetzung von Gruppeninteressen in den letzten 100 Jahren wieder. Sowohl Leistungsüberschneidungen als auch Leistungslücken (paradox bei den Ausgaben) kennzeichnen das soziale Sicherungssystem. In der sozialen Hängematte liegen ca. 2/3 der Gesellschaft, Tendenz fallend. Vor allem diejenigen, die in stabilen Arbeitsverhältnisses arbeiten. So gibt es auf der einen Seite Leistungsüberschneidungen z.B. für Beamte eine de Luxe Krankenversicherung (Chefarzt und Einzelzimmer inklusive). Die Angestellten im Öffentlichen Dienst erhalten eine Zusatzrentenversicherung. Auf der anderen Seite fallen immer mehr Menschen durch das soziale Netz (Obdachlose).

Diejenigen, die von den Versäumnissen, Fehlleistungen, technologischem Wandel und Globalisierung am meisten betroffen sind, werden völlig zu Unrecht als größte Last des Sozialstaates hingestellt. Schlimmer. Gekürzt wurde und wird bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, bei Obdachlosen lohnt der Aufwand nicht. Diese Gruppen sind für den Machterhalt und –erwerb irrelevant. Verschont bleiben insbesondere Beamte, man kann dieser Gruppe nicht einmal zumuten, 0,2 % der zukünftigen Lohnsteigerungen für ihren eignen Pensionsfond zurückzustellen, ohne das die angeblich treuesten Diener dieses Staates auf die Barrikaden gehen.

Die Rentenversicherungen, die bedeutendste Leistung der sozialen Sicherung, strotzt nur so von Ungleichbehandlungen und fehlender Gerechtigkeit. Die "Jahrhundertwerke" in der Rentenversicherung sind einerseits durch ein "Weiter so" gekennzeichnet. Andererseits wird eine schwache Gruppe, die sich nicht wehren kann und sowieso schon Nettobeiträge leistet, durch Zusatzreduzierungen belastet. Aussiedler mußten dies schmerzhaft erfahren, da sie nicht nur wie alle anderen Bundesbürger von Rentenkürzungen (Rentenreformgesetz von 1992 und das Wachstums- und Förderungsgesetz von 1996) betroffen sind, sondern auch als einzige Gruppe seit 1992 eine Zusatzreduzierung von 30% und seit 1996 von 40% in Kauf nehmen müssen.

Die Aussiedler leisten erstens einen Solidarbeitrag. Zweitens gehören sie zu den wirtschaftlich benachteiligten Gruppen dieser Gesellschaft. Der Sinn öffentlicher Sozialversicherungssysteme liegt gerade darin, daß auch Bedarfsgesichtspunkte eine Rolle spielen. Das Prinzip der Beitragsäquivalenz gilt nur bei einer privaten Versicherung. Aussiedler müßten daher Empfänger von Solidarität sein. Das Gegenteil ist der Fall: Es findet eine "inverse Solidarität" statt. Der Gipfel besteht darin, daß Politiker trotz besserem Wissen Aussiedler als Sündenböcke für die systembedingten Fehlentwicklungen in der Rentenversicherung beschuldigen. Auch wenn die Aussiedler überhaupt keine Fremdrente mehr erhalten sollten, so wären damit die Schwierigkeiten der Rentenversicherung nicht überwunden. "Die Diskussion um `versicherungsfremde Leistungen´ ist somit nur ein scheinrationaler Nebenkriegsschauplatz" (Franz Xaver Kaufmann: Herausforderungen des Sozialstaates. 1997, S. 17).

Die Aussiedler sind in der Rentenversicherung nicht auf Solidarität oder christliche Nächstenliebe angewiesen, sondern sie leisten selber einen Solidaritätsbeitrag. Als Minderheit sind sie in diesem Fall nicht auf die Solidarität, hingegen sehr wohl auf den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit angewiesen. Denn im Umgang mit Minderheiten zeigt sich, welche Bedeutung man seinen eigenen moralischen Ansprüchen zumißt (vgl. weitere Details im Onlineforum Fremdrente: http://www.siebenbuergersachsen.de/sachsen/fremdrente/

Nicht nur die Aussiedler werden bei den sozialen Sicherungssystemen benachteiligt, sondern alle Familien in der Bundesrepublik, die mehr als ein Kind haben. Weil etwa die Altersvorsorge nahezu vollständig sozialisiert, die Kindererziehungslast dagegen weiterhin überwiegend privat bleibt. "Der Unterhalt der alten Generation ist zu fast 100% kollektiviert, derjenige der nachwachsenden Generation dagegen nur zu ca. 25%" (Kaufmann a.O. S. 78). Aber auch bei der Krankenversicherung und erst recht bei der Pflegeversicherung fließen Gelder von Mehrkinderfamilien zu kinderlosen und kinderarmen Familien. "Die Fachwelt spricht hier auch von ´inverser Solidarität´: Die Schwachen tragen die Starken" (Jürgen Borchert: Schlag gegen die Familie. In: Die Zeit vom 17.12.1993, S. 21).

Allein "der monetäre Aufwand einer Zwei-Kinder-Familie für die Erziehung ihrer Kinder (bis 18 Jahre) (wird) auf gut 300.000 DM geschätzt." "Die unentgeltliche Investitionen der Familie sind also nahezu doppelt so hoch wie die gesamten Wirtschaftsinvestitionen" (Kaufmann a.O. S. 105 ff). Diese Ergebnisse waren Anfang der 90er Jahre auch für die Fachwelt verblüffend. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem "Familienurteil" von 1992 (BVerfGE 87, 1 ff.) dazu fest, daß die Benachteiligung der Familie im sozialen Sicherungssystem nicht länger hinnehmbar sei. Sie ist mit dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 3, I) des Grundgesetzes und dem staatlichen Schutzauftrag gegenüber der Familie (Art. 6, I) unvereinbar.

Der Sozialabbau wird als Naturnotwendigkeit hingestellt. Für die Schwierigkeiten des Rentensystems werden nicht tragfähige Reformwerke in die Wege geleitet, sondern man versucht mit einem "Weiter so" die Schwierigkeiten der nächsten Generation aufzubürden. Weit schlimmer es müssen Minderheiten als Sündenböcke herhalten. Bequemlichkeit, Phantasielosigkeit und Unvermögen auf den höchsten Entscheidungsebenen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung sind natürlich nur Hirngespinste.

Es fehlen Visionen und Konzepte, mit deren Hilfe man in zwanzig bis dreißig Jahren den Sozialstaat sichern kann. Anstatt Konzepte zu entwickeln, die für alle Beteiligten einen Mehrwert bringen, inszenieren viele Politiker nur Nullsummenspiele, Westdeutsche gegen Ostdeutsche und Aussiedler, Familien mit Kindern gegen Kinderlose, Jung gegen Alt, Arbeitnehmer gegen Beamte und Selbständige.

3. Dinos und Toskanos oder wer kann die notwendigen Änderungen durchsetzen?

Es ist kein Geheimnis, daß für den derzeitigen Reformstau und Rücksichtslosigkeit Dinos und Toscanos verantwortlich sind. Dies sind mittlerweile die Mehrheit der politischen Eliten in allen Parteien, in Bund und Land an der Spitze mit Ober-Dino Kohl und Ober-Toskanino Lafontaine. Stillstand in den Köpfen, Beweglichkeit im Rückgrat sind Kennzeichen der kohl-lafontaineschen Geisteshaltung.

Zu den Vordenkern des Stillstandortes Deutschland zählt Heiner Geißler mit seiner Formel "Weiter so, Deutschland". Die Zurückstufung von Tugenden zu Sekundärtugenden und Erklärung der Völlerei als gesellschaftsfähiges Lebensziel ("Fressen, saufen und vögeln" Lafontaine) war der nächste Baustein. Hinzu kommt, daß Rücksichtslosigkeit als normaler Wettbewerb ausgegeben wurde (FDP). Christliche Parteien wollten nun das Feld nicht kampflos der FDP und SPD überlassen. Das neue Heilsversprechen christlicher Art (Biedenkopf und Stoiber) lautet "unternehmerische Wissensgesellschaft". Doch bevor das neue Paradies eintreten kann, muß man in einer Übergangsperiode natürlich mit "unerwünschten Nebenfolgen" rechnen: die Kriminalität steigt, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung der Bevölkerung sinken, Armenviertel (den Begriff "Slum" wird noch vermieden) entstehen. Diese geistig-moralische Wende hat sich in unterschiedlicher Intensität bei der Mehrheit der Politiker festgesetzt.

Es ist geradezu grotesk, daß Kohl und Lafontaine ständig die Überwindung des Reformstaus lauthals forderten, obwohl sie für diesen verantwortlich sind. Auch während des Studentenprotestes das gleiche Bild: Diejenigen, gegen die sich ja der Protest richtet, solidarisierten sich mit den Studenten. Anstatt zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln und durchzusetzen, demonstrieren die handelnden Politiker oder halten Reden á la Herzog, "Es muß ein Ruck durch das Land gehen", "Bildung muß ein Megathema werden". Das solche Reden einen so großen Eindruck hinterlassen können, spricht schon Bände. Schließlich enthalten diese Reden fast nur Standardfloskeln, die jeder Dorf-Prediger in seinem Repertoire hat. Argumentationen in solchen Höhen sind das Feld von Politiker a. D., beim Bundespräsidenten kann es gerade noch durchgehen, obwohl er Roß und Reiter schon deutlicher hätte nennen können.

Von gewählten Politiker erwartet man mehr: Sie müssen Gestaltungswillen und –fähigkeit täglich beweisen, nicht nur sich an den Insignien der Macht ergötzen. Die Zeit des "Weiter so Deutschland" muß endlich der Vergangenheit angehören. Daher bestand Herzogs größter Beitrag 1997 darin, eine erneute Kandidatur abzulehnen, verbunden mit dem Hinweis, daß nicht jeder den gleichen Fehler machen müßte. Gemeint war Kohl, gleiches gilt für Lafontaine, hinzu kommen weitere Legionen von Politiker in Bund und Land, die diese unterstützen und keine entscheidenden Veränderungen im Amte lang überstehen würden.

Kohl hat den optimalen Zeitpunkt für einen Rückzug aus der Politik längst verspielt. Dieser verstrich 1992 ungenutzt, nachdem die deutsche Einheit, der EU-Binnenmarkt und der Maastrichter-Vertrag unter Dach und Fach waren. Genscher hingegen ist ein optimaler und würdevoller Abgang gelungen. Für Kohl füllt sich seither fast nur die negative Seite der Bilanz. 1998 nach der Einführung des Euros ist der letztmögliche Zeitpunkt, in Würde abzutreten.

Kohl könnte sonst das Schicksal von Blüm ereilen. Dieser verkauft seinem staunenden Publikum innerhalb von wenigen Jahren mehrere Jahrhundertwerke in der Rentenversicherung (1992, 1996 und 1997, 1999 ist die nächste Rentenstrukturreform geplant). Weit mehr glänzt Blüm als Büttenredner, Clown und Märchenerzähler. Karnevals, Talkshows und Märchenbücher sind seine Bühnen bzw. Medien der Darstellung. Das brutalste Märchen lautet: Die Renten sind sicher. Kurz: Blüm wurde von einem freundlichen und lustigen Politiker zu einer Lachnummer, einen würdevollen Abgang hat er längst verpaßt.

Die Bestimmung von Schäuble als Kronprinzen deutet daraufhin, daß Kohl sich Gedanken über einen Rückzug macht, der gar nicht in allzu großer Ferne liegt. Es könnte ja Eintreten, daß auch ein SPD-Parteitag zu einer rationalen Entscheidung fähig ist und Schröder zum Kanzlerkandidaten wählt. Den Lafontaine mit Solidarität und Gerechtigkeit in Verbindung zu bringen, bedarf einer ziemlich dicken parteipolitischen Brille. Das Gleiche gilt, wenn man Kohl mit Zukunftsfähigkeit assoziieren will. Gegen Schröder allerdings hätte nur Schäuble eine Chance, solch eine Wahl wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Ob danach wirklich die notwendigen Reformen durchgesetzt werden, sei dahingestellt. Einen Wahlkampf Kohl gegen Lafontaine können nur Feinde und kurzsichtige Egoisten (Toskanos) diesem Land wünschen.

"Was ist der Unterschied zwischen einem kommunistischen Direktor und einem kapitalistischen Manager?" lautete die Frage an Radio Eriwan, welches während der kommunistischen Zeit eine fiktive Instanz war, die die Wirklichkeit wahrheitsgemäß schilderte. Die Antwort: "Der Manager sitzt auf dem Stuhl und hat die Augen auf der Produktion. Der Direktor hat die Augen auf seinen Stuhl und den Hintern zur Produktion gerichtet".

Die vom ehemaligen Bundespräsident von Weizsäcker zu Recht kritisierte Machtvermessenheit der Parteien in der Bundesrepublik hat also sehr wohl Vorläufer. Wohin die alleinige Konzentration auf den Machterhalt führt, hat man im Osten gesehen: Zuerst kam es zum Stilstand, dann wurden die politischen Eliten auf der horizontalen aus Ihrem Ämtern herausgetragen. Nur unter äußerstem Druck verließen einige in vertikaler Haltung Ihr Amt. In der dritten Phase kam das Chaos. Die Bundesrepublik nähert sich mit großen Schritten der zweiten Phase.

Dinos und Toskanos sind die Eliten von Gestern, die vergessen haben zurückzutreten bzw. in diesem Konkordanzsystems nicht in Rente befördert werden können. Trotz des großen Wahljahres ist es kaum vorstellbar, daß für eine gute Entwicklung Deutschlands genügend Politiker an der Spitze mit Kohl und Lafontaine Ihre Ämter in der Vertikalen verlassen. Dinos und Toskanos können sich ruhig in den Ruhestand nach Mallorca oder in die Toskana zurückziehen, die Republik wird nicht untergehen. Im Gegenteil es werden Arbeitsplätze sowohl in Deutschland als auch am Mittelmeer entstehen, zum Wohle Deutschlands und ganz Europas.


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